Pseudoerbloggtes

Es gibt Texte, über die man sich ärgert. Zitierpflicht für Wikipediaartikel – und wenn ja, für welche und wie? im Mittelalterblog auf Hypotheses ist so einer. Bevor ihr weiterlest, solltet ihr den Text lesen, denn sonst fehlt euch der Kontext:

Anonym verfasste Texte sind vollständig und ohne Einschränkungen zitierfähig. Althistoriker kennen den werten Herrn Pseudo-Xenophon, der Pseudo-Xenophon genannt wird, weil über ihn schlicht und einfach nichts bekannt ist außer dem überlieferten Text. Mediävisten kennen diverse „Meister“, von denen auch nur ihre Werke, aber noch nicht mal ein Name überliefert wurden. Frühneuzeitler arbeiten ständig mit Flugblättern ohne Autorenangabe bzw. mit Texten, die unter Pseudonym verfasst wurden. Und auch in der Zeitgeschichte tauchen immer wieder Texte auf, deren Autoren lieber anonym bleiben wollten. Der werte Herr Nomen Nescio hat eine wissenschaftliche Vita, die seinesgleichen sucht.

All diese Texte sind zitierfähig. Erinnern wir uns an unser erstes Semester und die Grundlagen der Zitation, hier aus einem Dokument der Uni München:

Stützt sich der Verfasser einer wissenschaftlichen Arbeit wörtlich oder sinngemäß auf die Gedanken anderer, so hat er zu zitieren. Er symbolisiert dadurch, dass die geäußerte Meinung oder Idee nicht von ihm selbst stammt, er sich aber mit ihr auseinandergesetzt hat und gleicher Meinung ist, mit der Aussage seine eigene Argumentationsreihe stützen will oder aber sich ihr aus verschiedenen Gründen nicht anschließen kann. Das Hauptmotiv zur Zitierung liegt damit in der Nachvollziehbarkeit der getroffenen Aussagen als einer Mischung aus gedanklicher Eigenleistung des Verfassers und der Verarbeitung fremden Gedankengutes aus vorhandenen Quellen.

Eine Befreiung von der Zitierpflicht besteht nur dann, wenn es sich um wissenschaftliches Allgemeingut handelt. In allen anderen Fällen gilt es als schwerwiegender Verstoß gegen das wissenschaftliche Arbeiten fremde Gedanken zu übernehmen ohne explizit darauf  hinzuweisen. Ein Verstoß gegen die Zitierpflicht (Plagiat) führt unweigerlich zu einer Bewertung der Arbeit mit der Note „unzureichend“.

Zitierfähig ist grundsätzlich nur das, was vom Leser nachvollzogen und überprüft werden kann. Folglich handelt es sich dabei in der Regel um bereits veröffentlichte Werke bzw. um Werke die gerade im Erscheinen sind. Unveröffentlichte, nicht allgemein zugängliche Quellen (z. B. statistisches Material eines Unternehmens) sind als Anlage (zumindest auszugsweise) zusammen mit der Arbeit einzureichen und dann ebenfalls zitierfähig. Unveröffentlichte Materialien sollten aber die Ausnahme in einer wissenschaftlichen Arbeit sein.

Wissenschaftliches Allgemeingut muss also nicht zitiert werden. Die Tatsache, dass die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde, muss man nicht per Fußnote nachweisen, das ist so banal, dass man es als bekannt voraussetzen darf. Das gilt allerdings nur für die Aussage – die in der Seeschlachtendebatte aufgekommene Behauptung, dass man für sowas einfach ganze Textpassagen aus der Wikipedia klauen darf, ist natürlich falsch. Textklau hat nichts mit der Zitationspraxis zu tun, sondern ist ein direktes Plagiat.

In einem anderen Zusammenhang, nämlich der Frage, ob Burkas im universitären Kontext getragen werden dürfen, hat Hogymag einige treffende Aussagen zum Thema Anonymität getroffen:

Wissenschaftliche Arbeit beruht in der Tat auf Fakten und schlüssigen Argumenten innerhalb der akzeptierten wissenschaftlichen Methoden, um neue Fakten und Erkenntnisse zu erzeugen. Die Rolle der Kommunikation besteht darin, Fakten, Argumente und Grundideen der Welt zugänglich zu machen. Allerdings abstrahiert die Wissenschaft von belanglosen Details, die nichts zur Plausibilität eines Arguments beitragen. Solche belanglosen Details sind zum Beispiel das Geschlecht, die sexuelle Neigung, die politische oder religiöse Einstellung derjenigen Person, die das Argument hervorbringt. Ebenso wenig interessiert sich die Wissenschaft dafür, ob das Argument aus dem Geiste einer Person stammt, die notorisch rote Socken, einen zu kurzen Minirock oder eine Burka trägt. Die Wissenschaft schert sich auch nicht sonderlich darum, ob das Argument spöttisch, sarkastisch, ironisch oder trocken abgehandelt wird. Die Wissenschaft interessiert sich nur für Erkenntnisgewinn. Das ist allerdings nur dann möglich, wenn man in der Lage ist Argumente kritisch zu hinterfragen statt sich mit dem Gesichtsausdruck des Argumentierenden, seiner Kleidung, dem Zucken seiner Gesichtsmuskeln und der Modulation seiner Stimme aufzuhalten. Kurz, die Universität ist kein Schwatzklub ideologisch Gleichgesinnter, die nicht mehr zugänglich für Argumente sind, wenn diese von Personen außerhalb des eigenen weltanschaulichen Koordinatensystems hervorgebracht werden.

