Ich habe mich in den letzten Tagen zuerst über etwas gewundert und mich dann aufgeregt: Es geht um den Umgang der Bundesregierung mit den Akten zum Eichmann-Prozess. Dass die deutsche Justiz den Organisator des Holocausts nicht mit vollem Einsatz gesucht hat und dass erst die Kombination aus Zufall, privater Initiative und dem israelischen Geheimdienst zu seiner Ergreifung geführt hat, ist schon lange bekannt. Es ist leider auch so, dass das Interesse an der Verhaftung von deutscher (und amerikanischer) Seite denkbar gering war – die Frage, welcher Geheimdienst wann was über den Aufenthaltsort und die Flucht Eichmanns wusste, ist immer noch nicht geklärt.
Was allerdings jetzt neu herausgekommen ist, wirft ein recht braunes Licht auf die frühe Bundesrepublik: Während des Prozesses in Israel stahlen ein Vertrauter des damaligen Bundeskanzlers Adenauer und ein Reporter der BILD-Zeitung Dokumente aus dem Hotelzimmer eines DDR-Anwaltes, um sie dem BND zu übergeben. Das Motiv dafür soll die Angst höherer Regierungskreise (der Spiegel spricht sogar von Adenauer höchstpersönlich) vor Enthüllungen der Naziverstrickungen westdeutscher Politiker und Beamter gewesen sein.
Die Ungeheuerlichkeit des Ganzen muss man sich erst einmal vor Augen führen: Kanzler, Geheimdienst und BILD-Zeitung agieren hier gemeinsam und torpedieren so den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des Massenmordes der Nazis. Und das alles, um Altnazis zu decken.
In dieses Bild passt auch (leider) das Verhalten unserer aktuellen Bundesregierung – mittlerweile ist die Sperrfrist für die Akten des BND eigentlich abgelaufen. Trotzdem musste zuerst das Bundesverwaltungsgericht das Bundeskanzleramt dazu verdonnern, diese Akten auch wirklich herauszugeben. Promt wurden allerdings einige Akten mit einem erneuten Sperrvermerk versehen und auch ansonsten alles versucht, um den Zugang zu erschweren: Größere Teile der Akten wurden geschwärzt, unleserlich kopiert oder erst gar nicht vorgelegt. Die Frage ist, warum das Bundeskanzleramt so handelt und welche Enthüllungen sich noch in den Akten verstecken – das Verhalten des Bundeskanzleramtes (und damit auch von Ihnen, Frau Merkel!) regt auf jeden Fall die Neugierde an. So sehr ich die Formel „Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten“ hasse, aber es muss schon ein größerer Brocken sein, wenn fast 40 Jahre nach dem Prozess, nach dem Tod der Beteiligten und fast aller Altnazis immer noch ein größeres Staatsgeheimnis dort vorhanden sein soll.
Eine ausführliche Pressemitteilung mit mehr Details der klageführenden Gabriele Weber findet sich nach dem Klick.
Mit Fristablauf zum 31. August 2010 hat das Bundeskanzleramt nunmehr einige Akten vorgelegt und für einen Teil der Akten wiederum eine Sperrerklärung abgegeben. Hierzu geben Dr. Reiner Geulen und Dr. Remo Klinger nach Akteneinsicht bei dem Bundesverwaltungsgericht als Prozessbevollmächtigte der Klägerin, Frau Dr. Gabriele Weber, folgende Erklärung ab:
- Die nunmehr vorgelegten Akten bestehen zum erheblichen Teil aus Seiten, die entweder total weiß oder total schwarz sind und in denen nicht einmal ein Aktenzeichen oder irgendein Buchstabe zu erkennen ist. Der überwiegende Teil der Akten ist darüber hinaus offensichtlich nachgeschwärzt worden, so dass der Text im Wesentlichen unleserlich ist.
- Im Wesentlichen wurden nur Kopien vorgelegt aus der Zeit nach der Verhaftung von Eichmann im Jahre 1960. Die meisten Akten wurden entweder nicht vorgelegt, geweißt oder geschwärzt oder unleserlich kopiert, und zwar:
Die Pressemitteilung des Bundesverwaltungsgerichts „Zurückhaltung von Akten betreffend Adolf Eichmann rechtswidrig“ zu dem am 30. April 2010 mitgeteilten Beschluss findet sich in der Homepage des Bundesverwaltungsgerichts unter www.bverwg.de (Pressemitteilung, Nr. 35/2010 vom 30.04.2010).
a) Sämtliche Akten zu den Kenntnissen des Bundesnachrichtendienstes zum Untertauchen von Eichmann in Deutschland zwischen 1945 und 1950 sowie zur Flucht von Eichmann aus Deutschland über Italien nach Argentinien;
b) Definitive Kenntniserlangung des Bundesnachrichtendienstes von dem Aufenthalt Eichmanns in Argentinien seit 1958. Hierzu gehören auch die Akten, die belegen, dass die Adenauer-Regierung dezidiert nicht an der Verhaftung und Auslieferung von Eichmann (und seiner Verurteilung in Deutschland) interessiert war.
