Die Charta der Heimatvertriebenen sorgt aufgrund ihres 60. Jahrestages für heftigste Diskussionen, in denen sich aktuelle Diskussionen um den Bund der Vertriebenen, Erika Steinbach und das geplante Zentrum gegen Vertreibungen mit der historischen Bewertung des Dokumentes, der Bewertung der Vertreibungen an sich und allgemeinem Krach vermischen. Erika Steinbach betont die Charta als ein Dokument, das die Radikalisierung der Vertriebenen verhindert hat und betont den Verzicht auf Rache und Vergeltung. Die Historiker Wolfgang Benz und Peter Steinbach kritisieren Erika Steinbach heftigst. Andreas Kossert sieht sie als eine "Art Grundgesetz für das politische Engagement der Vertriebenen, Micha Brumlik sieht sie als "völkisch-politische Gründungsurkunde. Bundestagspräsident Lammert lobt die Charta als "Voraussetzung für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik", Bundesinnenminister De Maizière nennt sie wegweisend. Volker Beck kritisiert sie als historisch einseitig und bemängelt die Reduktion auf das Schicksal der Vertriebenen und die Ausblendung des Zweiten Weltkrieges. Guido Westerwelle wird auf dem Festakt ausgebuht. Hans-Ulrich Wehler lobt die Charta und die Integrationsleistung der Vertriebenen. Und die Linke kann sich immer noch nicht von ihrer DDR-Rhetorik und dem SED-Weltbild lösen.
Viel Krach und Streit also und die Beteiligten reden gerne aneinander vorbei. Was völlig vernachlässigt wird, ist zum einen der historische Kontext der Entstehung 1950 und zum anderen die Charta an sich. Über den historischen Kontext müsste man ganze Romane schreiben, es sei hier nur auf die kurze Zeit nach Kriegsende, den mittlerweile heiß gelaufenen Kalten Krieg, die immer noch desolate wirtschaftliche und soziale Situation der Vertriebenen, die Teilung Deutschlands, den Koreakrieg, Revanchistische Strömungen, die Hallstein-Doktrin, die Nicht-Anerkennung der neuen Grenzen, nationalsozialistische Verstrickungen breiter Bevölkerungskreise und diverses weitere verwiesen. Und auf die Charta selbst. Gerade in solchen hitzigen Debatten ist es nämlich immer wichtig, in die Quellen zu schauen:
Im Bewußtsein ihrer Verantwortung vor Gott und den Menschen, im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zum christlich-abendländischen Kulturkreis, im Bewußtsein ihres deutschen Volkstums und in der Erkenntnis der gemeinsamen Aufgabe aller europäischen Völker, haben die erwählten Vertreter von Millionen Heimatvertriebenen nach reiflicher Überlegung und nach Prüfung ihres Gewissens beschlossen, dem deutschen Volk und der Weltöffentlichkeit gegenüber eine feierliche Erklärung abzugeben, die die Pflichten und Rechte festlegt, welche die deutschen Heimatvertriebenen als ihr Grundgesetz und als unumgängliche Voraussetzung für die Herbeiführung eines freien und geeinten Europas ansehen.
1. Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung. Dieser Entschluß ist uns ernst und heilig im Gedenken an das unendliche Leid, welches im besonderen das letzte Jahrzehnt über die Menschheit gebracht hat.
2. Wir werden jedes Beginnen mit allen Kräften unterstützen, das auf die Schaffung eines geeinten Europas gerichtet ist, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können.
3. Wir werden durch harte, unermüdliche Arbeit teilnehmen am Wiederaufbau Deutschlands und Europas.
Wir haben unsere Heimat verloren. Heimatlose sind Fremdlinge auf dieser Erde. Gott hat die Menschen in ihre Heimat hineingestellt. Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen, bedeutet, ihn im Geiste töten.
Wir haben dieses Schicksal erlitten und erlebt. Daher fühlen wir uns berufen zu verlangen, daß das Recht auf die Heimat als eines der von Gott geschenkten Grundrechte der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird.
So lange dieses Recht für uns nicht verwirklicht ist, wollen wir aber nicht zur Untätigkeit verurteilt beiseite stehen, sondern in neuen, geläuterten Formen verständnisvollen und brüderlichen Zusammenlebens mit allen Gliedern unseres Volkes schaffen und wirken.
Darum fordern und verlangen wir heute wie gestern:
1. Gleiches Recht als Staatsbürger nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in der Wirklichkeit des Alltags.
2. Gerechte und sinnvolle Verteilung der Lasten des letzten Krieges auf das ganze deutsche Volk und eine ehrliche Durchführung dieses Grundsatzes.
3. Sinnvollen Einbau aller Berufsgruppen der Heimatvertriebenen in das Leben des deutschen Volkes.
4. Tätige Einschaltung der deutschen Heimatvertriebenen in den Wiederaufbau Europas.
Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.
Die Völker sollen handeln, wie es ihren christlichen Pflichten und ihrem Gewissen entspricht.
Die Völker müssen erkennen, daß das Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen wie aller Flüchtlinge, ein Weltproblem ist, dessen Lösung höchste sittliche Verantwortung und Verpflichtung zu gewaltiger Leistung fordert.
Wir rufen Völker und Menschen auf, die guten Willens sind, Hand anzulegen ans Werk, damit aus Schuld, Unglück, Leid, Armut und Elend für uns alle der Weg in eine bessere Zukunft gefunden wird.
Stuttgart, den 5. August 1950