Das kann man auch auf die Wikipediazitation übertragen: Ob ein Beitrag jetzt von einem anonymen Autoren stammt, von einer Autorin, die eine Burka trägt oder von mir, dessen Klarnamen ihr zwar kennt, aber dann doch nichts über mich wisst, ist egal. Wichtig ist die  [Uni München]Nachvollziehbarkeit der getroffenen Aussagen als einer Mischung aus gedanklicher Eigenleistung des Verfassers und der Verarbeitung fremden Gedankengutes[/Uni München].

Daher ist die Konzentration auf einen Hauptautoren in einem Wikipedia-Artikel fehlgeleitet – entweder man beschäftigt sich mit den im Artikel geäußerten Gedanken und muss ihn logischerweise auch zitieren oder es handelt sich um wissenschaftliches Allgemeingut. Dann muss man ihn nicht zitieren. Es ist aber völlig egal, ob der Artikel einen Hauptautoren hat, ob ihn zwei Autoren zusammen verfasst haben oder ob 4000 Leute gleichwertig an ihm gearbeitet hat. Die Person des Autoren oder gar sein Klarname sind vollkommen irrelevant. Ich wüsste nicht, warum man die Zitierfähigkeit eines Wikipedia-Artikels davon abhängig machen sollte, ob man einen Hauptautoren mit Klarnamen ausfindig machen kann.

(Ein kleiner Gedanke zum Schluß: Eine wissenschaftliche Arbeit enthält auch einen Teil zum aktuellen Forschungsstand. Man darf darüber nachdenken, ob die Wikipedia als mittlerweile dominierendes Informationsmedium dort nicht auch erwähnt werden sollte. Man darf überlegen, ob man in seinen Arbeiten nicht auch den aktuellen Stand des jeweiligen Wikipedia-Artikels zum Thema so wie die restliche Sekundärliteratur bewerten soll.)

Dieser Beitrag wurde unter Wikipedia veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

16 Antworten zu Pseudoerbloggtes

  1. @textgruen sagt:

    Gute Gedanken zur Zitierfähigkeit (& Plädoyer zur Zitierwürdigkeit) von Wikipedia-Artikeln. Von @MschFr: http://t.co/diQyoeSANJ #Lesenswerte

  2. @XINGAachen sagt:

    RT @textgruen: Gute Gedanken zur Zitierfähigkeit (& Plädoyer zur Zitierwürdigkeit) von Wikipedia-Artikeln. Von @MschFr: http://t.co/diQyoeS…

  3. RT @Sascha_Foerster: „Pseudoerbloggtes“ von @MschFr: Ein Beitrag zur „Kann man Wikipedia zitieren oder nicht?“-Diskussion. http://t.co/un7U…

  4. RT @Sascha_Foerster: „Pseudoerbloggtes“ von @MschFr: Ein Beitrag zur „Kann man Wikipedia zitieren oder nicht?“-Diskussion. http://t.co/un7U…

  5. LESEN! MT @Sascha_Foerster: „Pseudoerbloggtes“ von @MschFr: Beitrag zu „Kann man Wikipedia zitieren oder nicht?“ http://t.co/S06wozV4UP

  6. Zum Zitieren aus der Wikipedia zieht @MschFr Pseudoerbloggtes heran: http://t.co/YSR1QwiqGT

  7. @nubuker sagt:

    RT @Sascha_Foerster: „Pseudoerbloggtes“ von @MschFr: Ein Beitrag zur „Kann man Wikipedia zitieren oder nicht?“-Diskussion. http://t.co/un7U…

  8. @nubuker sagt:

    RT @Sascha_Foerster: „Pseudoerbloggtes“ von @MschFr: Ein Beitrag zur „Kann man Wikipedia zitieren oder nicht?“-Diskussion. http://t.co/un7U…

  9. RT @bibliothekarin: LESEN! MT @Sascha_Foerster: „Pseudoerbloggtes“ von @MschFr: Beitrag zu „Kann man Wikipedia zitieren oder nicht?“ http:/…

  10. Pingback: Umleitung: Wer all diese Links wirklich gelesen hat, ist klüger – die “Zoom-Garantie” | zoom

  11. Genau! Recht hat er! „@AndreasP_RV: Zitieren von Wikipediaartikeln http://t.co/tksRGhNWw6 Recht hat er!“ #dasbinjaichbenjaminblümchen

  12. Tuna sagt:

    Nun ja, Name des Autors und Umfeld der Publikation sind, neben anderen Dingen, wichtige Kriterien für wissenschaftliche Texte. Es muss nachvollziehbar sein, wer den Text für welchen Zweck verfasst hat, nur dann ist eine vollständige Einordnung der Thesen in den jeweiligen thematischen Diskurs möglich.

    Dies trifft für die Wikipedia in der Regel nicht zu, daher dürfen Wikipediaartikel in wissenschaftlichen Arbeiten zu Recht nicht zitiert werden.

  13. @nunatakker sagt:

    Da (http://t.co/34e9TebCIV) hat @MschFr schon aufgeschrieben, was ich mir beim lesen dieses Beitrags auch dachte: http://t.co/cqmbzDK3iu

  14. Pingback: Wikipedia-Maschinenraum an Elfenbeinturm | schneeschmelze | texte

  15. Pingback: Zitationspflicht von Wikipediaartikeln mit Autorennamen beim wissenschaftlichen Arbeiten – Eine sinnvolle und praktikable Idee? Universitätsbibliothek der HSU : Blog HSU-BlogHSU-Blog

Kommentare sind geschlossen.