3. Ein Agent des Bundesnachrichtendienstes war am 29. Juni 1961 kurz vor Abschluss der Beweisaufnahme in dem Eichmann-Prozess in Jerusalem in das Hotelzimmer des Prozessbevollmächtigten der Hinterbliebenen der Holocaust-Opfer im Hotel King David eingebrochen und hatte sich der Prozessunterlagen und Handakten bemächtigt. In dem Protokoll des Bundesnachrichtendienstes über diesen Einbruch heißt es, dass sich in dem gestohlenen Material neben Vollmachten auch – so wörtlich – „sonstige Unterlagen, in denen außerdem eine ganze Reihe von Namen westdeutscher Persönlichkeiten enthalten sind“ befindet. Weder dieses Protokoll, das uns aus anderer Quelle bekannt ist, noch die weiteren Unterlagen zu diesem operativen Vorgang wurden dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt. Gesperrt wurden auch die gestohlenen Dokumente selbst, die dem Bundesnachrichtendienst am 30. Juli 1961 durch seinen Agenten im Original übergeben worden waren und den Holocaust-Opfern zu keinem Zeitpunkt zurückgegeben wurden.
4. Trotz der Lückenhaftigkeit ergeben die nunmehr vorgelegten Akten ein konzises Bild zur Flucht Eichmanns aus Deutschland und zum Verhalten der Adenauer Regierung nach Bekanntwerden seines Aufenthaltsortes in Buenos Aires. Eichmann tauchte noch im April 1945 unter und wurde nach der Kapitulation von den Alliierten als prominentester flüchtiger „Big-Nazi“ verfolgt. Trotzdem gelang es Eichmann, bis 1950 unbehelligt in der Lüneburger Heide zu leben, und zwar zunächst als Holzfäller und alsdann auf einer Hofstelle in dem Dorf Altensalzkoth in der Nähe von Celle als Hühnerzüchter unter dem Namen Otto Henninger. Nachdem er genügend Geld verdient hatte, reiste er mit Hilfe eines österreichischen Nazis unbehelligt nach Österreich, als dann mit Hilfe des Pfarrers von Sterzing nach Südtirol ins Franziskaner-Kloster Bozen, wo ihm ein Pass auf den Namen Ricardo Clement ausgestellt wurde, mit dem er nach Argentinien über die so genannte Rattenlinie auswandern konnte.
Identität und Aufenthaltsort Eichmanns in Buenos Aires, wo Eichmann in den folgenden Jahren als Elektriker in dem Daimler-Benz Werk Gonzales Catan arbeitete, wurden schließlich im Jahre 1957 durch den überlebende KZ-Häftling Lothar Herrmann entdeckt. Der Bundesnachrichtendienst erfuhr hiervon ebenfalls im Jahre 1957.
Die nunmehr vorliegenden Akten bestätigen, dass die Adenauer-Regierung trotz dieser Kenntnis zu keinem Zeitpunkt initiativ geworden ist, um Eichmann verhaften und ausliefern zu lassen. Umfassende Aktivitäten der Adenauer-Regierung begannen erst unmittelbar nach der Verhaftung Eichmanns durch die Mossad in Buenos Aires und seiner Inhaftierung in Jerusalem. Die Akten bestätigen ferner, dass die Tätigkeiten der Adenauer Regierung gegenüber der israelischen Regierung in den Jahren 1960 und 1961 darauf gerichtet waren, die Veröffentlichung von Aussagen Eichmanns über die Nazivergangenheit von Politikern und leitenden Beamten im Staatsapparat der Bundesrepublik zu verhindern.
5. Wir haben unmittelbar nach Vornahme der Akteneinsicht in dem Klageverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragt, dass das Bundeskanzleramt unverzüglich sämtliche Eichmann-Akten vorzulegen hat. Dies wird das Bundesverwaltungsgericht nunmehr wiederum in einem in-camera-Verfahren entscheiden. Wir gehen davon aus, dass dies kurzfristig erfolgt, da dem Bundesverwaltungsgericht die gesamten Akten ja bereits im Original vorlagen.
- Wir bewerten das Vorgehen des Bundeskanzleramts wie folgt:
Das Verhalten des Bundeskanzleramts stellt eine Missachtung des Bundesverwaltungsgerichts dar. Entgegen dem rechtskräftigen Beschluss des Gerichts vom 19. April 2010 wurden dem Bundesverwaltungsgericht – neben einigen marginalen Dokumenten – im Wesentlichen nur geschwärzte oder gezielt nachgedunkelte und unleserlich gemachte Papiere vorgelegt. Wir haben für diese Missachtung eines Obersten Bundesgerichts durch das Bundeskanzleramt nicht das geringste Verständnis. Scharf zu kritisieren ist auch die Behinderung zeitgeschichtlicher Aufklärung zur Geschichte der Bundesrepublik während der Adenauerzeit. Sämtliche in den Akten erwähnten Personen sind tot; eine Schutzbedürftigkeit einzelner Personen wird vom Bundeskanzleramt auch nicht substantiiert behauptet.