Reisen an das Ende der Geschichte, Teil 1

Alexander Stilles hat eine Frage: Was passiert, wenn die lebendige Verbindung zur Vergangenheit abbricht? Was passiert, wenn eine Gesellschaft Teile ihrer historischen Wurzeln verliert? Was passiert, wenn die Geschichte endet, wenn historische Artefakte, Gebäude, Traditionen oder Techniken unwiederbringlich verloren gehen?

Um diese Frage unter die Lupe zu nehmen, reist er quer über die gesamte Welt und besucht Orte, an denen die Vergangenheit verloren zu gehen droht. Dieser Artikel folgt der Schilderung in seinem Buch “Reisen an das Ende der Geschichte. Über die Zukunft der Vergangenheit” und wird von mir mit eigenen Gedanken flankiert. Wer sich für das Thema interessiert, dem ist das Buch nur wärmstens zu empfehlen.

Ägypten

Der erste Stopp seiner Reise ist Gizeh, Ort der berühmten Pyramiden und der Sphinx, ein Ort, an dem man eigentlich massive Bemühungen erwarten würde, die altägyptischen Stätten und Fundstücke zu erhalten. Das geschieht auch – aber leider nur zum Teil. Während natürlich alles menschenmögliche versucht wird, die Pyramiden zu erhalten, droht die Gefahr aus mehreren Richtungen.

Zum einen wird mit jeder archäologischen Ausgrabung die Fundstelle zerstört. Was einmal aus dem Boden gegraben wurde, befindet sich nicht mehr innerhalb seines originalen Kontextes, der bei der Ausgrabung zerstört wird. Licht, Luft und schlechte Dokumentation der Ausgrabungen können ebenso einen Fundort zerstören. Gerade in Ägypten wurde in der Vergangenheit viel gegraben und dabei vieles zerstört. Grabstätten wurden geöffnet, die Funde in ein Museum gebracht und die Stätte dann Wind und Wetter überlassen. Dazu kommen Raubgräber und der Spruch “Wir zerstören, was wir lieben” stimmt.

Die zweite Gefahr für Sphinx & Co besteht darin, dass Kairo wächst. Als größte Stadt Afrikas ist es mittlerweile ein Moloch, der Gizeh praktisch komplett umschlingt. Wer gedacht hat, dass die Pyramiden in der Wüste  liegen, hat sich geirrt. Mittlerweile sind sie von der Stadt umschlungen und der Tourismus boomt. Wer Lust hat, kann dort in einer Filiale der amerikanischen Fast Food-Kette Pizza Hut sitzen und den Blick auf die Sphinx genießen. Dieser Bauboom gefährdet allerdings auch die Umgebung der Pyramiden, wo eigentlich die Überreste der Arbeitersiedlungen, deren Gräber und diverse andere Stätten, die über die Pyramiden und ihre Entstehung Auskunft geben, liegen – solange man keine Stadt darüber baut und sie zerstört.

Die Folge davon ist, dass die Pyramiden schwerer zu verstehen sind und wir weniger über die alten Ägypter wissen – und nicht nur wir, denn diese Stätten sind so alt, dass sie selbst schon für die alten Römer antike Stätten waren. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Ausgrabungsprotokolle über tausende Jahre erhalten. Und es ist leider auch davon auszugehen, dass unsere Ausgrabungsmethoden den Menschen in wenigen Jahren so fehlerhaft und zerstörerisch vorkommen wie uns die Ausgrabungsmethoden des 19. Jahrhunderts. Was jetzt ausgegraben wird oder überbaut, ist praktisch schon zerstört.

Die Folgen dessen sind erstaunlich: Alexander Stilles verweist in diesem Zusammenhang auf eine anscheinend sehr große Gruppe von Menschen, die ernsthaft glauben, dass die Pyramiden nicht von den Ägyptern gebaut wurden, sondern von Außerirdischen. Erich von Däniken, Stargate, Akte X und diverse andere Unsinnspublikationen haben hier ganze Arbeit geleistet. Archäologen packen sich an den Kopf, aber die Überzeugungen sind da. Hier zeigt sich ganz deutlich, was die Zerstörung von archäologischen Fundstätten anrichten kann: Wenn die Behausungen der Arbeiter, ihre Gräber und all ihre Hinterlassenschaften von Kairo überbaut und zerstört wurden, was sind dann die Pyramiden überhaupt noch? Ohne den historischen Kontext sind sie dann wirklich Hinterlassenschaften von Aliens. Fremden. Unbekannten Wesen.

