Planet History

Kategorie: Gedenkort T4

Vorstellung des Relaunches von www.gedenkort-t4.eu

Kürzlich erst angekündigt, und schon steht das Programm für den 24.1. Wir würden uns freuen, Sie begrüßen zu dürfen. Bald wird es auch einen Flyer geben.   Wann: 24. Januar 2018, 18.00 – 20.00 Uhr Wo: Dokumentationszentrum Topographie des Terrors, Niederkirchnerstraße 8, 10963 Berlin   18.00  Eröffnung Helmut Forner, Vorstand des Paritätischen Wohlfahrtverbands Landesverband Berlin  Continue Reading »

Ausstellungseröffnung: „Der Anfang war eine feine Verschiebung in der Grundeinstellung der Ärzte“

Wann: 23.11.2017, 18.00 Uhr Wo: Campus Charité Mitte, Wilhelm-Griesinger-Haus, Carl-Westphal-Hörsaal im Gebäude der Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Neurologie Geländeadresse: Bonhoefferweg 3   Im Rahmen ihres Gedenkprojektes „GeDenkOrt.Charité – Wissenschaft in Verantwortung“ eröffnet die Charite die Ausstellung. Näheres dazu ist noch nicht bekannt – mehr Infos werden sich sicher bald auf der Webseite des Projektes finden. „Der Anfang  Continue Reading »

Theater: Brandenburger Märchen

Brandenburger Märchen

[caption id="attachment_14226" align="aligncenter" width="294"]Brandenburger Märchen Brandenburger Märchen[/caption]

Zwei Jahre war die Geschichtensammlerin Daniela Klein auf Spurensuche zur T4-Aktion in Brandenburg an der Havel, bei der 1940 mehr als 9.000 Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen vergast und verbrannt wurden. Die Frage war: Was haben die Brandenburger*innen von den Vorgängen mitbekommen, die teilweise mitten in ihrer Stadt geschahen? Und: Wie hat dieses Miterleben ihre Leben geprägt? Aus Interviews mit über 150 Zeitzeugen, Nachfahren und Wissenschaftler*innen entstand das Theaterstück „Brandenburger Märchen“ – ein faszinierender Einblick in die kollektive Erinnerung der Stadt.

 

 

Regie: Reimund Groß * Schauspiel: Gernot Frischling, Jenny Boettcher, Marlene Schultke, Reimund Groß, Sebastian Ihlenfeldt * Scherenschnitte: Nina Braun * Akkordeon und Komposition: Bardo Henning * Licht: Arndt Sellentin * Technik: Soroush Reza Moradi * Grafik: George Chandrinos, Cynthia Mauruschat * Idee, Recherche, Text und Produktion Daniela Klein * Projektleitung: Katrin Werlich

Dauer: ca. 90 Min

 

Eine kurze Einführung zum historischen Kontext gibt in Berlin die Medizinhistorikerin Dr. Astrid Ley.

Im Anschluss an die Vorstellungen stehen die Schauspieler*innen und Projektverantwortlichen für Fragen und Diskussion zur Verfügung.

Der Flyer zum Download

 

Die Aufführungsdaten:

Brandenburg/Havel · 6. | 8. November 2017 · 19 : 30 Uhr
7. November 2017 · 18 : 00 Uhr
Brandenburger Theater · Grabenstr. 14 · 14776 Brandenburg/Havel

 

Berlin · 11. November 2017 · 20 : 00 Uhr
12. November 2017 · 17 : 30 Uhr
Hörsaalruine des Medizinhistorischen Museums der Charité
Campus Charité Mitte · Charitéplatz 1 · 10117 Berlin

 

Potsdam · 19. | 20. | 22. November 2017 · 18 : 30 Uhr
Spartacus · Friedrich-Engels-Str. 22 · 14473 Potsdam

 

 

Vorschau auf den Weltpsychiatriekongress in Berlin, 8. – 12. Oktober 2017

NS-Medizinverbrechen ein wichtiges Thema   Von Eva Buchholz1)Die Autorin organisiert ebenfalls ein Symposium auf dem WPA-Kongress. Zuvor nimmt sie an der Kundgebung des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V. teil und demonstriert für Menschenrechte und gegen Zwang und Gewalt in der Psychiatrie. Thema ihres Symposiums ist: „Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in der Psychiatrie: Brauchen wir eine neue Psychiatrie-Enquête?“  Continue Reading »

„Die Ursache des Schweigens ist nicht Scham“ – Andreas Hechler und seine Urgroßmutter Emilie Rau

Andreas Hechler studierte in Berlin Europäische Ethnologie und Gender Studies und ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Bildungsreferent bei Dissens, einem Forschungs- und Bildungsinstitut mit Sitz in Berlin. Schwerpunkte seiner Arbeit in den letzten Jahren waren geschlechterreflektierte Neonazismusprävention, Intergeschlechtlichkeit in der Pädagogik, Männlichkeit, sexualisierte Gewalt und der Themenkomplex NS-„Euthanasie“, Familienbiografien, Ableismus und Erinnerungspolitik.

 

Im Gegensatz zu den meisten anderen Familien in Deutschland wurde in seiner Familie offen darüber gesprochen, dass ein früheres Familienmitglied, nämlich seine Urgroßmutter Emilie Rau, im Dritten Reich ermordet worden war. Die tiefere und in diesem Zuge auch wissenschaftliche Erforschung dessen hatte jedoch einen Anlass, der von außen kam. 

 

 

 

[caption id="attachment_14178" align="alignright" width="186"]Emilie Listmann vor ihrer Hochzeit mit Christian Rau (Quelle: Hechler).[/caption]

Julia Frick: Wann hast du begonnen, über das Schicksal deiner Urgroßmutter nachzuforschen? Kannst du dich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn deiner Recherchen war?

 

Andreas Hechler: Ich stoße mich zugegebenermaßen an dem Begriff „Schicksal“, weil es eben kein „Schicksal“ war, sondern die Geschichte auch anders hätte verlaufen können. „Schicksal“ hat etwas Unabänderliches und individualisiert ein gesellschaftliches Verhältnis – in diesem Fall die systematische Ermordung von als „krank“ und „behindert“ stigmatisierten Menschen.

 

 

Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, dass in unserer Familie jemand umgebracht wurde und dass das Unrecht war. In meiner Familie wurde offen darüber gesprochen – im Gegensatz zu vielen anderen Familien, in denen es NS-‚Euthanasie‘-Opfer gibt. Allerdings wusste ich nichts Genaues.

 

Als mich dann Mitte der 1990er-Jahre der deutsche Staat zwingen wollte, Kriegsdienst zu leisten und mir sehr klar war, dass ich das nicht will (im Rahmen des Konzepts der Gesamtverteidigung sehe ich auch den sog. ‚Zivildienst‘ als einen Kriegsdienst) und staatliche Zwangsdienste in jeglicher Hinsicht ablehne, hat mich mein damaliger Anwalt gefragt, ob es in meiner Familie ein NS-Opfer gibt. Ich erinnerte mich dunkel und habe dann innerfamiliär nachgefragt. Die Ermordung meiner Urgroßmutter Emilie Rau war zu diesem Zeitpunkt dank der unermüdlichen Arbeit meiner Großmutter gut in mehreren Ausstellungen und Begleitbänden (so zum Beispiel „Verlegt nach Hadamar“) dokumentiert, und so konnte ich recht einfach nachweisen, dass ich ein direkter Nachfahre einer Verfolgten des Naziregimes bin. Damit war ich aus dem Zwangsdienst raus. Die genauen rechtlichen Hintergründe sind mir nicht bekannt, aber es ist wohl so, dass direkte Nachfahr_innen von NS-Opfergruppen nicht dienen mussten (aber durften, wenn sie wollten). Auf jeden Fall war das alles der Anlass, mich noch mal genauer mit dieser Geschichte zu beschäftigen.

 

Fast 20 Jahre später haben Bekannte von mir dann den Sammelband „Gegendiagnose“ geplant und mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, etwas zu meiner Familiengeschichte zu schreiben. Ich wollte eigentlich nur einen ganz kurzen Essay zu der Frage schreiben, warum die Namen der im Rahmen der NS-‚Euthanasie‘ Ermordeten nicht genannt werden – doch herausgekommen ist dann ein 50-Seiten-Text zu den innerfamiliären Folgen der Ermordung meiner Urgroßmutter. Hierfür habe ich 2013 intensive Recherchen angestellt und u.a. Interviews mit der dritten und vierten Generation meiner Familie geführt, die Krankenakte meiner Urgroßmutter gelesen und den ganzen Schriftverkehr meiner Großmutter mit Behörden, Krankenhäusern und anderen Institutionen und Personen.

 

 

 

Julia Frick: Was waren dabei deine ersten Schritte und Anlaufstellen?

 

Andreas Hechler: Eines der Spezifika des Nationalsozialismus ist ja, dass er in Deutschland nicht nur Gesellschaftsgeschichte, sondern auch Familiengeschichte ist. Insofern habe ich da angefangen, wo die meisten – Opfer- wie Täter_innen-Nachfahr_innen – anfangen: bei meiner Familie. Ich hatte das Glück, dass meine Großmutter Marie Hechler in jahrzehntelanger Recherchearbeit einen riesigen Materialkorpus zusammengetragen hatte.

 

 

Julia Frick: Wie hat deine Familie bzw. dein Umfeld auf dein Engagement reagiert?

 

Andreas Hechler: Sehr positiv und unterstützend. Das Thema war ja schon lange ‚durch‘ aufgrund der Arbeiten meiner Großmutter in den 70er- und 80er-Jahren. Alle in meiner näheren Familie wissen zumindest rudimentär Bescheid, empfinden den Mord an Emilie Rau als große Ungerechtigkeit und standen mir für Interviews zur Verfügung. Meine Großmutter (Emilie Raus Tochter) war in dieser Hinsicht prägend für die ganze Familie.
Es gibt allerdings einen Teil meiner Familie zweiten Grades, der ein Unbehagen mit meinen Nachforschungen und meiner Textproduktion hat(te), innerfamiliär nicht über die Ermordung Emilie Raus spricht und – ganz klassisch – Scham empfindet. Dies ist ein Teil der Familie, den ich auch erst durch meine Recherchen kennengelernt habe.

 

Mir ist hier wichtig zu sagen, dass ich die innerfamiliäre Tabuisierung zwar falsch finde, aber diesen Umgang partiell auch nachvollziehen kann. Wir leben in einer ableistischen (behindertenfeindlichen) Gesellschaft und es gibt ganz real die Stigmatisierung von Menschen und Familien, die etwas mit Diagnosen und Psychiatrie zu tun haben.
Vor diesem Hintergrund denke ich, dass die immer wieder reproduzierte Rhetorik der ‚Scham in den Familien‘ mehr vernebelt als erklärt: die Ursache für das Schweigen in den Familien ist Ableismus, nicht Scham. Letztere ist Effekt des Ersteren, Scham ist nicht die eigentliche Ursache für das Schweigen. Diese gesellschaftliche Dimension muss zentral hervorgehoben werden, wenn über das Thema gesprochen und geschrieben wird; es liegt nicht (nur) in der Verantwortung der einzelnen Familien(mitglieder)!

 

 

 

Hätte meine Urgroßmutter vor ihrer Ermordung nicht schon Kinder gehabt, gäbe es mich nicht. Das zu realisieren ist krass.

 

 

 

Julia Frick: Wie würdest du den Einfluss beschreiben, den deine Recherchen auf dich selbst hatten und haben?

 

 

Andreas Hechler: Ich bin ja durch meine Recherchen sehr tief in das Leben meiner Urgroßmutter und der verschiedenen Generationen nach ihr eingetaucht, eine Zeit lang hat mich das richtig reingesogen. Eine Erkenntnis daraus war, dass die Ermordung eines Familienmitglieds eine sehr langfristige Wirkung auf die Familie haben kann. Das ist nicht neu, aber mir ist die Tiefendimension dessen anhand meiner eigenen Biografie noch mal klarer geworden. Nicht zuletzt der Umstand, dass ich lebe. Hätte meine Urgroßmutter vor ihrer Ermordung nicht schon Kinder gehabt, gäbe es mich nicht. Das zu realisieren ist krass.

 

Ich fand es auch interessant, meine eigenen Familienmitglieder unter einem spezifischen Fokus zu interviewen. Ich habe vieles erfahren, was ich nicht wusste. Es hat mich einigen von ihnen näher gebracht, von anderen habe ich mich eher etwas entfernt.

 

Ich muss(te) mich auch selbst in Ambiguitätstoleranz üben, sind doch den klaren Bildern von meiner Urgroßmutter als Opfer und meiner Großmutter als aufrechter Antifaschistin nun Gegennarrationen zur Seite gestellt worden, die etwas an mir nagen. Hier meinen eigenen Wunsch nach klar geschiedenen Täter-Opfer-Dichotomien zu erkennen war nicht so leicht.

 

Schlussendlich habe ich mich noch mal verstärkt dem Themenfeld Ableismus zugewendet, insbesondere unter einem Fokus, unter dem er selten verhandelt wird, nämlich einer historischen Dimension. Folgende Fragen haben für mich einen größeren Stellenwert erhalten: Warum gibt es Ableismus, warum gibt es ihn immer noch und wie ist seine spezifische Ausprägung in Deutschland? Und vor allem: Wie bekämpfen wir ihn?!

 

 

 

Julia Frick: Was treibt dich und deine Arbeit an?

 

 

Andreas Hechler: Mein großes Empfinden für (Un-)Gerechtigkeit, das Wissen um die Gewordenheit von Gesellschaft und dass diese veränderbar ist, das Wissen um die Notwendigkeit des Blicks zurück in die Geschichte, um die Gegenwart zu verstehen und für eine bessere Zukunft kämpfen zu können, meine familiäre Prägung und nicht zuletzt Unterstützung durch Freund_innen und Kampfgefährt_innen – ohne diese würde gar nichts gehen.
Ich freue mich auch, dass das Thema in den letzten zwei Jahren mehr Aufmerksamkeit erfährt und ich für Zeitungs- und Filminterviews, Artikel und Konferenzen zu dem Thema angefragt werde. Also diese Form der Anerkennung gibt mir auch Motivationsschübe.

 

 

 

 

 

 

Neues Denkmal erinnert an Patientenmorde im belarussischen Novinki

Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion traf das Territorium der damaligen Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (seit 1991: Republik Belarus) besonders hart. Infolge der Durchführung zahlloser Massenmorde sank die Bevölkerungszahl Belarus‘ um 1,7 Millionen Menschen; mehrere Hunderttausende Juden wurden gezielt durch Mitglieder der Einsatzgruppen erschossen, dazu kamen noch Morde an Roma und Kriegsgefangenen sowie ein Hungerplan, der gezielt die Menschen in den Städten dem Hungertod aussetzte, um Lebensmittel nach Deutschland bringen zu können.

 

Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern waren unter diesen Umständen nahezu ohne Chancen, den Krieg zu überleben. Nicht nur litten sie besonders unter dem von den Besatzern bewusst herbeigeführtem Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten, sondern sie wurden Ziel von Mordaktionen. Dies betraf beinahe alle Gebiete der besetzten Sowjetunion, wo im Rücken der Wehrmacht Einsatzgruppen Behinderte und psychisch Kranke erschossen und vergasten. Eine besondere Bedeutung nahmen dabei die Morde in Belarus ein, da sie zu den ersten koordinierten Aktionen gehörten, anhand derer zahlreiche Fragen berührt werden, die die Genese des Patientenmordes und damit verbunden des Holocaust sowie die Querverbindungen zur Aktion T4 im Altreich betreffen. Darauf kann hier nicht detailliert eingegangen werden, verwiesen sei auf einen Artikel von Gerrit Hohendorf und anderen im Gedenkstättenrundbrief 152.

 

In Minsk bestand eine psychiatrische Klinik in Novinki vor den Toren der Stadt, die auf dem Gelände einer Kolchose lag. Heinrich Himmler besuchte im Rahmen eines Besuches bei den Einsatzgruppen diesen Ort und gab dabei Artur Nebe die Weisung, die Kranken zu töten. Nebe war Führer der Einsatzgruppe B und als Chef des Reichskriminalpolizeiamtes schon in die „Euthanasie“-Verbrechen involviert gewesen, da dieses Amt für die Lieferung u.a. der Gasflaschen an die T4-Tötungsanstalten zuständig war. Dass „Geisteskranke“ zu töten waren, scheint an der Ostfront allgemein akzeptiert gewesen zu sein. So notierte der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder im September 1941 in seinem Kriegstagebuch:

Russen sehen Geistesschwache als heilig an. Trotzdem Tötung nötig.((zitiert nach Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 1072)))

 

Artur Nebe wandte sich an Albert Widmann, einem im Krimialtechnischen Institut arbeitenden und bereits in der Aktion T4 versierten Chemiker mit der Bitte um Unterstützung. Widmann fuhr darauf hin nach Minsk, und nahm 400 Kilogramm Sprengstoff sowie zwei Metallschläuche mit. Mit dem Sprengstoff wurden Patienten des Krankenhauses Nowinki in einem Wald bei Minsk getötet; dies erwies sich aber als eine nicht effiziente Tötungsmethode. Mit Hilfe der Metallschläuche wurde am 18. September 1941 ein Badehaus des Krankenhauses mit Gas geflutet, um über 100 Kranke zu ermorden. Einige Tage später wurden die jüdischen Patienten von Nowinki erschossen. Später, am 6. und 7. Dezember, wurden auch noch 200 Patienten der psychiatrischen Abteilung des 2. Zivilkrankenhauses von Minsk erschossen.

 

 

Diese Verbrechen kamen bei zahlreichen Prozessen zur Sprache, unter anderem bei den Prozessen gegen Mitglieder und Führer von Einsatzgruppen wie Dr. Bradfisch in München, Georg Heuser in Koblenz und Karl Frenzl in Karl-Marx-Stadt. Auch in Minsk selbst kam es zu Verfahren, doch erst über 70 Jahre nach den Verbrechen rückten die Opfer der Verbrechen in den Fokus der Erinnerungskultur. Dank einer von der Stiftung EVZ geförderten Ausstellung in Minsk (Bericht hier), an der das einzige unabhängige Hochschulinstitut in Belarus, das European College of Liberal Arts mit ihrem Zentrum für Public History beteiligt war, kam es zu Kontakten zum psychiatrischen Krankenhaus. Alexej Bratochkin und Oleg Aizberg legten die Grundlagen, damit am 5. September 2017 ein Gedenkstein der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. Er wurde von Igor Zosimovich entworfen und enthält die Inschrift

Als ein Andenken und im Respekt vor der menschlichen Würde der von den Nazi-Okkupanten ermordeten Patienten des psychiatrischen Krankenhauses und der Arbeitskolonie Novinki

 

Für deutsche Ohren mag diese Wortwahl ungewohnt klingen, vielleicht sogar als antiquiert erscheinen. Betrachtet man aber den belarussischen Kontext, so ist dieses Denkmal als durchaus würdevoll und angemessen zu bezeichnen; es wirkt angesichts der etwa im Museum des Großen Vaterländischen Krieges aufgefahrenen Gigantomanie wohltuend bescheiden und zurückhaltend. Was nun noch zu wünschen wäre, ist, dass es auch in Belarus gelingen möge, den Opfern wieder einen Namen zu geben. Dazu sind aber noch umfangreiche Studien notwendig, und wohl auch ein weiterer Mentalitätswandel in der Erinnerungskultur Belarus‘.  Jedenfalls ist dieser Gedenkstein auch als ein Beispiel besonders gelungener Förderpolitik der Stiftung EVZ anzusprechen: Durch die finanzielle Unterstützung der Ausstellung in Minsk wurde letztlich nicht nur das Denkmal in Novinki ermöglicht, sondern es gelang auch, vielfältige und fruchtbare Arbeitsbeziehung zwischen Interessierten in Deutschland und Belarus herzustellen.

 

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Neues Denkmal erinnert an Patientenmorde im belarussischen Novinki

Der nationalsozialistische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion traf das Territorium der damaligen Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (seit 1991: Republik Belarus) besonders hart. Infolge der Durchführung zahlloser Massenmorde sank die Bevölkerungszahl Belarus‘ um 1,7 Millionen Menschen; mehrere Hunderttausende Juden wurden gezielt durch Mitglieder der Einsatzgruppen erschossen, dazu kamen noch Morde an Roma und Kriegsgefangenen sowie ein Hungerplan, der gezielt die Menschen in den Städten dem Hungertod aussetzte, um Lebensmittel nach Deutschland bringen zu können.

 

Patienten in psychiatrischen Krankenhäusern waren unter diesen Umständen nahezu ohne Chancen, den Krieg zu überleben. Nicht nur litten sie besonders unter dem von den Besatzern bewusst herbeigeführtem Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten, sondern sie wurden Ziel von Mordaktionen. Dies betraf beinahe alle Gebiete der besetzten Sowjetunion, wo im Rücken der Wehrmacht Einsatzgruppen Behinderte und psychisch Kranke erschossen und vergasten. Eine besondere Bedeutung nahmen dabei die Morde in Belarus ein, da sie zu den ersten koordinierten Aktionen gehörten, anhand derer zahlreiche Fragen berührt werden, die die Genese des Patientenmordes und damit verbunden des Holocaust sowie die Querverbindungen zur Aktion T4 im Altreich betreffen. Darauf kann hier nicht detailliert eingegangen werden, verwiesen sei auf einen Artikel von Gerrit Hohendorf und anderen im Gedenkstättenrundbrief 152.

