Chestertons Zaun ist eines dieser Prinzipien, an das ich in letzter Zeit häufiger denken musste.
In the matter of reforming things, as distinct from deforming them, there is one plain and simple principle; a principle which will probably be called a paradox. There exists in such a case a certain institution or law; let us say, for the sake of simplicity, a fence or gate erected across a road. The more modern type of reformer goes gaily up to it and says, ‚I don’t see the use of this; let us clear it away.‘ To which the more intelligent type of reformer will do well to answer: ‚If you don’t see the use of it, I certainly won’t let you clear it away. Go away and think. Then, when you can come back and tell me that you do see the use of it, I may allow you to destroy it.‘
https://en.wikipedia.org/wiki/G._K._Chesterton#Chesterton’s_fence
Oder etwas konkreter gesagt: Wenn man etwas abschaffen möchte, dann sollte man zuvor recherchieren, warum dieses etwas überhaupt so ist, wie es ist. Will man eine Regel oder ein Gesetz reformieren, dann macht es Sinn, erstmal zu schauen, warum es dieses Gesetz gibt, warum es beschlossen wurde, welche Debatten und Probleme dazu führten und natürlich darf man dann auch evaluieren, ob das aktuelle Gesetz das ursprüngliche Ziel erreicht oder eben nicht.
Als Historiker lernt man schnell, dass unsere Altvorderen ebenfalls kluge Köpfe waren. Sie dachten sicherlich anders und die Schultern der Giganten, auf denen wir stehen, sind nach tausenden Jahren Wissenschaft sicherlich höher, aber: Das menschliche Gehirn ist seit Jahrzehntausenden praktsich unverändert und daher sollte man die Cleverness früherer Menschen nicht unterschätzen. Schon gar nicht sollte man seine Zeitgenossen der letzten 100 Jahre unterschätzen – selbst wenn jetzt jemand etwas senil im Altersheim hockt – in jüngeren Jahren war der auch verdammt clever.
Wenn einer dieser Altvorderen also irgendwo ein Tor oder einen Zaun errichtet hat, dann sollte man erstmal davon ausgehen, dass derjenige sich dabei etwas gedacht hat, dass es einen konkreten Anlass, Sinn und Zweck hatte. Denn derjenige hat viel Energie und Arbeit und Geld in diesen Zaun investiert. Daher macht es auch Sinn, dass man bevor man den Zaun abreißt, erstmal schaut, warum der da überhaupt steht, welchen Zweck er hatte und ob er diesen immer noch erfüllt. Denn sonst hat man am Ende Wildschweine im Garten.
Ich muss immer an Chestertons Zaun denken, wenn ich aktuell die Stimmen aus der deutschen Industrie oder Landwirtschaft höre, die sich über „zu viel Bürokratie“ beschweren. Häufig sind es IHK-Vertreter oder Chefs mittelständischer Unternehmen. Diese Bürokratie „erstickt“, „behindert“, „bremst“ oder „blockiert“, aber es gehört zum Genre, dass nie konkrete Beispiele genannt werden. Bei neuen Regulierungen wird über einen drohenden „Papierkrieg“ gewütet, aber nie erwähnt, dass dieses „Bürokratiemonster“ den Zweck hat, bestimmte, unerwünschte Verhaltensweisen zu unterbinden.
Natürlich ist „der Datenschutz“ ein Bremser. Natürlich wäre es auch für mich als Mitarbeiter einer Firma deutlich einfacher, wenn ich so nervige Sachen wie Newsletter-Einwilligungen nicht beachten müsste und wenn ich einfach ganze Kundendatenbanken durch die Gegend mailen dürfte. Es ist aber gesellschaftlich und politisch gewollt, dass genau das nicht passiert. Ähnliches gilt für diverse Verordnungen: Natürlich „bremst“ der Umweltschutz und „blockiert“ dass ich meine Industrieabwässer ungefiltert in den nächsten Fluss leiten kann, aber genau das ist ja Sinn und Zweck der Regel. Ist ein Lieferkettengesetz nervtötend? Ja, aber wenn man nicht will, dass Produkte aus Sklaverei in den Regalen stehen, dann muss man das halt machen. Jeder Teil des Arbeitsschutzgesetzes ist mit Blut bitter erkämpft. Sich nur über „Bürokratie“ aufzuregen, ist daher unterkomplex.
Das zieht sich einmal durch alle Bürokratiekritik: Schaut man einmal vertieft nach, dann erfüllt Bürokratie durchaus den Sinn und den Zweck, Unternehmen an allgemeinschädlichem Verhalten zu hindern. Dabei werden von den schreienden Firmenchefs häufig Selbstverständlichkeiten zu riesigen Problemen aufgeblasen, die andere Firmen bereits seit über einem Jahrhundert hinkriegen. Vor Corona war der letzte große politische Aufreger die Bonpflicht beim Bäcker und jetzt wird sich über Arbeitszeiterfassung oder Mindestlohndokumentation beschwert. Themen, für das es wirklich genügend günstige und funktionierende Standardlösungen für wirklich jeden Einsatzzweck gibt.
Auch bei den Bauernprotesten wird häufig auf „die Bürokratie“ geschimpft. Schaut man genauer hin, geht es darum, dass korrekte Tierhaltung dokumentiert werden muss. Dass man nicht unreguliert Gülle ins Trinkwasser kippen darf. Dass man vielleicht nicht Pestizide bis zum Abwinken in der Gegend verteilen sollte. Dass staatliche Subventionen auch korrekt beantragt, abgerechnet und überprüft werden. Klar, es ist einfacher, wenn man einfach so alles machen kann, was man als Unternehmer gerade will, aber genau das kann eine Gesellschaft nicht akzeptieren. Es gibt halt immer die schwarzen Schafe, die das sonst gnadenlos ausnutzen zum Schaden aller.
Es gibt natürlich auch Formen sinnfreier Bürokratie. Und es gibt auch Gesetze, die meistens von diversen Lobbyinteressen völlig entkernt wurden und die ihren eigentlichen Zweck nicht mehr erfüllen – so sinnvoll Datenschutz ist, so idiotisch ist halt die praktische Anwendung, die es Facebook & Co immer noch erlaubt so zu agieren, wie sie es tun. Probleme im Betriebsablauf, etwa wenn Ämter aufgrund von Personalmangel überlastet sind oder wenn Formulare & Prozesse unnötig kompliziert sind, sind auch ein anderes Thema als „zu viel Bürokratie“.
Kurzum: Vorsicht vor Leuten, die sich verkürzt über „die Bürokratie“ beschweren. Wer das tut, sollte häufiger gefragt werden, welche Bürokratie ihn denn gerade wie bei welchem Vorhaben behindert. Und wir sollten Chestertons Fence wieder in die Debatte bringen – es hat einen Grund, warum bestimmte Gesetze und Regulierungen eingeführt wurde und genau diese Gründe darf man sich anschauen. Dann können wir schauen, ob das jeweilige Gesetz noch sinnvoll ist, ob es aktuell seinen Zweck erfüllt oder ob wir da nachbessern müssen, eine effizientere Lösung finden sollten oder ob es sich wirklich überlebt hat. Denn sonst haben wir irgendwann wieder Wildschweine im Garten.
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