China

Die nächste Station führt Stilles nach China in die alte Kaiserstadt Xi’an. In China mit seiner traditionellen Holzbauweise, dem bereits lange verbreitetem Schreiben auf Papier und seiner Geschichte, die weiter zurück reicht als die europäische. Holz und Papier sind allerdings deutlich fragiler als die in Europa verwendeten Materialien Pergament und Stein, so dass sich eine Kultur der Kopie, eine Kultur der ständigen Erneuerung etabliert hat. Thomas Hobbes stellt in dem Zusammenhang eine Frage, die anscheinend für Chinesen so keine Rolle spielt:

„Werden in diesem Schiff nach und nach alle Planken durch neue ersetzt, dann ist es numerisch dasselbe Schiff geblieben; hätte aber jemand die herausgenommenen alten Planken aufbewahrt und sie schließlich sämtlich in gleicher Richtung wieder zusammengefügt und aus ihnen ein Schiff gebaut, so wäre ohne Zweifel auch dieses Schiff numerisch dasselbe Schiff wie das ursprüngliche. Wir hätten dann zwei numerisch identische Schiffe, was absurd ist.“

Das gilt anscheinend in der chinesischen Sicht nicht nur für Häuser, sondern für so ziemlich jeden Gegenstand, selbst wenn er nicht Stück für Stück ausgetauscht wird: Gut erhaltene Kopien sind schlecht erhaltenen Originalen sogar überlegen, was auch erklärt, dass häufiger nur Kopien zu Ausstellungen ins Ausland geschickt werden. Wer also in Zukunft entsprechende Schlagzeilen liest, weil mal wieder eine Ausstellung der Terrakottakrieger geplatzt ist, weiß jetzt, dass es sich nicht um Boshaftigkeit handelt, sondern einfach um ein anderes Kulturkonzept:

“Die chinesische Sprache kennt zwei verschiedene Begriffe für das Wort “Kopie”. Fangzhipin bezeichnet in etwa das, was wir eine Reproduktion nennen – eine Nachbildung, wie man sie in einem Museumsladen kaufen würde –, während fuzhipin für eine qualitativ sehr hochwertige Kopie steht, etwas, das der wissenschaftlichen Beschäftigung oder musealen Aufbewahrung würdig ist. (S.69)”

Stetige Erneuerung und Kopien sind also der chinesische Weg, um Kulturgüter zu erhalten. Ruinen haben im traditionellen chinesischen Denken keinen Platz. Das Problem daran ist aber, dass durch die Umbrüche im 20. Jahrhundert und die Verbrechen der Kulturrevolution die Fähigkeiten, die zur exakten Erneuerung alter Kunstwerke nötig sind, verloren gegangen sind. Das Resultat ist, dass die Ergänzungen weniger kunstvoll ausfallen, dass Details nicht exakt oder gar nicht kopiert werden und dass mit jeder Erneuerung das Original schwindet und grobschlächtiger wird. Informationen verliert. Und halt dann doch nicht mehr das Original ist, sondern eine schlechte Disneyland-Kopie.

Dazu kommt der Boom Chinas, der vor allem die Städte rapide verändert. Die Bilder vom Wachstum Shanghais sind heftig – wo vor ein paar Jahren nur ein paar Hütten standen, streben jetzt Wolkenkratzer in den Himmel. Das Dumme daran ist allerdings, dass diese Hütten natürlich nicht einfach Hütten waren, sondern natürlich alte Häuser, die zum Teil über Jahrhunderte stetig erneuert und gepflegt wurden. Der Bulldozer zerstört so nach und nach die chinesische Vergangenheit. Das Fazit ist hier sehr düster: Die Städte Chinas sind verloren, vom Boom zerstört und vernichtet.

Indien

Als nächste Station besucht der Autor Varanasi in Indien. In die heilige Stadt pilgern jedes Jahr unzählige Hindus, um die dortigen Schreine und Tempel zu besuchen und vor allem, um im heiligen Fluss Ganges zu baden. Diesem Bad wird in der religiösen Weltsicht der Hindus eine reinigende Wirkung zugeschrieben. Die Weltsicht der modernen Wissenschaft hingegen sieht dies ganz anders: Der Ganges ist verschmutzt. So verschmutzt, dass man in ihm nicht baden sollte. So verschmutzt, dass man sein Wasser nicht trinken sollte. So verschmutzt, dass er Krankheiten verbreitet. Deutsche Behörden würden ein “Baden Verboten”-Schild aufstellen, eine Kommission zur Sanierung des Flusses einsetzen und damit wäre die Sache geklärt – Indien funktioniert natürlich anders, schon alleine weil man einen wichtigen und elementaren Teil einer Religion nicht einfach per “Baden Verboten”-Schild abschaffen kann.