 

In Minsk bestand eine psychiatrische Klinik in Novinki vor den Toren der Stadt, die auf dem Gelände einer Kolchose lag. Heinrich Himmler besuchte im Rahmen eines Besuches bei den Einsatzgruppen diesen Ort und gab dabei Artur Nebe die Weisung, die Kranken zu töten. Nebe war Führer der Einsatzgruppe B und als Chef des Reichskriminalpolizeiamtes schon in die „Euthanasie“-Verbrechen involviert gewesen, da dieses Amt für die Lieferung u.a. der Gasflaschen an die T4-Tötungsanstalten zuständig war. Dass „Geisteskranke“ zu töten waren, scheint an der Ostfront allgemein akzeptiert gewesen zu sein. So notierte der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder im September 1941 in seinem Kriegstagebuch:

Russen sehen Geistesschwache als heilig an. Trotzdem Tötung nötig.((zitiert nach Christian Gerlach, Kalkulierte Morde, Hamburg 1999, S. 1072)))

 

Artur Nebe wandte sich an Albert Widmann, einem im Krimialtechnischen Institut arbeitenden und bereits in der Aktion T4 versierten Chemiker mit der Bitte um Unterstützung. Widmann fuhr darauf hin nach Minsk, und nahm 400 Kilogramm Sprengstoff sowie zwei Metallschläuche mit. Mit dem Sprengstoff wurden Patienten des Krankenhauses Nowinki in einem Wald bei Minsk getötet; dies erwies sich aber als eine nicht effiziente Tötungsmethode. Mit Hilfe der Metallschläuche wurde am 18. September 1941 ein Badehaus des Krankenhauses mit Gas geflutet, um über 100 Kranke zu ermorden. Einige Tage später wurden die jüdischen Patienten von Nowinki erschossen. Später, am 6. und 7. Dezember, wurden auch noch 200 Patienten der psychiatrischen Abteilung des 2. Zivilkrankenhauses von Minsk erschossen.

 

 

Diese Verbrechen kamen bei zahlreichen Prozessen zur Sprache, unter anderem bei den Prozessen gegen Mitglieder und Führer von Einsatzgruppen wie Dr. Bradfisch in München, Georg Heuser in Koblenz und Karl Frenzl in Karl-Marx-Stadt. Auch in Minsk selbst kam es zu Verfahren, doch erst über 70 Jahre nach den Verbrechen rückten die Opfer der Verbrechen in den Fokus der Erinnerungskultur. Dank einer von der Stiftung EVZ geförderten Ausstellung in Minsk (Bericht hier), an der das einzige unabhängige Hochschulinstitut in Belarus, das European College of Liberal Arts mit ihrem Zentrum für Public History beteiligt war, kam es zu Kontakten zum psychiatrischen Krankenhaus. Alexej Bratochkin und Oleg Aizberg legten die Grundlagen, damit am 5. September 2017 ein Gedenkstein der Öffentlichkeit übergeben werden konnte. Er wurde von Igor Zosimovich entworfen und enthält die Inschrift

Als ein Andenken und im Respekt vor der menschlichen Würde der von den Nazi-Okkupanten ermordeten Patienten des psychiatrischen Krankenhauses und der Arbeitskolonie Novinki

 

Für deutsche Ohren mag diese Wortwahl ungewohnt klingen, vielleicht sogar als antiquiert erscheinen. Betrachtet man aber den belarussischen Kontext, so ist dieses Denkmal als durchaus würdevoll und angemessen zu bezeichnen; es wirkt angesichts der etwa im Museum des Großen Vaterländischen Krieges aufgefahrenen Gigantomanie wohltuend bescheiden und zurückhaltend. Was nun noch zu wünschen wäre, ist, dass es auch in Belarus gelingen möge, den Opfern wieder einen Namen zu geben. Dazu sind aber noch umfangreiche Studien notwendig, und wohl auch ein weiterer Mentalitätswandel in der Erinnerungskultur Belarus‘.  Jedenfalls ist dieser Gedenkstein auch als ein Beispiel besonders gelungener Förderpolitik der Stiftung EVZ anzusprechen: Durch die finanzielle Unterstützung der Ausstellung in Minsk wurde letztlich nicht nur das Denkmal in Novinki ermöglicht, sondern es gelang auch, vielfältige und fruchtbare Arbeitsbeziehung zwischen Interessierten in Deutschland und Belarus herzustellen.

 

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Veranstaltungen zum Gedenken an den „Euthanasierlass“ 1.9.1939

Gestern haben wir schon auf die Gedenkveranstaltung in Brandenburg/Havel hingewiesen. Wir möchten auf zwei weitere aufmerksam machen: Gießen: Die Gedenkveranstaltung für die Euthanasieopfer ist am 1. September 2017 in der Kapelle der Vitos-Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik Gießen, Licher Straße 106, ab 19 Uhr. Berlin: Begleitprogramm zur Gedenkveranstaltung für die Opfer von »Euthanasie« und Zwangssterilisation  Continue Reading »

Gedenkveranstaltung für die Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg an der Havel, Freitag, 1.9.2017, 10 Uhr

Im Folgenden machen wir auf eine Einladung der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde in Brandenburg/Havel zum Gedenken an den 1.9.1939 aufmerksam.   Mit einem auf den 1. September 1939, den Tag des deutschen Angriffs auf Polen, zurückdatierten Schreiben veranlasste Adolf Hitler die Ermordung von über 70.000 Menschen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung. Diese unter  Continue Reading »

Interview mit der Interviewerin: Julia Frick

Da unsere Interviewerin Julia Frick fleißig an ihrer Bachelorarbeit zum Gedenk- und Informationsort für die Opfer nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde schreibt, gibt es in diesem Monat kein neues Gespräch mit einer/m Angehörigen eines Opfers.

 

[caption id="attachment_14144" align="aligncenter" width="300"] Screenshot bundeswettbewerb-lyrix.de[/caption]

 

Statt dessen können wir enthüllen, dass sie 2008 und 2009 zu den Preisträgern des Bundeswettbewerbes lyrix gehörte und unlängst zu ihrem Werdegang nach dem zweifachen Gewinn befragt wurde. Ein nicht unbeträchtlicher Teil davon ist ihre Arbeit zur Erinnerung an die Opfer der „Euthanasie“-Morde. Das Interview kann hier nachgelesen werden.

 

 

„Euthanasie“ im Reichsgau Wartheland: Eine Exkursion der Osteuropäischen Geschichte der Universität Gießen nach Lodz im Mai 2017

Im Rahmen eines Seminars über die Patientenmorde der Nationalsozialisten im Deutschen Reich und im Reichsgau Wartheland unternahm eine kleine Studentengruppe in Begleitung von Prof. Dr. Hans-Jürgen Bömelburg und Robert Parzer eine Exkursion nach Lodz, um sich selbst vor Ort ein Bild des Geschehens der Krankenmorde im von Deutschland besetzten Polen zu machen. Ein Nebenfokus wurde auch gelegt auf die durchaus erzählenswerte Stadtgeschichte von Lodz mit Fokus auf der jüdischen Historie. Dass Exkursionen dieser Art ein überaus guter Weg sind, Studenten und jungen Forschern die Vergangenheit nahezubringen und für ein Thema zu begeistern, soll der nachfolgende Bericht aufzeigen.

 

Die Patientenmorde zur Zeit des Dritten Reichs, in der nationalsozialistischen Tätersprache auch euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnet, sind ein Thema, das im Schulunterricht nur an wenigen Stellen begegnet: Vielleicht als kurzer Exkurs im Fach Religion in der Mittelstufe oder im Fach Geschichte in den höheren Jahrgängen – vorausgesetzt, man besucht ein Gymnasium. Straffe Lehrpläne und Zeitdruck lassen eine intensivere Beschäftigung mit diesem sehr sensiblen Thema leider nicht zu – auch in der Geschichtswissenschaft gibt es erst in den letzten Dekaden vermehrt Tendenzen, sich dieses Themas zu widmen: Und noch immer gibt es große Lücken. Es handelt sich also um ein Feld, das durchaus Brisanz birgt und mehr in den Fokus der Wissenschaft gerückt sein will. Ganz besonders gilt dies für die Patientenmorde im Reichsgau Wartheland, einem zur Zeit des Zweiten Weltkrieges dem Deutschen Reich zugeschlagenen Teil Polens.

 

Den Studenten aus der Region um Gießen ist das Thema jedoch nicht gänzlich unbekannt: So findet sich in der näheren Umgebung die ehemalige Tötungsanstalt Hadamar, wo weit über 14.500 psychisch Kranke, körperlich Behinderte und andere von den Nationalsozialisten als minderwertig Empfundene zuerst vergast und später systematisch durch bewusste Vernachlässigung umkamen. Die „Euthanasie“-Verbrechen in Hadamar können also in zwei Phasen eingeteilt werden: Von Januar bis September des Jahres 1941 wurden mehr als 10.000 Menschen in der Gaskammer ermordet, von 1942 bis 1945 waren mehr als 4.500 Patienten, die vorsätzlich umkamen.

 

Zugegeben – es gibt „angenehmere“ Themen, mit denen man sich als Geschichtsstudent beschäftigen kann. Vielleicht schrecken solche „schweren“ Themen einige Studenten ab; Viele erwähnen, dass sie „es nicht mehr hören können“ – besonders durch die detaillierte Behandlung der Geschichte des Holocaust in mehreren Unterrichtsstufen in der Schule scheint sich bei vielen Lernenden eine ablehnende Haltung einzustellen. Dabei wird es umso wichtiger, sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen zu beschäftigen. Gäbe es einen desaströseren Fall, als den, dass sich breite Schichten der jungen Leute und der Schüler nicht mehr mit diesem unglaublichen Verbrechen befassen wollen und es irgendwann an den Rand der Geschichte verdrängt würde?

 

Genau deshalb war unsere Exkursion auch für Lehramtsstudenten interessant – und notwendig, denn um zu begreifen, was geschehen ist, sollte man es mit eigenen Augen gesehen haben.

 

Am Abend des 22. Mai verließ unser Reisebus mit 15 Studenten Gießen – die Fahrt sollte die ganze Nacht hindurch gehen. Die Gruppe war sich anfangs gänzlich unbekannt. Nur einige wenige kannten sich vorher: Man sah sich im Seminar, man nickt sich zu, man spricht kurz. Und nun werden wir uns für sieben Tage wohl sehr gut kennenlernen. Vielleicht auch angesichts des sensiblen Themas ist unsere Gruppe sehr schnell und gut zusammengewachsen.

 

Eine von Herrn Parzer geleitete thematische Einführung in die Materie der Patientenmorde allgemein und deren Durchführung im Wartheland als Grundlage für die nächsten Tage mündete in eine äußerst rege Diskussion und anschließend auch in persönliche Gespräche – das Interesse war geweckt.

 

Das Babiński-Spital (damals noch unter dem Namen Kochanówka-Krankenhaus, zur NS-Zeit dann Nord-West-Krankenhaus) in unmittelbarer Nähe der Stadt Lodz war einer der Schauplätze der „Euthanasie“ im besetzten Polen. Wie die meisten deutschen psychiatrischen Anstalten, die in die Patientenmorde verwickelt waren, ist auch das Krankenhaus bei Lodz bis heute als solches in Betrieb – was eigentlich jedem, der sich eingehender damit beschäftigt, sauer aufstoßen sollte.

In den ersten Jahren des Krieges wurden dort auf grauenvolle Weise psychisch Kranke und Behinderte ermordet. Zuerst wurde den Selektierten ein Beruhigungsmittel injiziert, daraufhin fuhr der eine Kolonne vor, die auch eine mobile Gaskammer, den Gaswagen, beinhaltete. Die Selektierten mussten Lastwägen besteigen, die zu einem nahe gelegenen Wald fuhren. Dort wurden die Patienten in den Gaswagen umgeladen, ermordet und von Mitgliedern eines aus polnischen Häftlingen bestehenden Arbeitskommandos verscharrt. Von März bis August des Jahres 1940 forderte diese Prozedur über 600 Menschenleben. Auch aus dem Ghetto Lodz sind Opfer bekannt. So wurden nach Einrichtung des Ghettos auch einige psychisch kranke und behinderte Internierte dorthin verbracht und im Zuge von Deportationen ermordet.

 

Bemerkenswert ist die Anbringung einer Gedenktafel am Krankenhaus – ein Prozess, der dadurch besondere Aufmerksamkeit auf sich zog, dass sich die Prozedur über drei Jahre hinzog. Interessant ist auch die Tatsache, dass sich auf der mehrsprachigen Tafel im heutigen Polen auch eine russischsprachige Inschrift finden lässt. So rückte dieses Verbrechen auch ein Stück weit mehr in den Fokus der städtischen Bevölkerung – wenn auch circa 70 Jahre später.

 

[caption id="attachment_3437" align="aligncenter" width="200"] Die Tafeln am Babinski-Krankenhaus[/caption]

 

Eindrucksvolles Zeugnis des Alltags im psychiatrischen Krankenhaus ist eine weitestgehend erhaltene Sammlung künstlerischer Artefakte, wie Gemälde und Skulpturen von Patienten, die in der Anstalt bis heute verwahrt werden. Gerne war man bereit, uns diese zu zeigen. Sie zeichnen ein beinahe verstörendes Bild davon, wie diese Menschen den tristen Alltag in der Anstalt verarbeitet haben mussten. Keinesfalls handelt es sich dabei um naive oder einfache Kunst, sondern um beeindruckende Werke mit einer für Außenstehende vollkommen andere Sicht auf den Alltag und die Realität des Lebens. Die Portraits bestechen durch bizarre Farbgebung und Formen und wirken beinahe bedrückend, jedoch funktionieren sie wie eine Brille, die man sich aufsetzen kann, um die Welt mit den Augen eines Betroffenen zu sehen. Zu verweisen ist an dieser Stelle auf die Heidelberger Sammlung Prinzhorn, ein nach 1945 wiederentdecktes Konvolut von Artefakten der Patienten verschiedener psychiatrischer Anstalten. Erst kürzlich waren einige dieser Kunstwerke anlässlich des Festaktes zur Befreiung der Tötungsanstalt Hadamar am 26.03.1945 dort vor Ort zu sehen.

 

Vielleicht kann man annehmen, dass unsere Exkursion, neben neuen historischen Fakten und Eindrücken für die Studenten, für fortgeschrittenere Wissenschaftler wenig Neues zu bieten habe. Doch auch hier bot sich eine einmalige Gelegenheit: Als nach einiger Zeit, nach verschiedenen Präsentationen über die Anstaltsgeschichte und dem Besuch der Kunstsammlung, die Stimmung etwas familiärer wurde, schien die Leiterin des Krankenhauses einen echten Schatz aus dem Fundus geholt zu haben. Feinsäuberlich und detailliert wurde im Krankenhaus über Jahrzehnte ein Fotoalbum geführt, was nicht nur die Eindrücke für uns Studenten untermauerte, sondern auch für Doktoranden ausgesprochen interessant war: So fanden sich Fotos von Ärzten, von Pflegern und Tätern, deren äußere Erscheinung für deren Recherchen bis dato vollkommen unbekannt war. Und wieder einmal zeigt sich, dass, wer ein Historiker ist, nicht nur Expertise und Neugier braucht, sondern auch eine große Portion Glück – denn auch Zufallsfunde sind das, worauf man angewiesen ist.

 

[caption id="attachment_14136" align="aligncenter" width="225"] Prof. Bömelburg mit Studierenden in Księży Młyń in Lodz. Foto Robert Parzer CC-BY-SA.[/caption]

Von besonderer Relevanz für das Gelingen der Exkursion war auch der Austausch zwischen deutschen und polnischen Studenten – so fand im Rahmen dessen auch ein gemeinsames Seminar mit polnischen und deutschen Studierenden statt, das sich mit der Geschichte des Reichsgaus Wartheland und den „Euthanasie“-Verbrechen befasste. Die Erfahrung lehrt, dass der beste Weg, um verschiedene Positionen zusammenzuführen, der direkte Dialog ist.

Neben den Patientenmorden im besetzten Polen standen aber auch andere Themen auf dem Exkursionsplan, wie einer Stadtführung allgemein, dem Besuch des Staatsarchivs, aber auch des jüdischen Friedhofs und des ehemaligen Ghettos von Lodz. Auch das Vernichtungslager Kulmhof in Chełmno wurde am letzten Tag der Exkursion besichtigt. Es war mit einer einjährigen Unterbrechung von 1941 bis 1944 in Betrieb war – zuletzt ausschließlich für die Ermordung der Juden des Ghettos der inzwischen in Litzmannstadt umbenannten Stadt Lodz.

 

[caption id="attachment_14133" align="aligncenter" width="225"] Stadtführung durch Lodz mit Dr. Adam Sitarek. Foto Robert Parzer CC-BY-SA[/caption]

Exkursionen mögen aufwendig sein, sie mögen auch manchmal einige finanzielle Mittel benötigen. Aber es gibt wohl keinen besseren Weg, um Studenten und zukünftigen Forschern ein Thema nahezulegen, als sie es mit eigenen Augen erfahren zu lassen. Die gesammelten Eindrücke während der Studienreise fließen sicherlich in die Hausarbeiten ein – und vielleicht auch in längerfristige Projekte. Besonders für angehende Lehrer, deren Aufgabe es sein wird, der nächsten Generation unsere Geschichte zu vermitteln, ist es mehr als ratsam, das, was sie eines Tages unterrichten werden, selbst mit eigenen Augen gesehen zu haben. Und genau das ist in sieben sehr intensiven Tagen geschehen.

Gießen, den 07.08.2017         Dominik Käßler, Student der Osteuropäischen Geschichte

 

Weiterführender Link hier auf dem Blog:

http://blog.gedenkort-t4.eu/2015/08/24/krankenmord-in-polen-unbekannte-tatorte-in-lodz/

 

Forschungsarbeit zum Gedenkort T4: Der umstrittene Ort. Zur kollektiven Aushandlung von Erinnerung im öffentlichen Raum am Beispiel der Neugestaltung des Gedenk- und Informationsortes Tiergartenstraße 4 in Berlin.

Ende September werde ich an der Christian-Albrechts-Universität Kiel bei Frau Prof. Dr. Silke Göttsch-Elten meine Bachelorarbeit im Fach Europäische Ethnologie/Volkskunde vorlegen. Hier möchte ich vorab über mein Forschungsvorhaben informieren. Meine Forschungsergebnisse werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach im November auf der Herbsttagung des Arbeitskreises zur Erforschung der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisation in der Berliner Charité vorstellen.

 

 

Von Julia Frick

 

 

Der „Gedenk- und Informationsort Tiergartenstraße 4 für die Opfer der NS-‚Euthanasie‘-Morde“ in Berlin, kurz Gedenkort T4, befindet sich direkt neben der Philharmonie im Stadtteil Tiergarten. Sein heutiges Erscheinungsbild ist Ergebnis und Spiegel einer jahrelangen Debatte verschiedener Interessengruppen darüber, wie ein durch Kriegszerstörung und spätere Baumaßnahmen unsichtbar gewordener historischer Täterort als Erinnerungsort, als Denkmal und Bildungsstätte sichtbar gemacht werden kann.

 

 

[caption id="attachment_14124" align="aligncenter" width="489"] Der Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde. (Foto: Frick)[/caption]

 

Umstrittene Erinnerung

 

Der Gedenkort T4 präsentiert sich somit als umstrittener Ort, an dem im Laufe der Jahre unterschiedliche Strategien der symbolischen Besetzung und des „Sichtbarmachens“ von Geschichte realisiert wurden bzw. werden sollten.

Sowohl Historiker_innen und Mediziner_innen, Politiker_innen und Stiftungen als auch im Dritten Reich zwangssterilisierte Menschen, Nachfahren von Ermordeten und Menschen mit Behinderungen und/oder psychischen Erkrankungen haben sich in diesen Ort eingeschrieben. So entstanden zwischen 1989 und 2014 zwei dauerhafte Objektivationen, die auf unterschiedliche Weise Erinnerung sichtbar machen. In gleicher Weise blieben jedoch andere Initiativen erfolglos, ihr Bild von Geschichte und Erinnerung unsichtbar.

Die Geschichte des heutigen Gedenkort T4 illustriert anschaulich, dass Erinnerung im öffentlichen, v.a. urbanen Raum stets als gesellschaftlicher Aushandlungsprozess zu verstehen ist. „An der öffentlichen Erinnerungskultur“, so fasst es Sabine Moller zusammen, „ist ablesbar, welche Erinnerung auf dieser Ebene durchgesetzt wurde“ (Moller 2010, S. 90).

 

 

Forschungsfrage und theoretische Basis

 

Meiner Bachelorarbeit wird die Forschungsfrage zugrunde liegen, wie Erinnerung im Kontext der Neugestaltung des Gedenkort T4 von den verschiedenen Interessengruppen ausgehandelt wurde. Welche Konfliktlinien wurden sichtbar? Welche Argumentationen und Aneignungsstrategien gab es, und welche haben sich letztlich in der Gestaltung und Konzeption des Ortes durchgesetzt?

Bei meiner Analyse möchte ich mich zum einen auf Maurice Halbwachs‘ Theorie der cadres sociaux (Soziale Bezugsrahmen/Kollektive Erinnerung als soziale Konstruktion) stützen. Zum anderen sollen Jan Assmanns Weiterentwicklungen des Halbwachs’schen Modells in Richtung eines kommunikativen und eines kulturellen Gedächtnisses Berücksichtigung finden. Aleida Assmanns Ansätze wiederum erscheinen mir unabdingbar, da sie dieses Konzept in mehreren Werken direkt auf die deutsche Erinnerungskultur zum Dritten Reich anwendet.

