Reisen an das Ende der Geschichte, Teil 2

Dies ist der zweite Teil einer Artikelserie über Alexander Stilles Buch Reisen an das Ende der Geschichte.

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Madagaskar
Die nächste Station seiner Reise führt Stille nach Madagaskar in den Ranomafana-Nationalpark. Madagaskar ist für Biologen ein wahres Paradies, da hier aufgrund der Entstehungsgeschichte der Insel sich eine Tierwelt ausgebildet hat, die weltweit einzigartig ist. Es ist nicht nur die Einzigartigkeit dieses Ökosystems, die es von sich aus schon schützenswert macht, sondern auch, dass die Wissenschaft und dadurch natürlich auch die gesamte Menschheit vieles von ihm lernen kann. Wenn die Aussage zutrifft, dass die Regenwaldgebiete Eigentum der gesamten Menschheit sind, dann trifft es hier besonders zu.
Aus diesem Grund wurden diverse Nationalparks eingerichtet, wodurch der Regenwald und vor allem die in ihm lebenden Lemuren geschützt werden sollen. Als weiteres Ziel sollen Touristen angelockt werden, die auf diese Weise natürlich Geld in die bettelarme Region bringen sollen. So gut das Projekt auf dem Papier klingt, so schlecht scheint es leider zu funktionieren: Abgesehen von diversen Streitereien zwischen den für das Projekt verantwortlichen Personen, die für einen Außenstehenden nur schwer zu überblicken sind und hier eigentlich auch nichts zur Sache tun, ist das große Problem die Abwägung zwischen den Interessen der Menschen un ddem Naturschutz, welche nur schwer unter einen Hut zu bringen sind. Aus Sicht der Naturschützer und aus Sicht der globalen Biodiversität ist ein radikaler Schutz des Waldes nötig. Am Besten wäre es, wenn keiner mehr im Wald jagen dürfte, kein Stück Land gerodet und auch keine Holzfäller mehr Bäume fällen dürften. Ein Ort, an dem die Natur sich selbst überlassen wäre, wo nur Forscher und Ökotouristen unterwegs wären.
Für die Anwohner des Nationalparkes hingegen sieht die Situation natürlich anders aus. Sie leben seit Generationen auch von den Ressourcen des Regenwaldes und sind auf ihn angewiesen, um zu überleben. Dazu kommt das extrem hohe Bevölkerungswachstum und es entsteht für sie eine Situation, die extrem brenzlig ist: Sie Kämpfen ums Überleben und direkt vor ihrer Haustür gibt es Land und Resourcen, die sie aber nicht nutzen dürfen, weil es ein Nationalpark ist. Dazu kommt, dass die durch den Park generierten Einkünfte ungleich verteilt sind – sie kommen nur einer kleinen Elite und nur wenigen Dörfern zugute. Auch Hilfsprojekte richten häufig enormen Schaden in der Sozialstruktur eines Dorfes an. Was auch nicht zu vergessen ist: Hilfsprojekte locken auch weitere Menschen aus entfernteren Gebieten an, die nicht direkt am Nationalpark liegen und von ihm profitieren könnten.
Ein Ausweg ist hier nur schwer zu finden. Sind das biologische Erbe und die biologische Vielfalt der Erde mehr wert als das Wohlergehen der Menschen vor Ort? Kann man ihnen einen Vorwurd machen, wenn sie diesen Schatz zerstören? Wie schützt man Natur und Menschen gleichzeitig? Was hat Priorität? Und haben die aktuell lebenden Menschen das Recht, etwas zu zerstören, das sie nicht geschaffen haben?

Kitawa
Das nächste Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, was in Gesellschaften, die ihre Traditionen nicht schriftlich, sondern mündlich von Generation zu Generation weitergeben, passiert, wenn diese Traditionslinie abbricht. Eine einmal verlorene Geschichte, ein nicht gelernter Tanz, ein falsch durchgeführtes Ritual und schon ist das „Original“ verloren. Auch wenn natürlich davon auszugehen ist, dass sich kulturelle Praxis auch trotz Bemühen der Bewohner irgendwie über die Jahrhunderte verändert hat und dass auch Ereignisse wie Naturkatastrophen oder Seuchen und Kriege die Träger der Überlieferung töten können: Es ist natürlich der Kontakt mit der westlichen „Zivilisation“, der in vielen traditionellen Gesellschaften zum Abbruch der Tradition führt. Dazu kommt noch die häufig zerstörerische Wirkung der christlichen Missionierung und Sprachen, Geschichten, Rituale, Kunstfertigkeiten und Wissen gehen unwiderruflich verloren.
Das kann mitunter absurde Züge tragen. Dieses Kapitel widmet sich dem Ethnologen Giancarlo Scoditti, der zu Beginn der 70er Jahre Feldforschungen auf der Insel Kitawa in Papua-Neuguinea betrieb und längere Zeit mit den Eingeborenen zusammenlebte. Mittlerweile ist er „der Mann, der sich erinnert.“ Da er die Bräuche aufschrieb und sie so vor dem Vergessen bewahrte, ist er mittlerweile der beste Kenner der Traditionen – und wird von den Eingeborenen selbst um Rat und Interpretation gebeten. Aufschreiben kann so etwas bewahren, was ansonsten verloren geht.