Stilles besucht daher einen höchst bemerkenswerten Mann: Veer Bhadra Mishra, der einerseits ausgebildeter Ingenieur ist, zum anderen aber als Mahant des Sankat-Mochan-Tempels einen gottesähnlichen Status besitzt. Er bemüht sich um die Qualität des Wassers, um den Menschen zu helfen:

“Ich bitte Sie, diese Menschen, die noch eine lebendige Beziehung zum Fluss haben, als eine bedrohte Art zu betrachten. Nicht nur Vögel und Pflanzen gehören dazu, sondern auch diejenigen, die diesen Glauben noch in sich tragen. Wenn man Vögel und Pflanzen retten kann, dann sollte es auch möglich sein, diese Menschen zu retten, indem man ihnen heiliges Wasser gewährt.” (S.110-111)

Der Knackpunkt hier ist der nötige Spagat zwischen Tradition und Moderne. Die Beziehung zum Fluss und zu Maa Ganga, der Mutter Ganges wird durch die Verschmutzung mit Fäkalien, Müll, Leichenteilen und so weiter erheblich gestört. Das kann man natürlich leugnen oder man versucht wie Mishra einen Weg zu finden. Er hat eine Stiftung gegründet, die in Zusammenarbeit mit amerikanischen Wissenschaftlern Kläranlagen errichtet. Stilles verwendet hier zwar etwas zu viel Platz auf die Techniken der Wasseraufbereitung, aber ins Auge gefallen ist mir vor allem ein Aspekt:

“Indien, das Land, das scheinbar keinen Widerstand bietet und doch unbezwingbar ist. Andere traditionsgeprägte Gesellschaften bewahren ihre Identität, indem sie sich gegen die Außenwelt “abhärten” – China, Burma und Saudi-Arabien mögen als Beispiele dafür dienen –, doch es könnte sich erweisen, dass sie viel verwundbarer sind als Indien, wenn sie erst einmal beginnen, sich zu öffnen. Indien ist eine sehr offene Gesellschaft, durch die zahlreiche Armeen gezogen sind. Dennoch hat es mit bemerkenswerter Konsequenz seine Identität bewahrt.” (S.115)

Besonders beeindruckt hat mich hier ein Beispiel: Als im Fernsehen eine Verfilmung des Ramayana ausgestrahlt wurde, stellten viele Inder ihren Fernseher auf den Hausaltar und beteten vor ihm. Man kann dies als Entweihung der Tradition deuten oder aber als geschickte Einbindung moderner Technik ins traditionelle Leben. Auf diese Weise lassen sich auch die Errungenschaften der modernen Technik leichter vermitteln:

“Die Strategie des Westens, auf die Angst vor einer möglichen ökologischen Katastrophe zu setzen, wir seiner Überzeugung nach nicht funktionieren. “Wenn sie zu Menschen, die eine lebendige Beziehung zum Ganges haben, hingehen und sagen: “Der Ganges ist verschmutzt, sein Wasser ist unrein”, werden sie antworten: “Hören sie mir damit auf. Der Ganges ist nicht verschmutzt. Sie beleidigen den Fluss.” Wenn Sie hingegen sagen: “Maa Gange ist unsere Mutter. Geht hin und schaut euch an, was dem Körper eurer Mutter alles zugemutet wird – Abwasser und Dreck. Sollen wir es hinnehmen, dass der Leib unserer Mutter mit Gülle beschmiert wird?”, dann werden Sie eine ganz andere Reaktion bekommen, und dann können Sie diese Energie für Ihr Ziel einspannen.” (S.137)

An dieser Stelle mache ich jetzt erstmal eine Pause, ansonsten wird der Beitrag zu lang. Die weiteren Stationen folgen dann in einem weiteren Artikel. Das Thema, wie sich kulturelles Erbe bewahren lässt und wie es verschwindet, ist nämlich noch deutlich komplexer.

Dieser Beitrag wurde unter Bücher abgelegt und mit verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.