 

 

Vorgehen

 

Als zeitlichen Rahmen für meine Analyse habe ich den Zeitraum zwischen 2007 und 2014 gewählt. Im Jahr 2007 formierte sich der sogenannte „Runde Tisch T4“, eine Arbeitsgemeinschaft bestehend aus Stiftungsvertreter_innen, Politiker_innen, Angehörigen von NS-‚Euthanasie‘-Opfern, Wissenschaftler_innen sowie Betroffenen[1], deren erklärtes Ziel eine Neugestaltung des historischen Ortes „Tiergartenstraße 4“ war. Das Ende dieser Bemühungen markierte schließlich 2014 die Einweihung des im Rahmen eines Gestaltungswettbewerbs neu errichteten Gedenk- und Informationsortes T4.

Als Material liegen mir zum einen Anträge, Forderungen und Stellungnahmen der verschiedenen Interessengruppen vor, die mögliche Neukonzeptionen des Gedenkort T4 beinhalten. Zum anderen war der Ort „Tiergartenstraße 4“ auch (und gerade) in jenen Jahren des Umbruchs Raum für rituelle Praktiken des Erinnerns. Eine weitere Quelle werden demnach diverse Redebeiträge der immer Anfang September stattfindenden Gedenkfeier an der Tiergartenstraße 4 sein.

Um Aufschluss über die verschiedenen Konfliktlinien und Argumentationen zu erlangen, werden diese Dokumente systematisch erschlossen und qualitativ ausgewertet.

 

 

Aktueller Forschungsstand

 

Während die Forschung zu Erinnerungskulturen und -praktiken bezüglich des Nationalsozialismus in den Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften seit einigen Jahren regelrecht boomt (vgl. u.a. Assmann 2014, Assmann 2016 und Rürup 2014), so liegen die Forschungsschwerpunkte in allen beteiligten Disziplinen doch noch immer auf dem Holocaust. Die Erforschung der NS-‚Euthanasie‘-Morde in Bezug auf ein wie auch immer geartetes kollektives Gedächtnis hingegen ist aus wissenschaftlicher, vor allem kulturanthropologischer Sicht, noch ein weitgehend brachliegendes Feld.

Nach eingehender Recherche liegt mir zwar kein dezidiert kulturanthropologisches/europäisch-ethnologisches Werk vor, welches sich mit erinnerungskulturellen Praktiken bezüglich des Gedenkens an die Opfer der NS-‚Euthanasie‘-Morde befasst. Zwei interdisziplinäre Sammelbände seien hier jedoch zu nennen, einer davon gerade jüngst erst erschienen, die ein langsam aufkommendes kulturwissenschaftliches Interesse an der Thematik erkennen lassen.

 

Zum einen ist dies der Band „NS-‚Euthanasie‘ und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung. Gedenkformen. Betroffenenperspektiven.“ von Stefanie Westermann, Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (2011). Gleich in der Einleitung benennen die Herausgeber_innen das Forschungsdefizit und sprechen bezüglich der NS-‚Euthanasie‘-Morde von einem „jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis mehr oder weniger bewusst ausgegrenzten Verbrechenskomplex“ (Westermann et al. 2011, S. 8).

Zum anderen erscheint der gerade erst von Thomas Müller, Paul-Otto Schmidt-Michel et al. veröffentlichte Band „Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit. Das Denkmal der Grauen Busse.“ (2017) vielversprechend, da er Beiträge zur Aufarbeitung der NS-‚Euthanasie‘ aus den Geschichts- und Kulturwissenschaften ebenso beinhaltet wie solche aus (denkmal)gestalterischer bzw. künstlerischer Perspektive.

 

 

Auswahlbibliografie

 

Assmann, Aleida (2016)

Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. 2. Auflage. München.

 

Assmann, Aleida (2014)

Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. 2. Auflage. München.

 

Endlich, Stefanie (2016)

Orte und Formen des Gedenkens an Opfer der „Euthanasie“-Verbrechen. In: KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrg.): „Euthanasie“-Verbrechen. Forschungen zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Heft 17). Bremen. S. 150-162.

 

Endlich, Stefanie et al. (Hrg.) (2014)

Tiergartenstraße 4. Geschichte eines schwierigen Ortes. Berlin.
Jaworski, Rudolf und Peter Stachel (Hrg.) (2007)
Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Berlin.

 

Jureit, Ulrike und Christian Schneider (2010)
Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart.

 

Moller, Sabine (2010)
Das kollektive Gedächtnis. In: Gudehus, Christian / Ariane Eichenberg / Harald Welzer (Hrg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart. S. 85-92.

 

Müller, Thomas et al. (Hrg.) (2017)
Vergangen? Spurensuche und Erinnerungsarbeit. Das Denkmal der Grauen Busse. Zwiefalten.

 

Rürup, Reinhard (2014)
Der lange Schatten des Nationalsozialismus. Geschichte, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur. Göttingen.

 

Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Hrg.) (2015)
Tiergartenstraße 4. Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde. Berlin.

 

Westermann, Stefanie/Richard Kühl/Tim Ohnhäuser (Hrg.) (2011)
NS-„Euthanasie“ und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenen-perspektiven (Medizin und Nationalsozialismus, Band 3). Berlin.

 

 

[1] Mit „Betroffenen“ sind zwar in erster Linie Menschen gemeint, die zwischen 1933 und 1945 zwangssterilisiert
wurden. Als „Betroffene“ bezeichnen und definieren sich aber teilweise auch solche, die von einer
körperlichen, psychischen oder geistigen Einschränkung betroffen sind und sich aus dieser Gegebenheit
heraus mit den Opfern der NS-„Euthanasie“-Morde identifizieren.

 

 

 

„Ich fühlte mich verantwortlich dafür, das Schweigen zu brechen“ – Sigrid Falkenstein und ihre Tante Anna Lehnkering

  Es wäre wohl nicht übertrieben, Sigrid Falkenstein (Jg. 1946), als Vorreiterin derjenigen Angehörigen von „Euthanasie“-Opfern zu bezeichnen, die mit ihren Recherchen an die Öffentlichkeit gingen. Den Anfang machte im Jahr 2003 ein überraschender Fund im Internet. Was dann geschah, ist vielen bereits bekannt – im Interview mit Julia Frick erzählte die Autorin und pensionierte  Continue Reading »

Neue Biografie: Herta Martha Wieland

um 8.45 Uhr Tod in der Heil- und Pflegeanstalt Teupitz, ihr Mann besuchte gegen Mittag noch einmal die Klinik: da wird ihm nur ihr Tod mitgeteilt (er sagte später: „Die haben sie gespritzt.“ Wie sich eine Tochter erinnert). Todesursache: „Entkräftung bei Geisteskrankheit“ – wobei sie 6 Tage vorher, am Tag ihrer Einweisung, physisch vollkommen gesund und bei Kräften war. Tatsächliche Todesursache: vermutlich eine Luminal- oder Luftspritze.

 

[caption id="attachment_14098" align="aligncenter" width="300"] Herta Wieland (links) mit ihrer Familie 1935. Quelle: Privatsammlung[/caption]

Es ist nicht viel, was man über Herta Martha Wieland weiß. Das Wenige hat ihre Enkelin recherchiert und unserer Sammlung von Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen „Euthanasie“-verbrechen angefügt. Hier können Sie die Biographie lesen.

 

 

 

Buchvorstellung: Ausgegrenzt! Warum? Zwangssterilisierte und Geschädigte der NS-›Euthanasie‹ in der Bundesrepublik Deutschland

Wann: 20.6.2017, 19.00

Wo: Dokumentationszentrum Topogaphie des Terrors, Berlin

 

Die Geschichte der Menschen, die im Nationalsozialismus zwangssterilisiert wurden oder deren Angehörige den Patientenmorden zum Opfer fielen, wurde nach 1945 relativ konsequent verdrängt: Anträgen auf Entschädigungen wurde nicht entsprochen, weil die Opfergruppe nicht in das Bundesentschädigungsgesetz aufgenommen wurde, Zwangssterilisation oft nicht als Verbrechen gewertet und generell hing über den Thema ein Tabu. Dass sich 1987 der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. gründete, bedeutete demzufolge auch, dass sich erstmals seit 1933 Betroffene und Angehörige austauschen konnten. Auch wenn sich der Verein 2009 auflöste, so existiert er als Arbeitsgemeinschaft weiter und kämpft immer noch um Entschädigungen und Anerkennung. Im Jahr 2003 produzierte der Verein die Wanderausstellung Lebensunwert – Zerstörte Leben und gab 2006 das Buch unter gleichem Titel heraus (Verlag).

 

Die Herausgeberin der neuen Publikation Margret Hamm wird das Buch in der Topographie des Terrors vorstellen. Man darf in diesem Zusammenhang auch gespannt sein, ob das Thema der Namensnennung von Opfern aufgebracht werden wird. Die Arbeitsgemeinschaft positionierte sich in letzter Zeit immer wieder gegen die öffentliche Nennung mit der Begründung, dass die Opfer nicht gefragt werden könnten und dass dies nach den Jahrzehnten der Verdrängung eine Art überholter Aktionismus sei. Verweisen sei hier auf einen Brief der AG vom März des Jahres an die Ministerin für Justiz, Kultur und Europa in Schleswig-Holstein, der sich gegen die Nennung der Namen der aus der Anstalt Neustadt deportierten Patienten wandte.

 

 

Familiengeschichte mit doppeltem Boden – Barbara Stellbrink-Kesy und ihre Großtante Irmgard Heiss

Barbara Stellbrink-Kesy (Jg. 1952) ist Vorstandsmitglied im Förderkreis Gedenkort T4 e.V. und arbeitet als Kunsttherapeutin und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Berlin. Ihren beruflichen Schwerpunkt bildet seit 2003 die transkulturelle bzw. interkulturelle Kunsttherapie sowie die Kunsttherapie mit Kindern und Jugendlichen und speziell mit Frauen. Bei einem Umzug nach dem Tod ihres Vaters offenbarte sich ihr – buchstäblich – die Doppelbödigkeit der eigenen Familiengeschichte und eine umfangreiche Spurensuche begann.

 

[caption id="attachment_14082" align="aligncenter" width="478"] Zwei mutige Frauen: Barbara Stellbrink-Kesy und Irmgard Heiss (1897-1944).[/caption]

 

 

Julia Frick: Wann hast Du begonnen, über das Schicksal Deiner Großtante nachzuforschen? Kannst Du dich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn Deiner Recherchen war?

 

Barbara Stellbrink-Kesy: Zum ersten Mal sprachen meine Eltern Mitte der 90er Jahre in meiner Gegenwart über Irmgard Heiss. Ich war schon über 40 Jahre alt, sieben Jahre nach ihrem Tod geboren und in ihrem Elternhaus aufgewachsen. Mein Vater vermutete, Irmgard, die Schwester seiner Mutter, könne ein Opfer der Krankenmorde geworden sein, er wisse aber nichts Genaues. Es schockierte mich, dass ein Mitglied der Familie jahrelang einfach verschwiegen worden und unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen war. Gegenüber uns ‚Kindern‘ war das Familiengeheimnis offensichtlich streng gewahrt worden. Einige Zeit nach diesem Gespräch gab mir mein Vater eine Fotografie und einen handgeschriebenen Brief seiner Tante. Das waren meine ersten Anhaltspunkte.

 

Als ich dann nach dem Tod meines Vaters einen Schrank von einem Raum in einen anderen transportierte, fiel darin etwas polternd zur Seite, was sich als eingebauter doppelter Boden herausstellte. Darunter fanden sich Irmgards letzte Briefe aus den Jahren 1939 – 42 an die Familie…

 

 

Julia Frick: Was waren danach Deine ersten Schritte und Anlaufstellen?

 

Barbara Stellbrink-Kesy: Niemand in meinem Freundes- und Bekanntenkreis hatte bis dahin von einem ähnlichen Fall berichtet. Ich selbst war seit meiner Jugend  politisch interessiert und keineswegs uninformiert – doch dieses Thema stellte offenbar ein Tabu dar. Es war schwer, mit einer Geschichte umzugehen, für die es an Worten und Bildern fehlte. Ich versuchte zunächst, die in Sütterlin eng beschriebenen Briefe zu entziffern. Dazu wandte ich mich an diejenigen in der Familie, die noch direkt mit Irmgards Lebensgeschichte zu tun gehabt haben konnten. Die Nichte Irmgards half mir bei der Transkription der Briefe. Ihr Vater Karl-Friedrich Stellbrink war Irmgards Bruder gewesen, Pfarrer in Lübeck.

 

Ich rätselte damals noch, was es mit den Absender-Adressen der Anstalten ‚Lengerich‘ und ‚Weilmünster‘ auf sich hatte. Als ich dann 2003 einen Vortrag zum Thema „Psychiatrie im Nationalsozialismus“ hörte, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl: Was in unserer Familie geschehen war, stand in einem größeren Zusammenhang, es ist wichtig. Anschließend sprach ich den Vortragenden aufgeregt an um herauszufinden, welche Anstalten hinter diesen Adressen stehen mochten.

 

Im Jahr 2008 half mir ein Historiker dabei, die Krankenakte der Patientin Irmgard Heiss im westfälischen Landesarchiv zu finden. Die Akte des ‚Lindenhauses‘ erwies sich als vollständig über den Zeitraum von 1925 – 1944. Doch die Eintragungen stellten sich mir zunächst als verwirrende Fülle von Einzelinformationen dar. Viele Dokumente waren erschreckend in Wortwahl und Duktus. Da war von „Parasitismus Sozialis“ die Rede, sowie von „Minderwertigkeit“, „moralischem Schwachsinn“und „Asozialität“. Von solchen ‚Diagnosen‘ hatte ich noch nie gehört. Widersprüchliche Informationen gaben mir Rätsel auf: Warum wollen die Psychiater Irmgard Heiss 1925 nach ihrer Aufnahme gleich wieder entlassen, bezeichnen sie als „nicht irrenanstaltspflegebedürftig“? Und warum machten sie die Ankündigung dann doch nicht wahr? Warum wurde Irmgard stattdessen in die Anstalt Gütersloh verlegt, und warum schrieb der dortige Direktor Simon in ihrem Fall derartig menschenverachtende Briefe an den Landeshauptmann in Münster? War sie denn nun krank gewesen oder nicht?

 

Ich besuchte Tagungen, studierte die Literatur, sprach Fachleute an, und ein mühsamer Prozess begann. Viel Unterstützung bekam ich zwar ehrlich gesagt nicht, aber immerhin waren weitere Schritte in der Recherche möglich.

 

 

Julia Frick: Wie hat Deine Familie bzw. Dein Umfeld auf Dein Engagement reagiert?

 

Barbara Stellbrink-Kesy: Meine enge Familie war interessiert, andere hielten sich bedeckt. Auch jene Nichte, die mir beim Entziffern der Briefe geholfen hatte, war erschüttert, als ihr klar wurde, wie wenig sie über dieses Familienmitglied wusste. Mit dem Auffinden der Krankenakte wuchsen bei ihr Befürchtungen, es könne nun erneut ein Schatten auf das Andenken ihres Vaters fallen. Das Stigma schien durch die Generationenfolge hindurch seine Wirkung nicht verloren zu haben.

 

Nach und nach fand ich mit ihr gemeinsam heraus, worum es in ihren Befürchtungen genau ging: Würde jemand Karl-Friedrich Stellbrink nun rückwirkend vorwerfen, dass er seine Schwester nicht selbst aus der Anstalt abgeholt und gerettet hatte? Würde die nunmehr nachgewiesene Existenz einer Schwester, die Psychiatriepatientin war, als Indiz für eine angebliche Persönlichkeitsstörung Stellbrinks gewertet werden, wie sie nach seiner Verurteilung – und bis weit in die Nachkriegszeit hinein – gelegentlich behauptet worden war?* Musste nicht zwangsläufig ein schlechtes Licht auf Hildegard Stellbrink fallen, weil auch sie die Schwägerin und enge Freundin nicht gerettet hatte?

 

Einerseits wollte ich nun für Irmgard einen Stolperstein vor ihrem Elternhaus verlegen lassen, ein kleines Familienritual ermöglichen, um ihr ihren Platz im Familiengedächtnis zurückzugeben. Ihr Leben und Sterben weiterhin zu verschweigen, erschien mir als ein untergründiges Weiterwirken der Rassenhygiene und des nationalsozialistischen Denkens. Ich fand es schwer erträglich, dass das Andenken des einen Opfers gegen dasjenige des anderen aufgerechnet werden sollte.

 

Andererseits wollte ich keine Schritte gegen den Willen meiner Tante unternehmen, das war für mich ein Gebot des Respekts. Aber je mehr Einblick ich in die Zusammenhänge gewann, umso eher konnte ich ihre Befürchtungen entkräften. So kam es, dass nach zehn Jahren intensiver Auseinandersetzung die letzte noch lebende betroffene Angehörige dieser Generation ihre Einstellung veränderte. Seit 2011 liegt ein Stolperstein vor dem Elternhaus Irmgards in Detmold, der bislang Einzige in der Stadt. Meine Tante, bis ins hohe Alter geistig rege, die viel für das ehrende Andenken an ihren Vater getan hatte, war mir im Verlauf dieser Zeit zu einer wichtigen Zeugin und Vertrauten in der Aufarbeitung geworden. Als sich die Möglichkeit einer Kurzdarstellung der verschlungenen Lebenswege der Geschwister Irmgard Heiss und Karl-Friedrich Stellbrink im Rahmen der Ausstellung „Erfasst – Verfolgt – Vernichtet“ der DGPPN bot, war ich froh über ihre Zustimmung für eine Veröffentlichung.

 

* Mehr über Karl-Friedrich Stellbrink und die ‚Lübecker Märtyrer‘ finden Sie hier

 

 

Julia Frick: Was konntest Du letztlich über Deine Großtante herausfinden?

 

Barbara Stellbrink-Kesy: Irmgard ist in ihrer Jugend sehr musikalisch gewesen, sie tanzte und sang und wäre gern Künstlerin geworden, was von der pietistischen Familie jedoch missbilligt wurde. Später heiratete sie dann auch noch ‚unter ihrem Stand‘, nämlich einen Bergmann. Sie erlebte häusliche Gewalt, wollte sich scheiden lassen, geriet in Not. Als sich ihr Mann in Untersuchungshaft befand, plante sie mit ihren kleinen Söhnen die beschwerliche Schiffsreise nach Brasilien zu Bruder und Schwägerin, die dort deutschsprachige Kolonisten seelsorgerisch betreuten. Doch eine erneute Schwangerschaft zerstörte die Hoffnung auf einen Neubeginn. Irmgard gab die Kinder schweren Herzens in Pflegefamilien und brachte im Krankenhaus ein gesundes Mädchen zur Welt. Doch als sie sich dort gegen die Reglementierungen mit vorgeschriebenen Stillzeiten wehrt, wird sie von Baby Meta, zweieinhalb Monate alt, getrennt und als ‚geisteskrank‘ in die Psychiatrie eingewiesen.

 

Diese Diagnose zweifeln die Psychiater an und wollen sie entlassen. Doch wohin? Ihre Eltern wollen sie nicht unterstützen, die Ehe will sie unter keinen Umständen fortsetzen. Die Ärzte können sich damals nicht vorstellen, dass diese Frau ohne Aufsicht und strenge Führung eines Mannes leben kann. Ein sozialhygienisch orientierter Amtsarzt schreibt 1926, er sehe sich wegen ihrer „Haltlosigkeit und Triebhaftigkeit“ gezwungen, diese Frau aus der Gesellschaft auszuschließen. Sie müsse „in Anstalten gehalten“ werden, denn andernfalls bestehe die Gefahr, dass sie erneut „belastete Kinder“ in die Welt setze. Als Irmgard  im Sommer 1926 dann doch entlassen wird, ist Baby Meta im Waisenhaus von Bethel an Diphterie gestorben und die Scheidungsklage abgewiesen.

 

Am Tag nach der Entlassung beantragen ihre Eltern, in ihrer Familienehre schwer angeschlagen, mit Unterstützung des Amtsarztes Irmgards Entmündigung. Diese taucht unter,  hält sich mit Fabrikarbeit über Wasser. 1928 wird sie mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus von Münster aufgenommen. Dort will sie auf ihrer Station  in suizidaler Absicht den Medikamentenschrank aufbrechen. „Weil ich überflüssig bin, auf der Welt“, sagt sie. Es folgt erneut die Überführung in die Psychiatrie. Sie erhält nun die Diagnose Schizophrenie und wird letztlich entmündigt. Auch die Ehe wird jetzt, unter anderen Vorzeichen, geschieden. Ihr Bruder Karl Friedrich und seine Frau Hildegard, gerade vom anstrengenden Auslandspfarramt aus Brasilien zurückgekehrt, erklären sich auf Bitten der Großeltern bereit, Irmgards Söhne Ewald und Hugo aufzunehmen. Sie erwägen, auch Irmgard zu sich zu holen, doch die Ärzte raten ihnen ab. Irmgard Heiss ist nun Patientin in Lengerich und wird dort die nächsten zehn Jahre verbringen.

 

Am 7. August 1941 dann reist Karl-Friedrich Stellbrink beunruhigt und völlig überlastet von Lübeck nach Detmold, um seine Schwestern vor den unmittelbar drohenden Verlegungen von Patienten aus Westfalen und Schleswig-Holstein in die sogenannten Mordanstalten zu warnen. Hitler hatte gerade den Stopp der Vergasungen verfügt, unter anderem wegen der berühmten Predigten des Bischofs Clemens August Graf von Galen, die auch die vier Lübecker Geistlichen heimlich verbreitet hatten. Statt in der Tötungsanstalt Hadamar zu enden, wie vorgesehen, strandete darum bald darauf der letzte Transport aus Lengerich in der ‚Zwischenanstalt‘ Weilmünster. Unter den westfälischen Patienten war auch Irmgard Heiss. Ein Besuchsverbot für Verwandte war angeordnet, und es gab für die verlegten Patienten kaum mehr Versorgung, denn das Morden wurde nun mit anderen Mitteln weitergeführt. Der zuständige Anstaltsdezernent Bernotat, wird als ein besonders eifriger Überzeugungstäter beschrieben.

 

 

Jedes rekonstruierte Leben schließt einen bis dahin ausgegrenzten Menschen wieder in die Erinnerung ein und bietet Möglichkeiten, die Dinge besser im Zusammenhang zu begreifen.

 

 

Julia Frick: Wie würdest Du den Einfluss beschreiben, den Deine Recherchen auf Dich selbst hatten und haben?

 

Barbara Stellbrink-Kesy: Ich schreibe seit einiger Zeit an Irmgards Biografie, das hat natürlich mein Leben verändert. Die Quellen, die ich zur Verfügung habe, die Briefe an meine Urgroßeltern nach Brasilien, schildern das Geschehen aus ihrer Sicht. Karl-Friedrichs und Irmgards beeindruckende Briefe ordnen sich allmählich wie von selbst zu einem Gesamtbild – eine Erzählung entsteht. Da diese Quellen so viele Zusammenhänge aufzeigen, ist es eine sehr herausfordernde Aufgabe, die Zeit und Sorgfalt benötigt. In einem eigenen Teil des entstehenden Buchs erkläre ich die Hintergründe, z.B. die Frage nach der damaligen Psychopathiediagnose. Die Veröffentlichungen anderer Angehöriger von Opfern der Krankenmorde waren für mich inspirierend und ermutigend. Jedes rekonstruierte Leben schließt einen bis dahin ausgegrenzten Menschen wieder in die Erinnerung ein und bietet Möglichkeiten, die Dinge besser im Zusammenhang zu begreifen.

 

Ich habe daher auch viel über meine Geschichte erfahren. Mir ist z.B. klar geworden, wie sehr mein Vater Ängste auf mich projiziert hatte, ich könne seiner Tante ähnlich sein. Als Kind spürte ich diese Ängste, das Geheimnis und die buchstäbliche ‚Doppelbödigkeit‘ der Familienerinnerung. Die Recherche förderte zutage, dass ich allen Grund hatte, meiner Wahrnehmung zu vertrauen.

 

Auch schaue ich jetzt genauer auf die heutigen Entwicklungen im Gesundheitswesen, die ja unter Vorzeichen der Ökonomisierung stehen, ähnlich wie in der Weimarer Zeit. Was mich aktuell sehr beschäftigt ist z.B. die Frage, warum die Gesellschaft den damaligen Psychiatern so viel unhinterfragte Macht übertragen hat. Die Geschichte konsequent aus Irmgards Sicht zu erzählen, auf der Grundlage der Dokumente und eingebettet in die Literatur, heißt für mich auch, die Deutungsmacht  dieser damaligen Psychiater zu brechen und den Machtmissbrauch, den Verrat an den Patienten sichtbar zu machen. Und der begann in diesem Fall schon 1925. Oft genug wird mir diese Feststellung als Anmaßung ausgelegt, ich muss also auch sehr widerständig sein, wie meine Großtante Irmgard. Wer weiß, vielleicht hätte ich 1925 auch eine „Psychopathiediagnose“ bekommen?

 

 

Julia Frick: Was treibt dich und Deine Arbeit an?

 

Barbara Stellbrink-Kesy: Unangepasste Frauen, als „asozial“ abgestempelt, sind bis heute als Opfer des Nationalsozialismus nicht anerkannt. Irmgards Lebensgeschichte kann als beispielhaft für Frauen betrachtet werden, die in jener Zeit gegen moralische Normen verstießen. Viele von ihnen landeten statt in den Psychiatrien später in KZs oder wurden zwangssterilisiert. Das Stigma von ihnen zu nehmen, ihre Einzelschicksale in die Erinnerungskultur einzuschließen und in ihrem widerständigen Handeln auch Keimformen kommender Veränderungen zu erkennen, das ist mir wichtig.

 

Motivation war mir auch meine Arbeit als Kunsttherapeutin mit Heilpraktikererlaubnis im Bereich der Psychotherapie. Die Erkenntnis: Wer seine eigene Vergangenheit nicht beachtet, wird auch die entscheidenden Themen in den Biografien anderer Menschen nicht auffinden.

 

Zum Schluss möchte ich das Wort an Irmgard übergeben. 1940 schrieb sie als Randbemerkung an den letzten Brief, den sie aus der Anstalt Lengerich an ihren Sohn Ewald schickte:

 

„Ich weiß gar nicht, ob ich schon richtig gelebt habe? Bewusst jedenfalls nicht, darauf warte ich noch. Nur krank stellenweise und gehemmt. Und frei, aber verpönt.“

 

 

 

 

 

Hier können Sie die vollständige Biografie von Irmgard Heiss nachlesen:

http://www.gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/heiss-irmgard

 

 

Mehr über Barbara Stellbrink-Kesy und ihre Arbeit finden Sie hier:

http://www.spielraum-fuer-kunst.de

 

 

 

 

Hadamar: Hier wurden Patienten ermordet. Hier wohnen Patienten!

In Hadamar haben die Nationalsozialisten in den Jahren 1941 – 1945 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, ab 1942 auch kranke Zwangsarbeiter und sog. halbjüdische (gesunde) Kinder im Rahmen der NS-Krankenmorde getötet.

[caption id="attachment_14069" align="aligncenter" width="300"] Tötungsanstalt Hadamar Haupteingang 1945[/caption]

Heute ist die Gedenkstätte Hadamar ein wichtiger Ort des Gedenkens an die Opfer der NS-„Euthanasie“, der allein in Hadamar fast 15.000 Menschen zum Opfer fielen. Darüber hinaus leistet die Einrichtung mit fast 20.000 Besuchern pro Jahr (Tendenz steigend) einen wichtigen Beitrag zur Demokratie-Erziehung vor allem junger Menschen.

Die meisten Ortskundigen haben sich längst daran gewöhnt: Betritt man „Haus 5“ der Vitos Klinik in Hadamar durch den Haupteingang, so kommt man zur Rechten in die Gedenkstätte, zur Linken in das Wohn- und Pflegeheim von Vitos. Dass im Ostflügel des Gebäudes Kranke ermordet wurden, daran erinnern die Gaskammer, Reste der Einäscherungsöfen, ein Seziertisch und nicht zuletzt die Gedenkstätten-Ausstellung in den historischen Räumlichkeiten.

 

[caption id="attachment_14070" align="aligncenter" width="200"] Gedenkstätte Hadamar, Ergotherapie und Wohn- und Pflegeheim in einem Haus.[/caption]

 

Was viele nicht wissen: Im Westflügel des Gebäudes, das heute so unscheinbar „Haus 5“ heißt, wurde in den Jahren 1942 bis 1945, also in den Jahren der Medikamentenmorde, mindestens im gleichen Umfang gemordet wie im Ostflügel, der die Gedenkstätte beherbergt.

 

Dessen ungeachtet wurde und wird der Westflügel seit Ende des 2. Weltkriegs weiter genutzt für die Unterbringung psychisch und seelisch kranker Menschen.

 

[caption id="attachment_14071" align="aligncenter" width="300"] Wegweiser auf dem Gelände[/caption]

Dieser aus ethischer Sicht sehr fragwürdige Zustand sollte im Juni 2017 endlich ein Ende haben. In der Woche nach Pfingsten werden die Bewohner aus Haus 5  in neu errichtete Gebäude auf dem Vitos-Gelände umziehen.

 

Es bietet sich also eine großartige Gelegenheit, endlich einen Neuanfang zu wagen, dem Gedenken einen angemessenen Platz einzuräumen und auch diesen historisch bedeutsamen Teil des Gebäudes in die bestehende Gedenkstätte zu integrieren.

 

Leider planen der Landeswohlfahrtsverband Hessen und die Vitos GmbH aktuell anscheinend, diesen ehemaligen Mordtrakt wiederum für mehrere Jahre als Wohnraum für Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen zu nutzen!

 

Dieses Vorgehen erscheint uns gleich aus mehreren Gründen inakzeptabel, denn es leugnet:

 

–          die historische Bedeutung des Westflügels, in dessen Räumen nachweislich mehr als 1.000 Menschen ermordet wurden und viele Menschen zum Teil wochenlang unter Hunger und Vernachlässigung und in dem Wissen um die drohende Ermordung gelitten haben,

–          die Gefühle von Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen, die dort untergebracht werden sollen im Wissen um die Historie dieser Räume und

–          die Verantwortung des LWV Hessen als Nachfolgeorganisation des Bezirksverbandes Wiesbaden, des ehemaligen Trägers der Landesheilanstalt Hadamar während der Zeit des Nationalsozialismus.

 

Die Weiterverwendung des Westflügels von Haus 5 auf dem Gelände der Vitos Hadamar wäre gleichbedeutend mit einer Verleugnung der nationalsozialistischen Taten in diesen Räumen. Wir fordern daher die Verantwortlichen auf, auch dieses Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte endlich zu einem guten Ende zu bringen und die Räumlichkeiten der Gedenkstätte zum Zweck des Gedenkens und der Bildungsarbeit zur Verfügung zu stellen. Ein „Weiter so!“ darf es in Hadamar nicht geben!

 

Hadamar: Hier wurden Patienten ermordet. Hier wohnen Patienten!

In Hadamar haben die Nationalsozialisten in den Jahren 1941 – 1945 psychisch kranke und geistig behinderte Menschen, ab 1942 auch kranke Zwangsarbeiter und sog. halbjüdische (gesunde) Kinder im Rahmen der NS-Krankenmorde getötet.

[caption id="attachment_14069" align="aligncenter" width="300"] Tötungsanstalt Hadamar Haupteingang 1945[/caption]

Heute ist die Gedenkstätte Hadamar ein wichtiger Ort des Gedenkens an die Opfer der NS-„Euthanasie“, der allein in Hadamar fast 15.000 Menschen zum Opfer fielen. Darüber hinaus leistet die Einrichtung mit fast 20.000 Besuchern pro Jahr (Tendenz steigend) einen wichtigen Beitrag zur Demokratie-Erziehung vor allem junger Menschen.

Die meisten Ortskundigen haben sich längst daran gewöhnt: Betritt man „Haus 5“ der Vitos Klinik in Hadamar durch den Haupteingang, so kommt man zur Rechten in die Gedenkstätte, zur Linken in das Wohn- und Pflegeheim von Vitos. Dass im Ostflügel des Gebäudes Kranke ermordet wurden, daran erinnern die Gaskammer, Reste der Einäscherungsöfen, ein Seziertisch und nicht zuletzt die Gedenkstätten-Ausstellung in den historischen Räumlichkeiten.

 

[caption id="attachment_14070" align="aligncenter" width="200"] Gedenkstätte Hadamar, Ergotherapie und Wohn- und Pflegeheim in einem Haus.[/caption]

 

Was viele nicht wissen: Im Westflügel des Gebäudes, das heute so unscheinbar „Haus 5“ heißt, wurde in den Jahren 1942 bis 1945, also in den Jahren der Medikamentenmorde, mindestens im gleichen Umfang gemordet wie im Ostflügel, der die Gedenkstätte beherbergt.

 

Dessen ungeachtet wurde und wird der Westflügel seit Ende des 2. Weltkriegs weiter genutzt für die Unterbringung psychisch und seelisch kranker Menschen.

 

[caption id="attachment_14071" align="aligncenter" width="300"] Wegweiser auf dem Gelände[/caption]

Dieser aus ethischer Sicht sehr fragwürdige Zustand sollte im Juni 2017 endlich ein Ende haben. In der Woche nach Pfingsten werden die Bewohner aus Haus 5  in neu errichtete Gebäude auf dem Vitos-Gelände umziehen.

 

Es bietet sich also eine großartige Gelegenheit, endlich einen Neuanfang zu wagen, dem Gedenken einen angemessenen Platz einzuräumen und auch diesen historisch bedeutsamen Teil des Gebäudes in die bestehende Gedenkstätte zu integrieren.

 

Leider planen der Landeswohlfahrtsverband Hessen und die Vitos GmbH aktuell anscheinend, diesen ehemaligen Mordtrakt wiederum für mehrere Jahre als Wohnraum für Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen zu nutzen!

 

Dieses Vorgehen erscheint uns gleich aus mehreren Gründen inakzeptabel, denn es leugnet:

 

–          die historische Bedeutung des Westflügels, in dessen Räumen nachweislich mehr als 1.000 Menschen ermordet wurden und viele Menschen zum Teil wochenlang unter Hunger und Vernachlässigung und in dem Wissen um die drohende Ermordung gelitten haben,

–          die Gefühle von Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen und psychischen Erkrankungen, die dort untergebracht werden sollen im Wissen um die Historie dieser Räume und

–          die Verantwortung des LWV Hessen als Nachfolgeorganisation des Bezirksverbandes Wiesbaden, des ehemaligen Trägers der Landesheilanstalt Hadamar während der Zeit des Nationalsozialismus.

 

Die Weiterverwendung des Westflügels von Haus 5 auf dem Gelände der Vitos Hadamar wäre gleichbedeutend mit einer Verleugnung der nationalsozialistischen Taten in diesen Räumen. Wir fordern daher die Verantwortlichen auf, auch dieses Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte endlich zu einem guten Ende zu bringen und die Räumlichkeiten der Gedenkstätte zum Zweck des Gedenkens und der Bildungsarbeit zur Verfügung zu stellen. Ein „Weiter so!“ darf es in Hadamar nicht geben!

 

„Er ist nie Teil der Familie gewesen“ – Jörg Waßmer und sein Großonkel Alois Zähringer

Jörg Waßmer ist 40 Jahre alt, lebt in Berlin und ist als Historiker am Jüdischen Museum tätig. Bereits im Kindesalter begann er, seine Großmutter über ihre Familie zu befragen und ahnte nicht, was er damit in Bewegung setzen würde. Vor einigen Wochen konnte ich ihn in Berlin treffen – und er erzählte mir eine der bewegendsten Geschichten meiner bisherigen Arbeit.

 

 

[caption id="attachment_14058" align="aligncenter" width="511"] Jörg Waßmer begann im Alter von 12 Jahren, das Schicksal seines Großonkels Alois zu erforschen. Auf der einzig erhaltenen Fotografie ist dieser (links hinter den Baumstämmen) kaum erkennbar. (Fotos: David M. C. Miller / Archiv Waßmer)[/caption]

 

 

Julia Frick: Wann hast Du begonnen, über das Schicksal deines Großonkels nachzuforschen? Kannst Du Dich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn Deiner Recherchen war?

 

Jörg Waßmer: Ja, so einen Moment gab es. Das war 1989, da war ich gerade einmal 12 Jahre alt – und hatte wohl ein recht außergewöhnliches Hobby für ein Kind dieses Alters: Ich interessierte mich für Familiengeschichte. Ich begann, meine Großmutter zu unserer Familie zu befragen, vor allem zu ihren Eltern und Geschwistern. Sie erzählte mir daraufhin unter anderem, dass sie einen Bruder namens Karl-Friedrich gehabt habe, der aber schon „ganz klein“ gestorben sei.

 

Was sie nicht ahnen konnte: Für meine 12 Jahre war ich schon ziemlich professionell unterwegs! Ich schrieb das Standesamt in Bleichheim an, weil ich mich für die Geburts- und Sterbeurkunde interessierte. Doch von dort sollte ich eine äußerst seltsame Antwort erhalten. Einen Karl-Friedrich Zähringer habe es nie gegeben, da müsse wohl eine Verwechslung vorliegen. Ein Alois Zähringer hingegen sei verzeichnet.

 

Ich forderte also die Kopien an und staunte nicht schlecht. Denn abgesehen davon, dass Karl-Friedrich offenbar Alois geheißen hatte, war dieser Alois auch nicht „klein“ gestorben. In einer Randnotiz konnte ich die Jahreszahl 1940 entziffern – da wäre Alois 18 Jahre alt gewesen – und als Ortsangabe „Grafeneck, Württemberg“. Da das Thema NS-“Euthanasie“ in meinem Schulunterricht in den 80er und 90er Jahren keine Rolle gespielt hatte, sagte mir und auch meiner Familie dieser Ort zunächst nichts. Und das, obwohl wir damals im Schwarzwald lebten, also gar nicht allzu weit entfernt von der Schwäbischen Alb.

 

Im Herbst 1990 stieß ich dann in der Lokalzeitung auf einen Artikel, in dem es darum ging, dass in Grafeneck eine Gedenkstätte für die Opfer der NS-“Euthanasie“ eingeweiht worden sei. Ich erfuhr, dass dort im Jahr 1940 mehr als 10.000 Menschen ermordet worden waren – und begann zu kombinieren. Meine Großmutter hatte offenbar einen Bruder namens Karl-Friedrich erfunden, so dachte ich, weil sie sich dafür schämte, einen „Kranken“ in der Familie zu haben.

 

 

Julia Frick: Was waren Deine ersten Schritte und Anlaufstellen?

 

Jörg Waßmer: Mein erster Schritt, nachdem ich den Zeitungsartikel gelesen hatte, war, dass ich das Samariterstift Grafeneck anschrieb. Von dort bekam ich die Auskunft, dass es keinerlei Akten aus der NS-Zeit mehr gebe und sie mir daher auch nicht weiterhelfen könnten. Ich besorgte mir dann noch die einzige Publikation, die es damals zu Grafeneck gab. Aber im Endeffekt war meine Recherche zum damaligen Zeitpunkt vorerst am Ende – bevor sie richtig angefangen hatte.

 

Erst sieben Jahre später startete ich einen neuen Anlauf. Da konnte ich mir dann Einblick in die Sterbebücher der Pfarrei seines Geburtsortes verschaffen. Und ich nahm Kontakt mit der letzten noch lebenden Halbschwester meiner Großmutter auf, mit der sie bereits viele Jahre zuvor gebrochen hatte.

 

 

Julia Frick: Was konntest Du herausfinden?

 

Jörg Waßmer: In den Sterbebüchern fand ich überraschenderweise einen Sterbeeintrag zu Alois Zähringer und zudem noch eine Notiz zu einer Heilanstalt, nämlich der St.-Josephs-Anstalt Herten. Ich wandte mich dorthin und man konnte mir bestätigen, dass mein Großonkel dort ab 1928 Patient gewesen war. Außerdem wurde mir mitgeteilt, dass und wann er von dort nach Emmendingen in eine sogenannte „Zwischenanstalt“ verlegt worden war. So konnte ich nun zumindest grob seinen letzten Weg rekonstruieren. Eine Patientenakte habe ich jedoch leider bis heute nicht, was insofern erstaunlich ist, als dass Alois‘ Name in der International Claims List auftaucht – die ja wiederum auf den Namen der Opfer beruht, zu denen im Bundesarchiv Akten vorhanden sind.

 

Letztlich war es dann meine Großtante Margarethe, die Licht ins Dunkel brachte, als ich sie etwa fünf Jahre nach dem Tod meiner Großmutter kontaktierte. Sie erzählte mir, dass meine Großmutter, die ganze neun Jahre älter gewesen war als Alois, oft auf ihren kleinen Bruder aufpassen musste. Eines Tages sei es dabei zu einem Unfall gekommen: Als sie Alois auf dem Arm hielt, fiel er ihr herunter, was offenbar zu einer schweren Verletzung mit bleibenden Folgen führte.

 

Ich vermute stark, dass meine Großmutter sich dadurch ihr Leben lang schuldig gefühlt hat. Schuldig an dem Unfall, schuldig an der Behinderung ihres Bruders und damit auch an seinem Tod.

 

 

„Es ist die Erinnerung um ihrer selbst Willen, die mich dazu bewegt, weiterzumachen. Ich will Alois dem Vergessen entreißen. Die Nazis haben ihn ermordet, haben ihn ausgelöscht, haben seine Spuren verwischt. Und meine Familie hat in dem Sinn kollaboriert, dass sie ihn auch „vergessen gemacht“ hat. Mir geht es darum, das nicht fortzuführen.“

 

 

Julia Frick: Wie hat Deine Familie bzw. Dein Umfeld auf Dein Engagement und auf die neuen Informationen reagiert?

 

Jörg Waßmer: Meine Großmutter hatte recht schnell begriffen, in welche Richtung meine Recherchen gehen würden, und da begann sie zu blocken. Meine Eltern hingegen haben mich von Anfang an unterstützt und waren zum Beispiel auch 1999 mit mir zusammen erstmalig in Grafeneck und später auch noch in Herten und Emmendingen.

 

Den Mut, Kontakt zu Halbgeschwistern meiner Großmutter aufzunehmen, hatte ich wie gesagt erst nach ihrem Tod. Margarethe, die mir auch von dem tragischen Ereignis in Alois‘ Kindheit erzählt hatte, schickte mir das einzige Foto, das es von Alois gibt.

 

Das Erschreckende daran ist, dass sie selbst ihn auf diesem Foto nicht wahrgenommen hat. Erst ich entdeckte den nur schemenhaft zu erkennenden Jungen am linken Bildrand. Sie bestätigte mir daraufhin, dass es sich nur um Alois handeln konnte. Für mich unterstreicht dieses Foto die ganze Geschichte auch noch einmal symbolisch: Mein Großonkel war immer abseits, ist offenbar nie Teil der Familie gewesen. Bereits als Siebenjähriger kam er in die Anstalt und lebte fortan fernab seiner Familie. Einschränkend muss ich sagen, dass nach seiner Ermordung zumindest die Urne aus Grafeneck angefordert und im Familiengrab beigesetzt wurde.

 

2010 habe ich dann vor seinem Elternhaus einen Stolperstein verlegen lassen. Dort leben heute noch Kinder eines Halbbruders meiner Großmutter, die ich demnach auch kontaktierte. Sie waren erfreulicherweise von Anfang an sehr offen. Und gerade neulich erreichte mich eine E-Mail von einem Großcousin, der jetzt – sechzehnjährig – in der Schule eine Arbeit über Alois schreiben möchte. Das hat mich extrem gefreut, da tatsächlich einmal die Initiative nicht von mir ausging!

 

 

[caption id="attachment_14060" align="aligncenter" width="432"] Ins Gedächtnis zurückgeholt: Heute liegt unweit der Stelle, an der Alois hier saß, ein Stolperstein, der an ihn und sein Schicksal erinnert.[/caption]

 

 

Julia Frick: Wie würdest Du den Einfluss beschreiben, den Deine Recherchen auf Dich selbst hatten und haben?

 

Jörg Waßmer: Meine Recherche hat mich auf jeden Fall geprägt, da ich dadurch schon früh erkannt habe, dass die NS-Verbrechen Bezug zu meiner eigenen Familiengeschichte haben. Sie blieben nichts Abstraktes für mich, ich wusste, ich bin mit dieser Geschichte verwoben, ob ich will oder nicht. Außerdem habe ich einen gesunden Zweifel entwickelt was Familiengeschichten angeht. Ich glaube, manchmal muss man Geschichten gegen den Strich lesen, um dem eigentlichen Kern auf den Grund zu gehen.

 

Meinen ohnehin schon existenten Wunsch, Geschichte zu studieren, hat diese frühe Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte sicher noch verstärkt. Meine Magisterarbeit habe ich letztlich sogar zu Grafeneck geschrieben, und heute arbeite ich als Historiker im Jüdischen Museum in Berlin. Ich glaube, dass meine eigene Rechercheerfahrung bei meiner beruflichen Tätigkeit von Vorteil ist, da sie mich sensibilisiert hat. Denn auch wir bekommen ja viele Anfragen von forschenden Familienangehörigen.

 

 

Julia Frick: Was treibt Dich und Deine Arbeit an?

 

Jörg Waßmer: Manchmal fühle ich mich tatsächlich regelrecht als Getriebener, kann schlecht aufhören, weil ich immer denke, dass ich vielleicht noch etwas finde. So habe ich ja bis heute kein Porträt von ihm – und ich gäbe viel dafür, eines zu haben. Es ist diese Hoffnung, dass so ein Foto vielleicht noch in irgendeinem Archiv schlummert und nur darauf wartet, gefunden zu werden, die mich immer wieder antreibt.

 

Ansonsten ist es einfach die Erinnerung um ihrer selbst Willen, die mich dazu bewegt, weiterzumachen. Ich will Alois dem Vergessen entreißen. Die Nazis haben ihn ermordet, haben ihn ausgelöscht, haben seine Spuren verwischt. Und meine Familie hat in dem Sinn kollaboriert, dass sie ihn auch „vergessen gemacht“ hat. Mir geht es darum, damit zu brechen, das nicht fortzuführen.

 

Außerdem ist es mir wichtig, öffentlich an ein Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, das verhältnismäßig wenig Spuren hinterlassen hat. Ursächlich hierfür ist vor allem, dass er seit frühen Kindertagen eine schwere Behinderung hatte und deshalb auch mehr als die Hälfte seines Lebens hinter Anstaltsmauern verbrachte. Alois hatte keinen Beruf, hat keine Familie gegründet, er ist deshalb so wenig fassbar.

 

In „Euthanasie“-Gedenkstätten liegt der Fokus oft auf Menschen, zu denen viel Material vorhanden ist und zu denen man viel erzählen kann. Das ist ja einerseits auch notwendig, wenn man Besucher dazu anregen will, sich mit jemandem ein Stück weit zu identifizieren. Aber andererseits ist es auch ein Dilemma, denn solche Opfer wie Alois, über die es nur wenige Informationen gibt, die fallen sozusagen hinten herunter.

 

 

Hier können Sie die ausführliche und von Jörg Waßmer verfasste Biografie Alois Zähringers lesen.

 

 

 

Frühjahrstagung des AK NS-Euthanasie in Werneck

Wo: Guddensaal, Krankenhaus Schloss Werneck

Wann: 19.-21.5.2017

 

[caption id="attachment_14042" align="aligncenter" width="300"] Der Tagungsort Schloss Werneck CC-BY-SA 4.0 Rainer Lippert[/caption]

 

Der Arbeitskreis zur Erforschung der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen trifft sich jährlich zweimal – und das seit 1983. Er dürfte damit einer der langlebigsten Zirkel sein, der in einer solchen Intensität zu einem eingegrenzten Themenfeld arbeitet. „Eingegrenzt“ trifft es dann aber auch nicht wieder ganz, denn jede Tagung ist eine kleine Wundertüte, und man ist immer wieder erstaunt, wie viele engagierte Forschende es vor Ort schaffen, Quellen zu sichern, sie zu analysieren und sie Interessierten nahezubringen. Auch diese Tagung hat wieder einige sehr spannende Vorträge zu bieten, aus dem reichhaltigen Programm sei hier nur beispielsweise der von Christian Marx zur Öffnung der Gedenkstätte Brandenburg/Havel für Menschen mit Lernschwierigkeiten herausgegriffen. Die Organisatoren der Tagung, das Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und psychosomatische Medizin Schloss Werneck und das Bildungswerk Irsee greifen auch dankenswerter Weise die schon bei den letzten Tagungen merkbare Transformation der Erinnerungsarbeit durch Angehörige der dritten und vierten Generation auf.

 

Hier das Programm mit Anmeldebogen

 

 

Rezension: „24 Wochen“

von Stana Schenck

 

Auf der Berlinale 2016 lief der Film „24 Wochen“ als einziger deutscher Wettbewerbsbeitrag. Der offizielle Text zum Film beschreibt die Handlung so:

„Astrid und Markus stehen mit beiden Beinen fest im Leben. Astrid lebt und liebt ihren Beruf als Kabarettistin, ihr Mann und Manager Markus unterstützt sie besonnen und liebevoll. Doch als die beiden ihr zweites Kind erwarten, wird ihr Leben aus der Bahn geworfen: Bei einer Routineuntersuchung erfahren sie, dass das Baby schwer krank ist. Die Diagnose trifft sie wie das blinde Schicksal, das sie auf sich nehmen müssen. Gemeinsam wollen sie lernen, damit umzugehen. Doch während Heilungspläne, Ratschläge und Prognosen auf sie niederprasseln, stößt ihre Beziehung an ihre Grenzen. Die Suche nach der richtigen Antwort stellt alles in Frage: die Beziehung, den Wunsch nach einem Kind, ein Leben nach Plan. Je mehr Zeit vergeht, desto klarer erkennen sie, dass nichts und niemand ihnen die Entscheidung abnehmen kann, die eine Entscheidung über Tod und Leben ist.“

 

Am 28. April 2017 erhielt der Film die Silberne Lola. „24 Wochen“ ist damit offiziell der zweitbeste deutsche Film der Saison und wird bald zur besten Sendezeit im ZDF laufen.

 

Im Programmhefter der Berlinale wurde das Ende des Films nicht verraten: wird Astrid, die ein Kind mit Down Syndrom erwartet, dieses Kind abtreiben, oder nicht? Und so hatte ich große Hoffnungen. Dass es gut ausgeht. Dass die Filmfamilie es schafft, dieses Kind zu bekommen. „24 Wochen“ will aber authentisch und realistisch sein. Es kommt daher anders, als ich es mir wünschen würde.

 

[caption id="attachment_14020" align="aligncenter" width="300"] Film Still 24 Wochen[/caption]

 

 

Zunächst habe ich mich dagegen entschieden, den Film anzusehen. Und dann plötzlich, begegnete mir „24 Wochen“ dort, wo ich es am wenigsten erwartet hätte: in meiner slowakischen Heimatstadt. Ein einzelnes Poster, das ich zufällig entdeckt habe, wies auf das Filmfestival  B2C hin. Unter den vertretenen Filmen aus Cannes und der Berlinale 2016 war auch „24 Wochen“, der an genau dem kalten Herbsttag gezeigt wurde. Das war kein Zufall. Mein Mann und ich sollten reingehen.

 

Wir wussten während meiner Schwangerschaft nicht, ob unser Kind eine Behinderung haben würde oder nicht. Wir wissen also nicht, wie sich ein Entscheidungsprozess wie in „24 Wochen“ anfühlt. Was wir aber wissen, ist, wie sich das Leben mit unserem bald 18-jährigen Sohn mit Down Syndrom anfühlt. Wir leben unser Leben mit einem besonderen Mehrwert. Es ist ein sehr erfülltes Leben. Dank unserer Kinder, die, jedes für sich, besondere Menschen sind. Wir fühlen uns sehr reich, sehr stolz und sehr glücklich.

 

Nun sahen wir uns gemeinsam „24 Wochen“ an und sahen ein Elternpaar, das bereits in der Schwangerschaft erfährt, dass ihr Ungeborenes das Down Syndrom hat. Diese Information wurde von den Ärzten im Film ungefragt an den Hinweis gekoppelt, dass sie das Kind bis in die späte Schwangerschaft hinein abtreiben könnten. Und so fangen Astrid und Markus an abzuwägen. Ab sofort ist das Leben ihres ungeborenen Kindes in Frage gestellt. Sie wollen möglichst viel wissen, gehen zu Fachleuten, besuchen einen Chor von Menschen mit Down Syndrom.

 

Und sie entscheiden sich zunächst für das Kind. An dieser Stelle bin ich ganz froh über die Zwischenbotschaft des Films. Wo aber „24 Wochen“ komplett versagt, ist, Menschen mit Down Syndrom als Persönlichkeiten abzubilden. Die Regisseurin Anne Zohra Berrached hat keine Idee von der Vielfältigkeit und der Lebenslust dieser Menschen. Wir lernen in ihrem Film keinen Menschen mit Down Syndrom näher kennen. Sie bleiben eine Momentaufnahme, festgehalten durch die Filmszene im Chor, sie sind für den Zuschauer nicht greifbar. Eine vertane Chance angesichts des weiteren Verlaufs der Geschichte.

 

„24 Wochen“ hat einen starken Fokus auf die Mutter. Die Rolle ist vielschichtig, Astrid wird in ihrer Komplexität durch Julia Jentsch, sicher zurecht gelobt, in allen ihren Facetten als Mutter eines 4-jähriges Kindes mit einem interessanten Beruf, als Ehefrau und Tochter hervorragend dargestellt.  Ihre Zerrissenheit, das Wechselbad der Gefühle ist glaubwürdig. Dennoch nimmt Astrid immer mehr Abstand zu der, mit ihrem Mann Markus gemeinsam getroffenen Entscheidung, das Kind bekommen zu wollen. Als die Eltern erfahren, dass das Kind auch noch einen schweren Herzfehler hat, rückt die Mutter ganz von der Möglichkeit ab, ihr Kind auszutragen. Anne  Zohra Berrached will unbedingt glaubhaft machen, dass die Entscheidung alleine die Mutter treffen kann und darf. Nur worauf begründet sich diese Entscheidung? Da der Zuschauer zuvor keinen ebenso vielschichtigen Menschen mit Down Syndrom kennenlernen durfte, keine Familie mit einem Kind mit Behinderung zur Sicht bekam, den Hauptfiguren keine Eltern von Kindern mit Down Syndrom und einem Herzfehler begegneten, bleibt die Meinung der Ärzte und damit die medizinische Sicht auf das Leben omnipräsent.

 

Mich erschreckt die Szene sehr, in der Astrid und Markus zwei Herzspezialisten gegenüber sitzen. Die Experten werden von echten Ärzten gespielt. Es gibt kein Drehbuch zu ihren Texten. Sie sprechen das, was sie in solchen Situationen immer sagen. „Sie müssen wissen, dass sie mit dieser Belastung ihr ganzes Leben lang zu tun haben werden“ – sagt einer der Ärzte.

Nein!“– geht mir durch den Kopf. So manipulativ darf ein Arzt nicht sprechen! Er muss sachlich aufklären, erläutern, welche Eingriffe, Operationen geplant sind. Er darf aber das Kind NICHT als Belastung werten, er darf nicht das Leben mit einem Kind mit Behinderung für die Eltern vorverurteilen!

 

Ob es der Herzfehler, das Down Syndrom oder beides war, weshalb Astrid letztlich abgetrieben hat, bleibt, nach ihrer ursprünglichen Entscheidung, ein Kind mit DS bekommen zu wollen, unklar. In der Realität ist ein Herzfehler als Grund für Abtreibung kaum Gegenstand des Diskurses zur Pränataldiagnostik. Das Down Syndrom dagegen steht im Mittelpunkt. In 95 von 100 Fällen, in denen in der Schwangerschaft das Down Syndrom beim Kind festgestellt wird, wird eine Abtreibung vorgenommen.

 

Eigentlich wäre für mich der Film an der Stelle zu Ende, als Astrid ihre Koffer packte und in die Klinik fuhr. Wir wurden aber mitgenommen, sind mit Astrid gemeinsam den Weg bis in den Kreissaal hinein gegangen. Wir sahen die Kaliumspritze, die für das kleine Herz bestimmt war und wir sahen den Wehen zu, die das tote Baby durch den Geburtskanal leiteten. Wir nahmen Abschied von dem Bündel, das Astrid nach der Totgeburt auf den Arm nahm. Wir sahen sie traurig zuhause aufwachen ohne Bauch und ohne Kind. Da liefen mir längst schon die Tränen und ich dachte an unseren Sohn, der so ein wunderbarer Mensch ist.

 

Ja, es war mutig, die Spätabtreibung fast dokumentarisch in einen Spielfilm einzubauen. Aber spätestens jetzt wäre es gut gewesen, einen Schlusspunkt zu setzen und die Zuschauer damit alleinzulassen, was da gerade geschah. Es wäre besser gewesen, wenn „24 Wochen“ keine Position bezogen hätte. Leider wollte Anne Zohra Berrached uns unbedingt ihre Wertung unterschieben, indem sie ihre Astrid (die als öffentliche Person kurz nach der Spätabtreibung ein Interview gibt) klar, selbstbewusst und sogar leicht lächelnd in die Kamera sagen lässt: „ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht war, es war von allem etwas“. Diese Ambivalenz tut weh, sie ist für mich kaum auszuhalten. Der letzte Satz ist ein Statement und er nimmt den Zuschauern das eigene Urteil vorweg ohne eine reale und authentische Vorstellung vom Leben mit Behinderung mitzuliefern.

 

„24 Wochen“ ist trotz seines heftigen, aufwühlenden Inhalts ein Verstärker von Vorurteilen den Menschen mit Behinderung gegenüber.  „24 Wochen“ wird gefeiert. Ich feiere nicht mit.

 

 

Stana Schenck arbeitet seit 2010 in der AG Gedenkort-T4.eu mit. Sie war für die Durchführung des Wettbewerbs „andersartig gedenken on stage“ verantwortlich. Sie ist gebürtige Slowakin und lebt mit ihrem Mann Stefan und ihren fünf Kindern, darunter einem Jungen mit Down Syndrom, in Berlin.

 

Konferenz: Die Vision vom gesunden Menschen – Zum Diskurs über Prädiktion und Gentherapie

Wann: 9. bis 10. Juni 2017 Wo: Erinnerungs-, Bildungs- und Begenungsstätte Alt Rehse Flyer, Programm, Anmeldung   Die Möglichkeiten der Gendiagnostik und der Gentherapie werden unser Verständnis von Gesundheit und Krankheit, unseren Umgang damit und letztlich das Verständnis, was der Mensch ist, entscheidend verändern. Die genetische Diagnostik eröffnet die Möglichkeit der individuell maßgeschneiderten und damit  Continue Reading »

Buchprojekt zur Reichshebammenführerin

Die Neubrandenburger Pflegehistorikerin Anja K. Peters hat eine Crowdfunding-Kampagne gestartet, um ihre Doktorarbeit über die „Reichshebammenführerin“ Nanna Conti (1881-1951) als Buch herausgeben zu können. Conti war als Leiterin der „Reichshebammenschaft“ wie als Mutter des „Reichsärzte- und -gesundheitsführers“ Leonardo Conti in die mörderische Gesundheitspolitik des Deutschen Reichs involviert.

[caption id="attachment_14006" align="aligncenter" width="242"] Nanna Conti. Quelle: Communications of the International Midwives‘ Union. No 7 1938, S. 8.[/caption]

Im September 1941 sandte Leonardo Conti ein Rundschreiben an die Reichsstatthalter, Regierungspräsidenten, den Berliner Polizeipräsidenten, den dortigen Oberbürgermeister sowie an alle Gesundheitsämter. Darin bemängelte er, dass die Meldungen „missgebildeter“ Neugeborener durch Hebammen nur spärlich eingehen würden. Möglicherweise kamen viele Hebammen der Meldepflicht nicht nach, da sie befürchteten, das Vertrauen ihrer Patientinnen in den meist ländlichen, überschaubaren Gemeinschaften zu verlieren.  Gleichzeitig wies Leonardo Conti jedoch darauf hin, dass in einigen Bezirken die Hebammen eifrig Kinder meldeten. Wie viele Kinder von Hebammen als „erbkrank“ denunziert wurden, lässt sich in Zahlen derzeit nur punktuell darstellen: Im thüringischen Hauptstaatsarchiv in Weimar liegen vereinzelte Abrechnungen vor. So beantragte der Amtsarzt von Eisenach 1942 die Barerstattung von jeweils RM 2,- für die Hebammen Lina Arndt und Luise Meisterhagen, die je ein Kind gemeldet hatte. Als „Art der Mißbildung“ wurden „Hermaphroditismus maskularis pseudo“ [sic] und „Hydrocephalus“ angegeben.  Aus den vorliegenden Akten kann derzeit nicht geschlossen werden, ob sich die Hebammen der Konsequenzen ihrer Meldungen voll umfänglich bewusst waren.

Gleiches gilt für Nanna Conti. In einem Brief schrieb sie 1946 über ihren Sohn:

 

(…) Ich nehme an, daß man meinem Sohn die Euthanasie, auf ausdrücklichen Befehl von Adolf Hitler durchgeführt, aber auch seiner eigenen Überzeugung entsprechend, als „Massenmord“ anrechnete und, da auch einige russische Geisteskranke getötet oder erlöst [sic] waren, Rußland als Ankläger auftrat. Vielleicht sollte er auch nach Rußland ausgeliefert werden. Etwa am 1. Okt. war das „Urteil Hadamar“. Da sagte ich mir:“ Mein armer Junge! Das ist auch dein Todesurteil!“ (…)

 

Allerdings kann sie auch nicht völlig unwissend gewesen sein, wie ein weiter Abschnitt desselben Briefes belegt:

 

(…) Mein Sohn nahm es im übrigen mit der Schweigepflicht sehr genau; er sprach nicht mit mir über solche Dinge, ausgenommen die letzte große Aussprache im April unter vier Augen, als er sein ganzes Herz ausschüttete. Aber andere sprachen mit mir über alles, vielleicht in der Meinung, daß ich ohnehin unterrichtet wäre. (…)

 

Wenn sie aber, wie hier angedeutet wird, von den Morden wusste und dennoch die Einbindung der Hebammen dabei durch die Meldepflicht unterstützte, muss sie als Reichshebammenführerin nach ihrem eigenen Amtsverständnis für die daraus resultierenden Morde verantwortlich gemacht werden. Zu diesem Schluss allerdings kam Nanna Conti – zumindest in den vorliegenden Unterlagen – nie. Sie verdrängte vielleicht auch Wissen oder zumindest den Gedanken an die tatsächliche Umsetzung der von ihr propagierten „ Notwendigkeit aller bevölkerungspolitischen Maßnahmen“. Der Verleger der Hebammenzeitschrift, Kurt Zickfeld, schrieb später:

Nur ganz am Schluß des Krieges im Frühjahr 1945 hat Frau Conti einmal anklingen lassen, dass sie um ihren Sohn, den Reichsärzteführer Leonardo Conti, Angst habe. Aber auch, dass viele Dinge, die sie von ihm erfahren hatte, so schrecklich waren, dass sie sie lieber nicht erzählen wollte und auch lieber nicht daran denken wollte.

 

Alle Quellenangaben bei Anja K. Peters.

Informationen zur Verfasserin unter www.anja-peters.de

Der Link zur Crowdfunding-Kampagne: https://www.startnext.com/nanna-conti

 

„Das Kapitel ist noch nicht abgeschlossen“ – Ulrich Raschkowski und sein Onkel Kurt Georg Vogt

Ulrich Raschkowski (Jg. 1945) ist pensionierter Lehrer aus Wolfsburg und der Neffe von Kurt Georg Vogt, der 1941 in Pirna-Sonnenstein ermordet wurde. Vor sieben Jahren hat sich Ulrich Raschkowski auf die Suche nach den Spuren seines Onkels begeben.       Julia Frick: Wann haben Sie begonnen, über das Schicksal Ihres Onkels nachzuforschen? Können Sie sich  Continue Reading »

Dorothea Buck zum 100. Geburtstag – eine Würdigung

 

Heute, am 5. April 2017 wird Dorothea Buck 100 Jahre alt. Ein stolzes Alter, das eine Würdigung ihrer Person bzw. den Versuch, einen Blick auf ihr Lebenswerk zu richten, geradezu einfordert. Letzteres ist aber gar nicht so einfach, da Dorothea Bucks Wirken und ihr Lebenswerk sehr umfangreich und vielfältig sind. Es lässt sich nicht reduzieren auf ihre Erfahrung, in den 1930er und 1940er Jahren aufgrund mehrerer psychotischer Schübe in  Heilanstalten in Behandlungen erlebt zu haben, die wir heute als „Misshandlung“((Diese Einordnung und Wertung wird von der Autorin dieses Blogbeitrags vorgenommen, die zudem darauf verweist, dass keine der genannten „Behandlungsformen“ ausschließlich während der Nazizeit auftraten, sondern sowohl VOR 1933 als auch NACH 1945 angewandt worden sind. Es waren keine nationalsozialistischen Erfindungen, wenn man so will. Eugenisches Denken, das die Abwertung von Menschen mit Beeinträchtigung beinhaltete (Stichwort „lebensunwertes Leben“), ging dem Nationalsozialismus voraus – wenngleich auch dieses die Diskriminierung und Abwertung beeinträchtigter Menschen nur bedingt erklären kann. )) verstehen und auch so benennen sollten, u.a. Dauerbäder, Kaltwasserkopfgüsse, „nasse Packungen“, Zwangsmedikation (Cardiazol-Schocktherapie, später auch Neuroleptikagaben), angeordnete Sprachlosigkeit und Redeverbot, Elektroschocks, Insulin-Koma-„Behandlung“, Zwangssterilisation, dann kamen noch dazu: Berufswahlverbot, Heiratsverbot).((Wer sich mit Psychiatriegeschichte nicht auskennt, weiß kaum, was hinter dem scheinbar so harmlos klingenden Be-griff wie der „nassen Packung“ zu verstehen ist. In ihrer „Eröffnungsrede zur Einweihung des Mahnmals für die in Bethel von 1934 bis 1945 zwangssterilisierten Menschen“ schreibt Dorothea Buck: „An der hellgrünen Wand mir ge-genüber stand in großer Schrift das Jesuswort »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!« Erquicken nicht mit einem freundlichen Wort, um unsere Angst vor der ungewohnten Einsperrung zu nehmen, oder durch ein Aufnahmegespräch, das es hier nicht gab. Erquicken nicht mit einer Beschäftigung, sondern »erquicken« mit den hier üblichen Kaltwasserkopfgüssen; Dauerbädern, in denen ich unter einer über die Wanne ge-spannten Segeltuchplane 23 Stunden von einer Visite zur nächsten lag. Mein Hals war in einem steifen Stehkragen ein-geschlossen. »Erquicken« mit der gefürchteten »nassen Packung«, in kalte, nasse Tücher so fest eingebunden, dass man sich nicht mehr bewegen konnte. Die Tücher wurden durch die Körperwärme erst warm, dann heiß. Ich schrie vor Empörung über diese unsinnige Fesselung in den heißen Tüchern. Dass Bethel das Vernünf[t]ige und Natürliche wie Gespräche und Beschäftigung durch diese quälenden Beruhigungsmaßnahmen mit ausschließlichem Strafcharakter er-setzte und das unter dem Jesuswort, fand ich so unheimlich, dass ich allen Ernstes glaubte, hier dem Teufel, den Jesus als den »Vater der Lüge« bezeichnet hatte, ausgeliefert zu sein.“ Quelle: http://www.bpe-online.de/infopool/geschichte/pb/buck_verleugnet.htm (Abruf: 1.4.2017).))

[caption id="attachment_13991" align="aligncenter" width="300"] Dorothea Buck und Senatorin Cornelia Prüfer-Storcks.: BGV/Ahrendt[/caption]

 

Zu Dorothea Buck können viele verschiedene Verdienste und Lebensleistungen angeführt werden, u.a. ihr gesellschaftspolitisches Engagement (sie hat den „Bund der Euthanasiegeschädigten und Zwangssterilisierten“ und auch den Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. mitgegründet), ihre menschenrechtsorientierte Selbstvertretung und zahlreichen Initiativen, kritischen Briefe und Stellungnahmen, mit denen sie sich an Ärzt*innen, Politik und Gesellschaft für die Anerkennung des erlittenen Unrechts der Opfer von NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen wandte und sich für Ächtung psychiatrischer Gewalt einsetzte, ihre künstlerischen Arbeiten als Bildhauerin und Malerin, und sie ist auch als Theoretikerin zu entdecken (insb. zu Gesundheits- und Krankheitstheorien, speziell: Genesungsprozessen bei psychotischen Erkrankungen, Selbsthilfe-Potenzialen, aber auch Anforderungen stationärer psychiatrischer Behandlung).

 

Diesem Aspekt widmet sich aktuell ein Buchprojekt, das v.a. Betroffene von psychischer Erkrankung zu Wort kommen lässt, die sich anlässlich des 100. Geburtstags von Dorothea Buck unter dem Stichwort „Psychose als Selbstfindung“ mit ihr auseinandersetzen: Im Aufruf zur Beitragseinreichung heißt es: „Dorothea Buck ist schon längst berühmt, aber als originelle Denkerin ist sie wohl erst noch richtig zu entdecken.“((Vgl. den Aufruf zur Beitragseinreichung für die Fest- und Feierschrift anlässlich Dorothe Bucks 100. Geburtstag: http://files.feedplace.de/vielfalter/fest_und_feierschrift.pdf (Abruf: 1.4.2017).))

Ihre zentralen Themen waren und sind u.a. Würde, Selbstbestimmung, Freiheit von Zwang und psychiatrischer Gewalt, respektvolle Kommunikation, Dialog und Trialog, Freiheit von ungewollter Medikation, Gedenken und Einforderung der Aufarbeitung gesellschaftlichen Unrechts aus der Zeit des Nationalsozialismus. Einer angemessenen Würdigung von Dorothea Bucks „Lebenswerk“ komme ich mit meinen wenigen Stichpunkten wohl nicht einmal ansatzweise nahe, da dieses sehr vielschichtig ist und noch viele Aspekte zu entdecken und herauszuarbeiten sind. Ich verweise im Folgenden deshalb auf einige Links, wo die Auseinandersetzung mit ihr bei Interesse vertieft werden kann:

 

Unter dem Link http://www.peter-lehmann.de/termine/2017-04-06.pdf ist das Programm des „Trialogischen Symposiums zum 100. Geburtstag von Dorothea Buck. Auf der Spur des Morgensterns. Menschenwürde und Menschenrechte in der Psychiatrie“ einzusehen, das morgen (am 6. April 2017) an der Universität Hamburg stattfinden wird. Es werden wichtige Etappen ihres Lebens nachgezeichnet, Perspektiven für Akutpsychiatrie, Eingliederungshilfe, Peer-Arbeit und Zusammenleben nach den Maßstäben von Dorothea Buck aufgezeigt. Dorothea Buck wird per Skype zugeschaltet sein, zudem werden Film-Ausschnitte von der Regisseurin des Films über Dorothea Buck „Himmel und mehr“, Alexandra Pohlmeier, gezeigt.

 

Auf der Webseite des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) finden sich die wohl umfassendsten Informationen zu ihrem Leben und Wirken (Biographisches, Veröffentlichungen von und über sie, Gratulationen und Auszeichnungen, etc.): http://www.bpe-online.de/buck Die Seite wird von Peter Lehmann betreut und stets aktualisiert.

 

Schließlich möchte ich auch noch auf die Webseite der Stadt Hamburg verweisen, die Dorothea Buck am 22. Februar 2017 die höchste Hamburger Auszeichnung verliehen hat: die „Medaille für Treue Arbeit im Dienste des Volkes“ in Silber für ihr Lebenswerk: http://www.hamburg.de/pressearchiv-fhh/8217658/2017-02-22-bgv-dorothea-buck/ Eine berührende Laudatio der Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks ist dort ebenfalls abrufbar.

 

Dorothea Buck gehört zu der Gruppe der so genannten „vergessenen“ bzw. „verleugneten Opfer“, über die – gerade auch um den 27. Januar dieses Jahres herum viel gesprochen wurde. Seit 1996 gilt der 27. Januar als gesetzlich verankerter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Der Deutsche Bundestag widmet sich in einer Gedenkstunde jedes Jahr einer bestimmten Gruppe oder einem besonderen Aspekt der Erinnerung und des Gedenkens. 2017 standen als Opfergruppe zum ersten Mal Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Erkrankungen, Beeinträchtigungen oder Behinderungen (sowie Menschen, die derart diagnostiziert und stigmatisiert wurden), und die von Ärzten und medizinischem Pflegepersonal im Namen eugenischer Vorstellungen während der Naziherrschaft zwangssterilisiert, psychisch und körperlich misshandelt, für Menschenversuche missbraucht und/oder ermordet wurden, im Fokus des offiziellen Gedenkens.((Eine Dokumentation der Gedenkstunde im Bundestag findet sich (inklusive Fotos, Redebeiträgen und Video-Aufzeichnung) unter folgendem Link: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw04-de-gedenkstunde/490478 (Abruf: 4.2.2017).))

 

Der Deutsche Bundestag hat die Überlebenden der Zwangssterilisationen bis zum heutigen Tag jedoch immer noch nicht offiziell als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Es gibt immer noch Überlebende der „Aktion T4“: „Euthanasie“-geschädigte und zwangssterilisierte Menschen. Wir sollten nicht warten, bis die Betroffenengruppe verstorben ist.

 

100 Jahre sind ein stolzes Alter. Ich gratuliere Dorothea Buck von Herzen.

 

Autorin:

Eva Buchholz

 

Eva Buchholz, M.A. (Jg. 1978). Politikwissenschaftlerin, psychiatrieerfahren aufgrund mehrerer Episoden schwerer Depression, mehrfach chronisch krank. Gesundheitspolitische Referentin bei der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. – ISL. Mitglied u.a. im Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. (BPE) und im Berliner Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen e.V. (BZSL), Gründungsmitglied des Förderkreises Gedenkort T4 e.V. und dort Initiatorin und Leiterin des Arbeitskreises „Was vor 1933 begann und mit dem Jahr 1945 noch nicht zu Ende gekommen ist“.

Kontakt: respekt-und-menschenrechte@web.de

 

 

 

[1]     Wer sich mit Psychiatriegeschichte nicht auskennt, weiß kaum, was hinter dem scheinbar so harmlos klingenden Begriff wie der „nassen Packung“ zu verstehen ist. In ihrer „Eröffnungsrede zur Einweihung des Mahnmals für die in Bethel von 1934 bis 1945 zwangssterilisierten Menschen“ schreibt Dorothea Buck: „An der hellgrünen Wand mir gegenüber stand in großer Schrift das Jesuswort »Kommet her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken!« Erquicken nicht mit einem freundlichen Wort, um unsere Angst vor der ungewohnten Einsperrung zu nehmen, oder durch ein Aufnahmegespräch, das es hier nicht gab. Erquicken nicht mit einer Beschäftigung, sondern »erquicken« mit den hier üblichen Kaltwasserkopfgüssen; Dauerbädern, in denen ich unter einer über die Wanne gespannten Segeltuchplane 23 Stunden von einer Visite zur nächsten lag. Mein Hals war in einem steifen Stehkragen eingeschlossen. »Erquicken« mit der gefürchteten »nassen Packung«, in kalte, nasse Tücher so fest eingebunden, dass man sich nicht mehr bewegen konnte. Die Tücher wurden durch die Körperwärme erst warm, dann heiß. Ich schrie vor Empörung über diese unsinnige Fesselung in den heißen Tüchern. Dass Bethel das Vernünf[t]ige und Natürliche wie Gespräche und Beschäftigung durch diese quälenden Beruhigungsmaßnahmen mit ausschließlichem Strafcharakter ersetzte und das unter dem Jesuswort, fand ich so unheimlich, dass ich allen Ernstes glaubte, hier dem Teufel, den Jesus als den »Vater der Lüge« bezeichnet hatte, ausgeliefert zu sein.“

Quelle: http://www.bpe-online.de/infopool/geschichte/pb/buck_verleugnet.htm (Abruf: 1.4.2017).

[2]     Weitere Infos, insb. auch über den Kampf um Anerkennung dieser Opfergruppe siehe https://www.euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de

[3]     Vgl. den Aufruf zur Beitragseinreichung für die Fest- und Feierschrift anlässlich Dorothe Bucks 100. Geburtstag:  http://files.feedplace.de/vielfalter/fest_und_feierschrift.pdf (Abruf: 1.4.2017).

[4]     Eine Dokumentation der Gedenkstunde im Bundestag findet sich (inklusive Fotos, Redebeiträgen und Video-Aufzeichnung) unter folgendem Link: https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw04-de-gedenkstunde/490478 (Abruf: 4.2.2017).

Keine Ehrung für Robert Rössle

In Berlin-Buch ist eine Straße nach Robert Rössle benannt. Im Skulpturenpark des Wissenschaftscampus wird durch einen Bronzekopf zusätzlich an ihn erinnert. Es gibt öffentlich zugängliche Hinweise, dass der Geehrte ein Verfechter der nationalsozialistischen Ideologie war, für den sich eine derartige öffentliche Ehrung verbieten sollte. Allerdings blieben mehrere Anschreiben an das Bezirksamt Pankow, in denen um eine Umbenennung gebeten wurde, bisher unbeantwortet.

[caption id="attachment_13965" align="aligncenter" width="211"] Büste des Pathologen Robert Rössle. Geschaffen 1960 von Gerhard Thieme. Standort auf dem biomedizinischen Campus Berlin-Buch vor der Robert-Rössle-Klinik.
6 July 2010 CC BY 3.0. DE Axel Mauruszat[/caption]

Robert Rössle war Pathologe und Anatom. Ab 1929 hatte er in Berlin den Lehrstuhl für Pathologie an der Charité inne. Eines seiner Arbeitsgebiete war die Pathologie der Familie, die er durch Leichensektionen an ganzen Familien studierte. Im Nationalsozialismus hatte er dazu besonders viele Gelegenheiten und nützte, wie er es in einer seiner Publikationen selbst ausdrückte, „die plötzlichen Massentodesfälle in Familien“ aus (aus R. Rössle, Virchows Archiv Bd. 308, 495ff, 1942). Weshalb damals ganze Familien den Freitod wählten, ist hinlänglich bekannt.

 

Im Jahr 1942 war Robert Rössle bereits 66 Jahre. Er hätte sich emeritieren lassen können. Er ließ sich jedoch in den wissenschaftlichen Senat des Heeressanitätswesens berufen, wo er die Folgen von Luftstoßschäden und der Druckfallkrankheit untersuchte. Für wie wichtig er seine zweifelhafte Arbeit hielt, wird in folgendem Zitat deutlich: „Bei dem Gewicht, welches die staatiche Gesundheitsführung heute der Erhaltung und Förderung gesunder Sippen, der Ausmerzung Iebensunwerten Erbgutes beimißt, sollte der Beitrag, den die Pathologischen Institute durch ihre Arbeit zur Klärung erbpathologischer Zusammenhänge zu leisten vermögen, nicht unterschätzt werden.“ (aus R. Rössle, Virchows Archiv Bd. 308, 485ff, 1942).

 

Für „die Ausmerzung lebensunwerten Erbgutes“ war Karl Brandt, einer der Hauptverantwortlichen der Aktion T4,  zuständig. Der war nicht nur Hitlers Begleitarzt, sondern führte den verschleiernden Titel Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen. Rössle wurde 1944 in den wissenschaftlichen Beirat von Brandts Generalkommissariat berufen. Dem wissenschaftlichen Kuratorium des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung, das aktiv an der T4-Aktion beteiligt war, gehörte Rössle bereits ab 1932 ununterbrochen an.

 

Robert Rössle ist wahrscheinlich kein NSDAP-Mitglied gewesen. Dennoch machen ihn seine aktive Laufbahn in herausgehobener Position, seine Beteiligung an Menschenversuchen für die Luftwaffe und seine Nähe zum Krankenmord der Nationalsozialisten zu einem Mittäter der NS-Greuel, nach dem keine Straße benannt werden darf. Zu einer ähnlichen Einschätzung kam auch Prof. Thomas Beddies vom Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité. Er bestätigte in einer ersten historischen Einordnung, dass „Hinweise auf eine NS-Belastung vorhanden sind, die es aus heutiger Sicht undenkbar erscheinen lassen würden,“ Robert Rössle „durch die Benennung einer Klinik oder einer Straße positiv herauszustellen“.

 

Als Ärztin ist es mir ein Anliegen, dass die Adresse einer renommierten medizinischen Forschungseinrichtung (Max-Delbrück-Centrum, Robert-Rössle Str. 10, 13125 Berlin) nicht den unrühmlichen Namen eines Mannes in die Welt trägt, der mit den menschenverachtenden Taten der Nationalsozialisten in Zusammenhang steht. Das im Skulpturenpark des Campus Berlin-Buch befindliche Mahnmal „Zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Euthanasieverbrechen“ von Anna Franziska Schwarzbach wird, meines Erachtens, durch die gleichzeitige Präsenz des Bronzekopfes von Robert Rössle entwertet. Meine Großmutter, Katharina von Keutz, war eines von Tausenden Opfern der „T4-Aktion“. Auch ihr bin ich es schuldig, dass ich mich dafür einsetze, dass niemand, der mit diesen abscheulichen Taten in Verbindung stand, heute noch geehrt wird.

 

Dr. Ute Linz, 12621 Berlin

 

„Vergangenheit und Gegenwart sind nicht zu trennen“

Johanna Herzing (Jg. 1982) ist Kulturwissenschaftlerin und Hörfunk-Journalistin. Sie widmet sich beruflich überwiegend politischen und historischen Fragestellungen sowie der Region Ostmitteleuropa. Das Schicksal ihrer Urgroßtante Gertrud Ferchland, die 1943 in der Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde ermordet wurde, hat sie in einem Feature für den Deutschlandfunk verarbeitet.

 

 

[caption id="attachment_13942" align="alignnone" width="476"] Johanna Herzing und ihre Urgroßtante Gertrud „Trude“ Ferchland.[/caption]

 

 

Julia Frick: Wann haben Sie begonnen, über das Schicksal der Schwester Ihrer Urgroßmutter nachzuforschen? Können Sie sich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn Ihrer Recherchen war?

 

Johanna Herzing: Beschäftigt haben mich meine Urgroßtante Trude und ihre Familie schon lange. Das ist aus verschiedenen Gründen eine spannende Familiengeschichte, die mir meine Großmutter schon nahegebracht hat, als ich noch ein Kind war. Trude, so hieß meine Urgroßtante, hatte in den Erzählungen immer einen festen Platz. Meine Großmutter hat ihre Tante sehr bewundert. Trude, so hieß es immer, sei so schlau gewesen, so gebildet, so fleißig; eine Lehrerin, aber in gehobener Position, in der Lesebuchkommission aktiv usw. Eine ledige Frau, die ihre Angehörigen (Schwester, Neffen, Nichten) auch finanziell unterstützt hat. Das wurde alles oft und gern wiederholt. Auf diese Lobrede folgte dann immer deutlich knapper und mit Bitterkeit der Satz: „Die Nazis haben die Trude in der Nervenklinik verhungern lassen“. Ich habe das lange nicht hinterfragt.
Als meine Großmutter starb, tauchte plötzlich ein Koffer mit Dokumenten auf – darin die Sterbeurkunde von Trude. Im Internet fand ich dann sehr schnell mehr heraus über die dort genannte „Heil- und Pflegeanstalt Meseritz-Obrawalde“, der Ort, an dem Trude gestorben war. Auf einmal wurde alles viel konkreter. Ich glaube, ich hatte Trudes Tod lange Zeit nicht als gezielte Tötung betrachtet, sondern vielleicht eher als eine Art schlimme, aber letztlich nicht planvolle Fahrlässigkeit, die der NS-Ideologie entsprach und entgegenkam.

 

 

Julia Frick: Was waren Ihre ersten Schritte und Anlaufstellen?

 

Johanna Herzing: Schon vor dem „Koffer-Fund“ hatte ich von Zeit zu Zeit in Archiven und im Internet nach Spuren und Dokumenten zu Trudes Familienzweig gesucht. Angefragt hatte ich zum Beispiel bei mehreren Archiven, die ich den verschiedenen Wohnorten von Trude und ihrer Familie zuordnen konnte. Nachdem Trudes Sterbeurkunde aufgetaucht war, hatte ich dann neue Anhaltpunkte für die Recherche. Der Ort, an dem sie gestorben war, Meseritz, heißt heute Miedzyrzecz und liegt in Polen. Eines Tages fand ich einen Eintrag in einer polnischen Datenbank:

Die Krankenakte von Trude lagerte offenbar im Archiv von Gorzow Wielkopolski. Ich fragte beim Archiv an und bekam eine Kopie der Akte zugeschickt. Ich war sehr aufgeregt und berührt, als ich die Akte zum ersten Mal durchging. Die „Trude“ war mir eben durch die Erzählungen meiner Großmutter und ihrer Geschwister sehr präsent. Das war nicht einfach irgendeine entfernte Verwandte! Ich besitze Fotos, Briefe und Kleinigkeiten von Trude, eine Hut-Brosche, eine Nadeldose, Kreuzworträtsel, die sie sich für ihre Schwester, meine Urgroßmutter, ausgedacht hat…

 

 

Julia Frick: Was konnten Sie herausfinden?

 

Johanna Herzing: Trude lebte nach ihrer Einlieferung in Meseritz-Obrawalde nur noch wenige Tage. Sie war aus einem städtischen Krankenhaus in der Nähe ihrer Arbeitsstelle dorthin verlegt worden. Ihre körperliche Verfassung scheint bei der Aufnahme in Meseritz-Obrawalde im Prinzip recht gut gewesen zu sein. Deshalb ist es eher unwahrscheinlich, dass sie dort verhungerte – es war also anders als es die Erzählungen in meiner Familie nahelegten. Sehr wahrscheinlich wurde sie gezielt umgebracht. In Meseritz-Obrawalde geschah das meist durch Überdosierung bestimmter Medikamente, manchmal auch durch Luftinjektionen.
Maßgeblich beteiligt an der Verlegung bzw. der Aufnahme in Meseritz-Obrawalde war Trudes jüngerer Bruder Heinz gewesen, der kurze Zeit vorher als ihr Pfleger eingesetzt worden war. Das ging ebenfalls aus der Akte hervor  Grund der ursprünglichen Einweisung??. Für mich war das eine wichtige Information, weil ich vorher dachte, dass die Familie mit Trudes Einweisung nichts oder kaum etwas zu tun hatte. Die Frage aber, inwiefern auch die Angehörigen der „Euthanasie“-Opfer das Schicksal ihres Familienmitglieds beeinflusst haben, ist doch sehr relevant. Der Historiker Götz Aly, mit dem ich in Kontakt stand, war so freundlich, Trudes Krankenakte durchzugehen und mir einige Fragen zu beantworten. Der Akte zufolge wurde Trudes Leichnam ins Krematorium nach Frankfurt an der Oder überführt; die Familie erhielt auch eine Urne, die in Dresden-Hellerau beigesetzt wurde. Laut Götz Aly ist es aber unwahrscheinlich, dass sie wirklich Trudes Asche enthielt. Insofern ist Trudes Urnengrab eher ein symbolischer Ort der Erinnerung.

 

 

„Vergangenheit und Gegenwart sind nicht zu trennen. Trude hat meine Familie bewusst und unbewusst über mehrere Generationen hinweg beeinflusst. Diese Einflüsse der Vergangenheit wahrzunehmen und aufzudecken, kann nur hilfreich sein, wenn wir Gegenwart und Zukunft besser und menschlicher gestalten wollen.“

 

 

Julia Frick: Wie hat Ihre Familie bzw. Ihr Umfeld auf Ihr Engagement und auf die neuen Informationen reagiert?

 

Johanna Herzing: Die meisten Reaktionen auf meine Recherchen waren sehr positiv. Viele der noch lebenden näheren Angehörigen von Trude (die Schwestern meiner Großmutter etwa) erinnern sich ja im Prinzip sehr gern an Trude. Über Trudes Tod zu sprechen war da schon schwieriger – vor allem was die Frage anging, ob Trudes jüngerer Bruder Heinz seine Schwester bewusst dem Risiko ausgesetzt hatte, in Obrawalde ermordet zu werden. Denn auch Heinz hat einen festen und sehr positiven Platz in der Erinnerung der Familie. Der ist ihm schwer streitig zu machen, und letztlich fühle ich mich dazu auch nicht im Recht, denn unter welchen Umständen er Trudes Aufnahme in Meseritz-Obrawalde begleitete, kann ich nicht beurteilen.
Die meisten meiner Angehörigen waren jedenfalls sehr neugierig und interessiert an dem, was ich Schritt für Schritt herausfand. Eine entscheidende Rolle spielt sicher der Umstand, dass es auch in den Generationen nach Trude Fälle von psychischen Erkrankungen und geistiger Behinderung in der Familie gab und gibt. Dadurch ist Trudes Schicksal alles andere als abstrakt und berührt meine Familie auf besondere Weise.

 

 

Julia Frick: Wie würden Sie den Einfluss beschreiben, den Ihre Recherchen auf Sie selbst hatten und haben?

 

Johanna Herzing: Mir hat es noch einmal deutlich gemacht, wie groß das gesellschaftliche Stigma psychischer Erkrankungen und geistiger Behinderung war und in Teilen bis heute ist. Da ich direkte Angehörige habe, die davon betroffen sind, hat mich das traurig gemacht.

 

 

Julia Frick: Was treibt Sie und Ihre Arbeit an?

 

Johanna Herzing: Vergangenheit und Gegenwart sind nicht zu trennen. Trude, ihre Erkrankung und ihr Schicksal, hat meine Familie bewusst und unbewusst über mehrere Generationen hinweg beeinflusst. Diese Einflüsse der Vergangenheit wahrzunehmen und aufzudecken, kann nur hilfreich sein, wenn wir Gegenwart und Zukunft besser und menschlicher gestalten wollen.

 

 

Hier können Sie die Biografie von Trude Ferchland nachlesen.

 

Hier finden Sie das Deutschlandfunk-Feature „Tante Trude“.

 

 

Rez.: Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein: Den Opfern ihren Namen geben

Die Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein im Verbund der Stiftung Sächsische Gedenkstätten publizierte  eine Reihe von Porträts von Menschen, die 1940 und 1941 in Pirna den nationalsozialistischen Patientenmorden zum Opfer fielen. Die zehn, jeweils zehn bis 15 Seiten umfassenden, im Broschürenformat gehaltenen Bände sind reichlich bebildert und schildern unterschiedlichste Lebenswege von Geburt und Kindheit über die meist langjährigen  Continue Reading »

Ernst Klee – der Wegbereiter der Forschungen zu den NS-Medizinverbrechen

Am 15. März 2017 wäre der Journalist,  Publizist, Historiker und Grundlagenforscher zu den  „Euthanasie“-Verbrechen 75 Jahre alt geworden.

[caption id="attachment_13948" align="alignleft" width="150"] Foto: Fritz Bauer Institut[/caption]

Der im Mai 2013 in Frankfurt am Main Verstorbene war ursprünglich gelernter Installateur, holte das Abitur auf dem 2. Bildungsweg nach und studierte anschließend Sozialpädagogik und Theologie. Zunächst befasste sich Ernst Klee in den 70er Jahren mit jenen, die den sozialen Randgruppen der damaligen BRD zugerechnet wurden: Menschen mit Psychiatrieerfahrung, Obdachlose und Menschen mit Behinderung. Er publizierte zur Thematik der „Gastarbeiter“ und Strafgefangenen, verfasste eine Vielzahl von Sozialreportagen und war auch als Dokumentarfilmer tätig.

Der heute allgegenwärtige Begriff der „Inklusion“ wurde von Ernst Klee lange vor dessen Entstehung  gelebt und in seinem politischen Wirken implizit eingefordert. Ein besonderes Verdienst von Ernst Klee ist die frühe Erforschung und vielfache publizistische Sichtbarmachung der Verbrechen der sog. Euthanasie. Die auf dem Eichberg im Rheingau und dem Idsteiner Kalmenhof durch NS-Mediziner eingerichteten „Kinderfachabteilungen“ wurden ebenso zum Forschungsgegenstand des Frankfurter Historikers wie die „T4“-Tötungsanstalt in Hadamar. Ernst Klee untersuchte die systematischen Morde an den gemäß NS-Doktrin „Lebensunwerten“  in einem Zeitraum der deutschen Geschichtsschreibung, in der Institutionen, Berufsverbände, Wissenschaft und Forschung primär mit dem Nicht-Wahrhaben der Medizinverbrechen des Nationalsozialismus, nicht aber deren Aufarbeitung befasst waren.

Die 1983 erschienene, mehrfach überarbeitete Publikation „Euthanasie im Dritten Reich“, der Begleitband „Dokumente zur Euthanasie“ (1985) und das „Personenlexikon zum Dritten Reich“ (2003) gehören heute zur fachwissenschaftlichen Standardliteratur. Es ist das Verdienst von Ernst Klee, dass die NS-Medizinverbrechen in den Fokus von Gedenkstättenarbeit und wissenschaftlicher Forschung gerückt sind. Durch die Akribie, den Fleiß und die dezidiert an ethischen Gegenwartsfragen anknüpfende Arbeitsweise des „Außenseiters“ Ernst Klee wurde die Messlatte – auch für den heutigen Wissenschaftsbetrieb – sehr hoch gehängt. Die politische Stimme Ernst Klees, aber auch seine unabhängige Expertise fehlen uns heute vielerorts.

Projekt: Kontinuitäten und Brüche in B.O./Agnes-Karll-Verband/DBfK 1933-49

Materialien zur Geschichte der Pflege im Nationalsozialismus gesucht Die Neubrandenburger Pflegewissenschaftlerin Dr. Anja K. Peters und der Berliner Historiker Robert Parzer haben damit begonnen, im Auftrag des DBfK-Bundesvorstands die vermuteten personellen Kontinuitäten im Berufsverband zwischen 1933 und 1949 zu erforschen. Ziel der Studie ist es, die Rolle von herausgehobenen Funktionären und Funktionärinnen des DBfK und  Continue Reading »

Es begann mit einer Zeitungsannonce – Edward Wieand und seine Tante Erna

Edward Wieand lebt in Sennestadt bei Bielefeld. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2009 war er in der heilpädagogischen Arbeit, u.a. in den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und der Stiftung Eben-Ezer in Lemgo tätig. Bereits in den 1980er Jahren begann er, zum NS-„Euthanasie“-Mord an seiner Tante Erna Kronshage (1922-1944) zu recherchieren – ausgelöst durch eine Zeitungsannonce.
Mittlerweile leistet Edward Wieand in mehreren Internetblogs eine umfangreiche Gedenkarbeit. In der Interview-Reihe „Das Schweigen brechen“ erzählt er von seinen Nachforschungen.

 

[caption id="attachment_13918" align="alignnone" width="517"] Visuelle Annäherung – Edward Wieand und seine Tante Erna Kronshage. (Bilder: Wieand)[/caption]

 

Julia Frick: Wann haben Sie begonnen, über das Schicksal Ihrer Tante nachzuforschen? Können Sie sich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn Ihrer Recherchen war?

 

Edward Wieand: Begonnen habe ich 1986. In der Kirchenzeitung für Westfalen stieß ich auf eine Notiz vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Genauer gesagt war es ein Aufruf an Angehörige von NS-„Euthanasie“-Opfern oder solchen, die einen Fall von NS-„Euthanasie“ in ihrer Familie vermuteten. Ich hatte, was meine Tante Erna anging, einen solchen Verdacht – der LWL-Beauftragte, mit dem ich dann sprach, bestätigte ihn.

 

 

Julia Frick: Wie ging es dann weiter? Was waren Ihre nächsten Anlaufstellen?

 

Edward Wieand: Ich nahm Kontakt mit Ernst Klee auf, der ja einige bedeutende Schriften zum Thema NS-„Euthanasie“ verfasst hat. Ich las seine Bücher und suchte insbesondere nach Informationen über die Anstalt in Tiegenhof/Gnesen bzw. Dziekanka/Gniezno im heutigen Polen, wo meine Tante im Jahr 1944 umgebracht wurde. Auch vertiefte ich mich in Publikationen von Götz Aly und Michael Wunder („Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“). Letztlich suchte ich wegen der „Erbgesundheitsakte“ meiner Tante das Stadtarchiv Bielefeld auf.

 

 

Julia Frick: Was konnten Sie im Laufe der Jahre herausfinden?

 

Edward Wieand: Ich konnte – leider ohne Auffinden der Patientenakte – ziemlich minutiös das 484 Tage andauernde Martyrium meiner Tante Erna Kronshage rekonstruieren. Außerdem hatte ich glücklicherweise relativ viele Fotos im Familienbesitz zur Verfügung.

 

 

„Ich möchte besonders junge Menschen ansprechen, die sich vielleicht mit Erna identifizieren können. Schließlich ist sie mit gerade einmal 21 Jahren umgebracht worden.“

 

 

Julia Frick: Wie hat Ihre Familie bzw. Ihr Umfeld auf Ihr Engagement und auf die neuen Informationen reagiert?

 

Edward Wieand: Das war sehr unterschiedlich. Die einen waren angerührt, die anderen reagierten abweisend. Man schämte sich, wohl auch wegen des eigenen Verschweigens in all den Jahren: von 1944 bis zu meiner Bearbeitung ab 1986! Meinen Brüdern und Cousins war die Geschichte von Erna Kronshage eher „peinlich“ – doch auch sie waren auf eine gewisse Art und Weise interessiert …

 

 

Julia Frick: Wie würden Sie den Einfluss beschreiben, den Ihre Recherchen auf Sie selbst hatten und haben?

 

Edward Wieand: Ich war früher im Bereich der Sozialen Arbeit, in Heimen für behinderte Menschen tätig. Von daher war ich schon von Berufs wegen interessiert an der Thematik und erschrocken über die Taten und Mitwirkungen der altvorderen „Kollegen“ bei den „Euthanasie“-Morden. Gleichzeitig warnte ich als Heimleiter vor ähnlichen „Fragebögen“ etc., die ja im Behindertenbereich immer wieder gern genutzt werden.
Letztlich wurde mir auch bei der Tagung zur Namensnennung von „Euthanasie“-Opfern, die Ende Juni 2016 in der Topographie des Terrors stattfand, noch einmal das Diffizile aller Aspekte bewusst. Nämlich, dass es zwei Gruppen von Angehörigen gibt – solche, die die Namensnennung vorantreiben möchten, auch der Opfer zuliebe, und solche, die vor diesem Schritt (noch) Angst haben.

 

 

Julia Frick: Was treibt Sie und Ihre Arbeit an?

 

Edward Wieand: Für mich als „Alt-68er“ war das sicherlich zunächst einmal eine notwendige politische Konsequenz gegenüber der Elterngeneration. Hinzu kam dann der berufsbezogene Aspekt – und heutzutage ist es mir wichtig, das Einzelschicksal meiner Tante bekanntzumachen. Auch, um gegen rückwärtsgewandte Entwicklungen in der Gesellschaft Stellung zu beziehen oder eventuelle „Wiederholungen“ (wie zum Beispiel die Gefahr der Verwendung „chemischer Keulen“ in der Psychiatrie) zu verhindern. Hier möchte ich besonders junge Menschen ansprechen, die sich vielleicht mit Erna identifizieren können. Schließlich ist sie mit gerade einmal 21 Jahren umgebracht worden.

 

 

Ernas Leben und ihre Leidensgeschichte in beeindruckenden Bildern: https://www.yumpu.com/de/embed/view/TxZNidnmMoBv4XGU 

 

 

Einer der Blogs von Edward Wieand: http://erna-4-teens.blogspot.de

 

 

Ernas Biografie: http://gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/kronshage-erna

 

 

Es begann mit einer Zeitungsannonce – Edward Wieand und seine Tante Erna

Edward Wieand lebt in Sennestadt bei Bielefeld. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2009 war er in der heilpädagogischen Arbeit, u.a. in den Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und der Stiftung Eben-Ezer in Lemgo tätig. Bereits in den 1980er Jahren begann er, zum NS-„Euthanasie“-Mord an seiner Tante Erna Kronshage (1922-1944) zu recherchieren – ausgelöst durch eine Zeitungsannonce.
Mittlerweile leistet Edward Wieand in mehreren Internetblogs eine umfangreiche Gedenkarbeit. In der Interview-Reihe „Das Schweigen brechen“ erzählt er von seinen Nachforschungen.

 

[caption id="attachment_13918" align="alignnone" width="517"] Visuelle Annäherung – Edward Wieand und seine Tante Erna Kronshage. (Bilder: Wieand)[/caption]

 

Julia Frick: Wann haben Sie begonnen, über das Schicksal Ihrer Tante nachzuforschen? Können Sie sich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn Ihrer Recherchen war?

 

Edward Wieand: Begonnen habe ich 1986. In der Kirchenzeitung für Westfalen stieß ich auf eine Notiz vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Genauer gesagt war es ein Aufruf an Angehörige von NS-„Euthanasie“-Opfern oder solchen, die einen Fall von NS-„Euthanasie“ in ihrer Familie vermuteten. Ich hatte, was meine Tante Erna anging, einen solchen Verdacht – der LWL-Beauftragte, mit dem ich dann sprach, bestätigte ihn.

 

 

Julia Frick: Wie ging es dann weiter? Was waren Ihre nächsten Anlaufstellen?

 

Edward Wieand: Ich nahm Kontakt mit Ernst Klee auf, der ja einige bedeutende Schriften zum Thema NS-„Euthanasie“ verfasst hat. Ich las seine Bücher und suchte insbesondere nach Informationen über die Anstalt in Tiegenhof/Gnesen bzw. Dziekanka/Gniezno im heutigen Polen, wo meine Tante im Jahr 1944 umgebracht wurde. Auch vertiefte ich mich in Publikationen von Götz Aly und Michael Wunder („Auf dieser schiefen Ebene gibt es kein Halten mehr“). Letztlich suchte ich wegen der „Erbgesundheitsakte“ meiner Tante das Stadtarchiv Bielefeld auf.

 

 

Julia Frick: Was konnten Sie im Laufe der Jahre herausfinden?

 

Edward Wieand: Ich konnte – leider ohne Auffinden der Patientenakte – ziemlich minutiös das 484 Tage andauernde Martyrium meiner Tante Erna Kronshage rekonstruieren. Außerdem hatte ich glücklicherweise relativ viele Fotos im Familienbesitz zur Verfügung.

 

 

„Ich möchte besonders junge Menschen ansprechen, die sich vielleicht mit Erna identifizieren können. Schließlich ist sie mit gerade einmal 21 Jahren umgebracht worden.“

 

 

Julia Frick: Wie hat Ihre Familie bzw. Ihr Umfeld auf Ihr Engagement und auf die neuen Informationen reagiert?

 

Edward Wieand: Das war sehr unterschiedlich. Die einen waren angerührt, die anderen reagierten abweisend. Man schämte sich, wohl auch wegen des eigenen Verschweigens in all den Jahren: von 1944 bis zu meiner Bearbeitung ab 1986! Meinen Brüdern und Cousins war die Geschichte von Erna Kronshage eher „peinlich“ – doch auch sie waren auf eine gewisse Art und Weise interessiert …

 

 

Julia Frick: Wie würden Sie den Einfluss beschreiben, den Ihre Recherchen auf Sie selbst hatten und haben?

 

Edward Wieand: Ich war früher im Bereich der Sozialen Arbeit, in Heimen für behinderte Menschen tätig. Von daher war ich schon von Berufs wegen interessiert an der Thematik und erschrocken über die Taten und Mitwirkungen der altvorderen „Kollegen“ bei den „Euthanasie“-Morden. Gleichzeitig warnte ich als Heimleiter vor ähnlichen „Fragebögen“ etc., die ja im Behindertenbereich immer wieder gern genutzt werden.
Letztlich wurde mir auch bei der Tagung zur Namensnennung von „Euthanasie“-Opfern, die Ende Juni 2016 in der Topographie des Terrors stattfand, noch einmal das Diffizile aller Aspekte bewusst. Nämlich, dass es zwei Gruppen von Angehörigen gibt – solche, die die Namensnennung vorantreiben möchten, auch der Opfer zuliebe, und solche, die vor diesem Schritt (noch) Angst haben.

 

 

Julia Frick: Was treibt Sie und Ihre Arbeit an?

 

Edward Wieand: Für mich als „Alt-68er“ war das sicherlich zunächst einmal eine notwendige politische Konsequenz gegenüber der Elterngeneration. Hinzu kam dann der berufsbezogene Aspekt – und heutzutage ist es mir wichtig, das Einzelschicksal meiner Tante bekanntzumachen. Auch, um gegen rückwärtsgewandte Entwicklungen in der Gesellschaft Stellung zu beziehen oder eventuelle „Wiederholungen“ (wie zum Beispiel die Gefahr der Verwendung „chemischer Keulen“ in der Psychiatrie) zu verhindern. Hier möchte ich besonders junge Menschen ansprechen, die sich vielleicht mit Erna identifizieren können. Schließlich ist sie mit gerade einmal 21 Jahren umgebracht worden.

 

 

Ernas Leben und ihre Leidensgeschichte in beeindruckenden Bildern: https://www.yumpu.com/de/embed/view/TxZNidnmMoBv4XGU 

 

 

Einer der Blogs von Edward Wieand: http://erna-4-teens.blogspot.de

 

 

Ernas Biografie: http://gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/kronshage-erna

 

 

Vorstellung des Gedenkbuches der Opfer aus der Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch

Wann: 16. Feb. 2017 um 17 Uhr
Wo: Akademie der Gesundheit, Schwanebecker Chaussee 4 E-H; 13125 Berlin. Vortragssaal; Haus 206 (Hufelandcampus)

[caption id="attachment_1623" align="aligncenter" width="300"] Krankenhaus Buch Anfang des 20. Jahrhunderts. Quelle:http://www.planetarium-berlin.de[/caption]

Mit 2.700 Plätzen war die Heil- und Pflegeanstalt Berlin-Buch bis Ende 1940 die größte der vier Berliner Einrichtungen zur Pflege und Versorgung psychisch kranker und geistig behinderter Menschen. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Anstalt aufgelöst und die Gebäude für andere medizinische Zwecke genutzt. Zahlreiche Patienten und Pfleglinge fielen den der NS-Krankenmord- Aktionen zum Opfer. Entweder starben sie in den Gaskammern der „Aktion T4“ oder wurden im Rahmen dezentraler „Euthanasie“-Maßnahmen durch Hunger und/oder Medikamente getötet.

[caption id="attachment_3969" align="aligncenter" width="300"] Denkmal in Berlin-Buch: Ein Kissen aus Kunstharz[/caption]

Durch die Veröffentlichung ihrer Namen in einem Gedenkbuch sollen die Ermordeten ihre Identität zurückerlangen. Damit kann einerseits das öffentliche Gedenken an diese Opfergruppe unterstützt werden, andererseits wird auch individuelles Gedenken möglich, indem die Nachkommen gesicherte Auskünfte über das Schicksal ihres Angehörigen erhalten.

 

Terminübersicht für den Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.1.2017

Der 27.1. ist seit einer Proklamation des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog vom 3.1.1996 in Deutschland als Tag der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus eingeführt. Wie schon letztes Jahr, haben wir auch für 2017 wieder eine Terminübersicht gestaltet. Sie erfasst alle Veranstaltungen, die sich am und um den 27.1. der Erinnerung an die Opfer der NS-„Euthanasie“ und der Zwangssterilisationen widmen. Das herausragende Ereignis wird sicher die Gedenkstunde im Bundestag sein, die in diesem Jahr an die NS-„Euthanasie“ erinnert. Dazu wird als Angehörige eines Opfers u.a. Sigrid Falkenstein sprechen.
Falls wir etwas übersehen haben, schreiben Sie uns bitte. (robert.parzer@gedenkort-t4.eu). Hier der Link, falls die Karte nicht angezeigt werden sollte.

 

https://www.google.com/maps/d/u/0/edit?mid=1uRLYY0shl0sF1cb9GcG-5Z4LN_Y&ll=50.78634287332133%2C11.330509199999938&z=6

„Ich wollte sie präsent werden lassen“ – Hannah Bischof und ihre Großmutter Maria

 

Vor fast 15 Jahren haben sich die Berliner Malerin Hannah Bischof und ihre Schwester Regina Fenski auf die Suche gemacht. Auf die Suche nach ihrer Großmutter Maria, die im August 1942 in der Heilanstalt Neuruppin ermordet wurde. Hannah hat ihrer Großmutter einen Bilderzyklus gewidmet – für die Interview-Reihe „Das Schweigen brechen“ erzählt Hannah, wie sie die Jahre der Recherche und der Aufarbeitung erlebt hat.

 

[caption id="attachment_13872" align="aligncenter" width="469"] Hannah Bischof lebt und arbeitet in Berlin. Ihre Großmutter Maria Fenski wurde im Alter von nur 36 Jahren in Neuruppin ermordet. (Bilder: Bischof)[/caption]

 

Julia Frick: Wann hast du begonnen, über das Schicksal deiner Großmutter nachzuforschen? Kannst du dich an einen Moment erinnern, der ausschlaggebend für den Beginn deiner Recherchen war?

 

Hannah Bischof: Das war 2003. Geforscht hat eigentlich meine Schwester Dr. Regina Fenski, weil sie über das Leben unserer Großmutter ein Buch schreiben wollte und deshalb in Neuruppin nach ihrer Krankenakte gefragt hat. Mein Vater ist mit derselben Frage einige Jahre zuvor abschlägig beschieden worden; 2003 war die Akte plötzlich da… Meine Schwester hat mich gebeten, sie zu begleiten, und wir sind dann zusammen nach Neuruppin in die Ruppiner Kliniken gefahren. Wir wussten, dass unsere Großmutter 1942 in Neuruppin gestorben war; deshalb hatte meine Schwester dort gefragt. Wir waren beide sehr nervös und aufgeregt. Wir haben dann beide dort eine Kopie der Krankenakte erhalten.

 

Julia Frick: Wie ging es dann weiter?

 

Hannah Bischof: 2015, als schon etliche Bilder für meine Großmutter in meinem Atelier entstanden waren, bin ich auch nach Berlin-Lichtenberg in das Elisabeth-Herzberge-Krankenhaus gefahren und hatte dort ein Gespräch mit der Archivarin des Krankenhauses. Denn bevor Maria nach Neuruppin kam, war sie in diesem Krankenhaus gewesen. Die Archivarin sagte mir, dass die Akten damals alle an die Kliniken mitgegeben worden waren, in die die Patienten von Herzberge verlegt wurden. Deshalb existierten in Herzberge überhaupt keine Akten mehr.

 

Julia Frick: Was konntet ihr im Laufe der Zeit über das Schicksal eurer Großmutter herausfinden?

 

Hannah Bischof: Mit der Kopie der Krankenakte konnten wir den Großteil des Lebens unserer Großmutter nachvollziehen – zumindest den Teil, den sie in Kliniken verbracht hat. Wir begriffen, dass sie wirklich krank gewesen war und Psychosen hatte. Nach der Einschätzung von Dr. Göhlert, dem damaligen ärztlichen Direktor der Neuruppiner Kliniken, litt sie tatsächlich an Schizophrenie. Wir konnten auch herausfinden, dass sie an Unterernährung gestorben war; zum Zeitpunkt ihres Todes wog sie nur noch 42 Kilo, wie aus der Gewichtstabelle in der Akte hervorging. Diese bezeugte einen rapiden Gewichtsverlust in den letzten Monaten ihres Lebens.

Man hatte unsere Großmutter also verhungern lassen, und die angegebene Todesursache „Herzmuskelentartung“ war damit nicht einmal „gelogen“ – diese Krankheit des Herzens und des Herzmuskelgewebes ist eine Folge von Unterernährung. Wir konnten auch anhand der Akte herausfinden, dass sie schon mit 17 in einer Klinik in Osnabrück behandelt worden war. Ich fragte in der Klinik nach und bekam ihren dortigen Aufenthalt bestätigt.

 

 


„Mit dazu beitragen zu können, dass in den Familien darüber gesprochen wird, dass sich auch die Jüngeren dafür interessieren, was damals passiert ist, das wäre schön.“


 

 

Julia Frick: Wie hat eure Familie bzw. euer Umfeld auf euer Engagement und auf die neuen Informationen reagiert?

 

Hannah Bischof: Mein Engagement bezog sich ja nicht direkt auf die Recherchen; ich bin Malerin und habe das Leben und Sterben meiner Großmutter erst sehr viel später, lange nach den Besuchen in Neuruppin und Herzberge, in Bildern verarbeitet. Aber der Besitz der Krankenakte hat einiges aufgewühlt; meine Schwester und ich besuchten 2003 die Tochter unserer Großmutter, unsere Tante, der wir eine Kopie der Akte geschickt hatten und die uns erzählte, dass sie nach dem Lesen drei Tage geweint habe. Sie konnte uns noch sehr viel aus dieser Zeit berichten und war sehr froh, dass wir diesen Schritt unternommen und die Akte erhalten hatten. Ein Teil der Familie interessierte sich auch für diese Informationen und war sehr betroffen über das, was wir herausgefunden hatten – zumal bis dahin auch bei einigen die Version kursierte, dass unsere Großmutter Selbstmord begangen habe…

 

Julia Frick: Wie würdest du den Einfluss beschreiben, den eure gemeinsamen Recherchen auf dich selbst hatten?

 

Hannah Bischof: Letztendlich haben die Recherchen meiner Schwester und auch meine eigenen (in Osnabrück und in Berlin-Lichtenberg) dazu geführt, dass ich das Leben und Sterben meiner Großmutter in sechzehn Gemälden verarbeitet habe. Mit diesen Bildern und Fotos habe ich eine Ausstellung konzipiert, die ich 2016 in Neustadt (Schleswig-Holstein) und in Brandenburg an der Havel gezeigt habe. Von Januar bis März 2017 wird sie in Berlin in der Stiftung „Erinnerung – Verantwortung – Zukunft“ zu sehen sein. Meine Großmutter ist damit für mich sehr präsent geworden; sie ist wieder Teil der Familie, sie ist in die Familie zurückgekehrt.

 

Julia Frick: Zu guter Letzt – was treibt dich und deine Arbeit an?

 

Hannah Bischof: Mein Wunsch war, meiner Großmutter die Würde zurückzugeben, die ihr die Nationalsozialisten genommen hatten. Ich wollte sie präsent werden lassen, wollte der Öffentlichkeit zeigen, wer sie war und was man ihr angetan hatte. Ich wollte – und will – darauf hinweisen, was passiert, wenn man Menschen in einer Gesellschaft bewusst ausgrenzt. Und ich wünsche mir, dass die Menschen über dieses Unrecht sprechen. Gerade das Thema der sog. „Euthanasie“ ist in unserer und wahrscheinlich auch in anderen Gesellschaften m.E. noch nicht aufgearbeitet – aus Scham und wegen diffuser Ängste. Mit dazu beitragen zu können, dass in den Familien darüber gesprochen wird, dass sich auch die Jüngeren dafür interessieren, was damals passiert ist, das wäre schön.

 

 

Die Biografie von Maria Fenski können Sie hier nachlesen: http://gedenkort-t4.eu/de/vergangenheit/maria-fenski

 

Wenn Sie mehr über Hannah Bischof und ihre Arbeit erfahren möchten, besuchen Sie ihre Website: http://www.hannah-bischof.de

 

Ank.: Interviewreihe mit Angehörigen von Opfern der NS-„Euthanasie“ und Zwangssterilisationen

  Seit einigen Jahren gibt es ein erinnerungskulturelles Phänomen zu beobachten: Immer mehr Angehörige von Opfern der NS-„Euthanasie“ gehen an die Öffentlichkeit. Sie schreiben Bücher, Biografien, sprechen auf Konferenzen und gestalten Gedenkseiten im Netz.   Eine von ihnen ist Julia Frick, die hier im Blog schon öfter zu Wort kam. Seit sie entdeckte, dass ihr  Continue Reading »

Ausstellung zur NS-„Euthanasie“ und Eugenik in Belarus

Ein Hotspot für Public History ist Minsk nicht gerade. Eine zumindest autoritäre Staatsführung kontrolliert recht genau, wer was wie im öffentlichen Raum erinnert. Die Erinnerung gibt es: So findet der Spaziergänger an mehreren Orten im Stadtzentrum Denkmäler in Form von Tafeln und Skulpturen, die an bedeutende Politiker der belarussischen kommunistischen Partei erinnern. Etwa eine Stunde von Minsk entfernt befindet sich die Gedenkstätte Chatyn, die als symbolisch gestaltete Erinnerungslandschaft emotional durchaus aufrüttelnd an die „Politik der verbrannten Erde“ der deutschen Besatzer erinnert. Seit kurzem befindet sich auch am Ort des Massenmordes an Juden aus dem Minsker Ghetto und aus Teilen Europas in Maly Trostinez eine Gedenkstätte, die ein persönliches Projekt des Staatspräsidenten Aleksander Lukaschenka war.

 

Minsk ist allerdings keine Erinnerungslandschaft im engeren Sinne: Man kann durch die Stadt laufen, ohne wie etwa in Berlin, andauernd auf Erklärungen zur Geschichte „komplizierter Orte“, auf Denkmäler und Gedenkinstallationen zu treffen. Unübersehbar ist lediglich die Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg, dessen Geschichte in einer leicht nationalisierten Form entlang der selben Diskurslinien wie vor 1989 erzählt wird – was auch bedeutet, dass es beispielsweise keine Markierung von Orten der deutschen Besatzungsherrschaft gibt.

 

Vieles wirkt wie eine Scharade: Wenn etwa ein zentraler Platz nach 1989 seines Namenspatrons verlustig ging und jetzt von der Freiheit kündet, aber der U-Bahnhof unter ihm immer noch Lenin preist. Und auch, wenn man aus der Stadt raus fährt, um Chatyn zu besuchen und dabei am Hauptsitz des belarussischen KGB vorbeifährt, der nicht umbenannt wurde und einen dabei die Statue von Felix Dscherschinskij grüßt…

 

In diesem Klima ist die Ausstellung От дегуманизации к убийству: судьбы психиатрических больных в Беларуси (1941-1944 гг.) [Von der Entmenschlichung zum Mord: Das Schicksal psychiatrischer Patienten in Belarus 1941-1944] über Eugenik und Patientenmorde, die für ein paar Wochen in Minsk zu sehen war, wie ein frischer Wind in einer vom feinen Staub der Geschichte zugedeckten Stadt. Was den Machern Oleg Aizberg, Alexei Bratochkin, Andrei Zamoiskii, Vasilii Matoh und Oxana Jguirovskaia mit dem Zentrum für Public History des European College of Liberal Arts in Minsk gelang, ist nichts weniger, als einen mittelgroßen Raum der unabhängigen Kunstgalerie “Ў” in einen lebendigen Lernort zu verwandeln. Sie spannen dabei einen großen Bogen, der vom Beginn der „eugenic frenzy“ als eine der Leitideen des beginnenden 20. Jahrhunderts über die Sterilisationen und Massenmorde im Nationalsozialismus bis hin zum Gedenken heute reicht.

 

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Dabei gelang es, den Blick offen zu halten für Entwicklungen in den Nachbarländern Belarus‘, wie anhand der Entwicklung der eugenischen Ideen im Polen der Zwischenkriegszeit hin zu einer Massenbewegung gezeigt wird. Ein weiteres großes Verdienst der Ausstellung ist es, die Opfer als Individuen zu eigen. Dass dies im belarussischen Kontext nicht selbstverständlich ist, davon kann sich der Besucher der Dauerausstellung des Museum des Großen Vaterländischen Krieges leicht überzeugen. Dort wird nach wie vor die Einheit beschworen: der Nation, der Armee, des Gedächtnisses. In der Kunstgalerie hingegen etwa nehmen die einzigartigen Zeichnungen von Wilhelm Werner breiten Raum ein, ebenso wie Biografien von Opfern und individuelle Erinnerungsprojekte von Angehörigen in Deutschland. Besonders beim letzten Punkt wird eine Kluft zwischen den Erinnerungskulturen deutlich: Während in Deutschland immer mehr Angehörige von Opfern an die Öffentlichkeit treten, ist dies in Belarus überhaupt nicht der Fall.

 

Ob es hier zu einem Wandel kommen wird oder ob die starren von oben gelenkten Narrative dies überhaupt ermöglichen, wird sich erst zeigen. Diese Ausstellung ist möglicherweise ein erster Schritt dahin. Auf jeden Fall ist sie Ausdruck davon, dass das Konzept einer offenen, demokratischen public history, die althergebrachte Erzählungen herausfordert, auch in Belarus funktionieren kann. Den Machern ist zu wünschen, dass die Kraft haben und die Möglichkeiten finden, weiterhin Geschichte als einen offenen Prozess der gesellschaftlichen Selbstverständigung zu betreiben.

Der Stiftung Erinnerung-Verantwortung-Zukunft ist zu gratulieren und zu danken, dass sie das Projekt finanziell unterstützt hat.

 

 

Abschluss und Preisverleihung des Theaterwettbewerbs andersartig gedenken on stage

Wie kann die schwierige Geschichte der NS-„Euthanasie“-Verbrechen an junge Menschen in der Gegenwart vermittelt werden? Wie kann die junge Generation aus dieser Geschichte lernen? Wie kann sie für ein besseres Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung sensibilisiert werden?

 

Der Vorstand der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft Günther Saathoff beschreibt einen möglichen Weg: „Die Formate des Wettbewerbs andersartig gedenken on stage und des szenischen Theaters können außerordentlich produktive pädagogische Plattformen sein, nicht nur zur Aneignung und Vermittlung historischer Kenntnisse, nicht nur zur Vergegenwärtigung ganz konkreter individueller Lebens- und Leidenswege, sondern auch durch die demokratische Beteiligung, etwa durch den Einbezug des Inklusionsgedankens“.

 

 

Die Arbeitsgemeinschaft gedenkort-T4.eu schrieb im Herbst 2015 bundesweit den Theaterwettbewerb andersartig gedenken on stage für Schulen und inklusive Theatergruppen aus. Die Aufgabe war es, Biografien von Opfern der NS-„Euthanasie“ zu recherchieren und auf der Bühne zu erzählen.

 

Bis Ende Mai 2016 wurden 14 Videomitschnitte und Trailer der selbst entwickelten Theaterstücke eingereicht. Die teilnehmenden Gruppen bewiesen dabei, dass Theater die Kraft besitzt, eine Verbindung zwischen einem Einzelschicksal eines Menschen aus der Vergangenheit mit den Akteur_innen auf der Bühne und den Zuschauer_innen im Publikum herzustellen. Alle Stücke berührten unmittelbar. Die Jury, der u.a. Sigrid Falkenstein angehörte, bestimmte am 4. Juni die sieben Preisträger.

 

[caption id="attachment_13583" align="aligncenter" width="300"] Alle Preisträger[/caption]

Am 01. Oktober wurden die Preisträger im Rahmen der feierlichen Preisverleihung im Kulturcentrum am Wartburgplatz „Die Weisse Rose“ in Berlin geehrt. Es war ein Abend vieler besonderer Momente. Die ca. 130 anwesenden Gäste wurden von den Vertreter_innen der Förderer Stiftung EVZ , Bundesvereinigung Lebenshilfe, Lebenshilfe Berlin und der Stiftung Parität begrüßt.

 

 

Ulla Schmidt, Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages und Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe beschrieb das Ziel des Wettbewerbes, eines der 300.000 Opfer der NS-„Euthanasie“-Verbrechen dem Vergessen zu entreißen, so: „Fast Jeder kennt das furchtbare Schicksal der Anne Frank, aber wer kennt Käthe Spreen?“

 

Die Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Berlin, Prof Dr. Barbara John,  zitiert den Münsteraner Bischof von Galen, der am 3. August 1941 die Morde der sogenannten „Euthanasie“ anprangerte:  „Wenn es Recht sein soll, unproduktive Menschen zu töten, dann wehe uns allen, wenn wir einmal alt oder krank werden.“

 

Günther Saathoff, Vorstand der Stiftung EVZ, erinnerte in seiner Ansprache auch an das Schicksal der 350.000 Zwangssterilisierten, sowie deren jahrzehntelangen Kampf um Anerkennung als Verfolgte des NS-Regimes.

 

Die Preise:

1.Preis – Das Schulzentrum Geschwister Scholl aus Bremerhaven für das Theaterstück „KÄTHE – ein Opfer der Euthanasie im Nationalsozialismus“

 

[caption id="attachment_13585" align="aligncenter" width="300"] Die Gewinner[/caption]

 

2. Preis – Die Kooperation des Carl-Orff Gymnasiums Unterschleißheim und des Heilpädagogischen Centrum Augustinum Oberschleißheim für das Theaterstück „Geheimnisse im Kopf“

 

3. Preis – Ernst-Mach-Gymnasium und Mittelschule Haar für die Produktion „Spurensuche – was für ein Mensch willst Du sein?“

 

4. Preis – Bandhaus-Theater Backnang für das Theaterstück „Kannst Du schweigen? – Ich auch!“

 

5. Preis – Geschwister Scholl Oberschule Bad Laer für das Theaterstück „Rupprecht Villinger – Recht auf Leben“

 

 

Ingrid von Randow vergab den Preis der Lebenshilfe Berlin für eine gelungen Umsetzung des Inklusionsgedankens an das Theater 36 aus Hamburg für das Theaterstück „Der Brief – ein Spiel zwischen Gestern und Heute“. Sie betonte in ihrer Ansprache, dass Gleichstellung von Menschen mit Behinderung auch heute immer noch nicht selbstverständlich ist.

 

Der Gewinner des Förderpreis für die herausragende schauspielerische Einzelleistung, Kai Bosch, vom Bandhaus-Theater Backnang, sagte in seiner Dankesrede:

„Ich bin dankbar, dass ich in der heutigen Zeit leben darf. Jedes Leben ist lebenswert. Jeder Mensch hat Fähigkeiten. Jeder Mensch ist einzigartig.“

 

Anschließend wurde der Siegerbeitrag „KÄTHE“ aufgeführt. Eindringlich erzählt das Stück die Geschichte von Käthe Spreen, einer jungen Frau, die in Bremerhaven geboren und in Hadamar 1941 umgebracht wurde. Bewegend ist auch der Schluss: Wenn die Schüler, grau in grau, in einem der grauen Busse sitzen, der die Kranken in die Mordanstalten gefahren hatte und dann sehr bewusst aussteigen, zurück in ihre eigene Identität gehen und erzählen, was ihnen im Umgang mit Stück und Sujet passiert ist: „Im Unterricht hat mich das nie interessiert, aber jetzt wird es so begreifbar“, sagt einer von ihnen (siehe Foto der Abschlussszene).  Damit liefert „Käthe“ zugleich den Beweis, dass das, was sich die AG gedenkort-T4.eu mit dem Wettbewerb andersartig gedenken on stage vorgenommen hat, auch eingetreten ist: die intensive Auseinandersetzung möglichst vieler junger Menschen mit und ohne Behinderungen mit zu oft vergessenen, zu oft verdrängten Thema der NS-„Euthanasie“ und mit den wenigen bekannten Biographien von Opfern.

 

[caption id="attachment_13584" align="aligncenter" width="300"] Aufführung des Siegerbeitrages[/caption]

 

Der Gewinnerbeitrag wurde professionell gefilmt und wird noch in 2016 online frei zugänglich sein. Mehr zum Wettbewerb, sowie auch zu den einzelnen Preisträgern inklusive Trailer, finden Sie unter www.andersartig-gedenken.de.

 

Die Arbeitsgemeinschaft gedenkort-T4.eu ist bemüht 2017/2018 gemeinsam mit dem neugegründeten Förderkreis Gedenkort-T4 e.V. einen weiteren Jahrgang des Wettbewerbs andersartig gedenken on stage auszuloben. Sie will damit einen nachhaltigen Beitrag für den emotionalen Erinnerungsprozess und für ein gelebtes und vorurteilsfreies Verständnis von Inklusion leisten.

 

von Stana Schenck

Fotos: Marko Georgi