Somalia
Die nächste Station führt Stilles nach Somalia. Aus den Medien kennen wir es nur als bettelarmen „failed state“ voller Piraten, aber anscheinend sieht die Lage zumindestens im nördlichen Somaliland etwas besser und friedlicher aus (oder sah: Alexander Stilles schreibt 2002, in den 8 Jahren kann sich natürlich einiges verändert haben). Auf jeden Fall findet in Somalia gerade etwas statt, was Sprachwissenschaftler in Scharen zur Feldforschung ins Land treiben würde, wenn die Sicherheitslage es zuließe: Eine Gesellschaft, die traditionell auf mündlicher Überlieferung basiert und deren Versuche, eine einheitliche Verschriftlichung ihrer Sprache zu schaffen im Zuge von Sippenstreitigkeiten, Diktatur, Bürgerkrieg und fehlenden Autoritäten gescheitert sind und ind der ein Großteil der Menschen nicht Lesen und Schreiben kann, bekommt moderne Kommunikationsmittel in die Hände. Stilles betont immer wieder stark, welche große Rolle Gedichte, die in Somalia anscheinend traditionell einen hohen Stellenwert besitzen und die auf Kassette verbreitet wurden, beim Sturz des Diktators Barre hatten. Das gleiche gilt aktuell für Videokassetten und natürlich auch das Fernsehen. An dieser Stelle besicht Stilles den Dichter Hadrawi, der den Status eines Nationaldichters haben soll. Dieser gehört zu den „politischen Dichtern“, die mitgeholfen haben, Barre zu stürzen. Wie viele von Stilles Gesprächspartnern gehört er zu den „alten Männern“, die einerseits das Verschwinden ihrer traditionellen Lebensweise und den medialen Umbruch miterlebt haben und jetzt diesen Verlust der Traditionen beklagen. Gleichzeitig nutzt er natürlich auch die neuen Medien und ist so ein Moter dieses Wandels.
Mittlerweile – nach Stilles Besuch – tobt auch in Somalia der Kampf mit radikalen Islamisten, welche gerade diese Errungenschaften der modernen Technik verbieten. Gerade das Fernsehen und Musikanlagen stehen im Fokus dieser Idioten – wohl auch, weil sie sich der transformierenden Auswirkungen dieser Technik bewusst sind.

Vatikan
Es ist leider (?) ein Fakt, dass Sprachen aussterben und in Vergessenheit geraten. Meistens denken wir dabei an kleinere Sprachen mit wenigen Sprechern – der Prototyp einer aussterbenden Sprache ist der alte Mann auf einer abgelegenen Insel oder in einem nur schwer zugänglichen Dorf, der als letzter die Sprache seiner Vorfahren spricht. Seine Kinder beherrschen sie nicht mehr, sie sprechen jetzt die Sprache, die auch aus dem Radio kommt, aus dem Fernseher, die sie in der Schule lernen und die Jobchancen in der Stadt bietet. Das Klischee will es, dass der arme alte Mann dann alleine in seinem Dorf sitzt und die Sprache mit ihm ausstirbt.
So einfach ist es natürlich nicht: Das Aussterben einer Sprache hat einigen Vorlauf. Und es passiert nicht nur irgendwo weit weg in asiatischen Gebirgstälern, auf ozeanischen Inseln oder im afrikanischen Dschungel, sondern auch bei uns. Die Sprache, die hier in Europa in den letzten 50-100 Jahren rapide an Bedeutung verloren hat und von einer lebendigen, gesprochenen und geschriebenen Sprache zu, naja, einer toten Sprache geworden ist, ist natürlich Latein.
Es war natürlich nie nur die Sprache der Römer, sondern auch über Jahrhunderte die Sprache der Gebildeten, der Kirche und eigentlich von allem. Es war die Lingua franca Europas. Der Niedergang ist umso heftiger. Trotz vehementem Widerstanes und diversen Prüfungsordnungen diverser Universitäten, die das Latinum verlangen, ist Latein auf dem absteigenden Ast. Wissenschaftler schreiben schon lange nicht mehr Latein, sondern benutzen Englisch. Mittlerweile ist auch die aktive Sprachkompetenz verloren gegangen – wer kann heute noch Latein schreiben oder gar sprechen, wie es früher durchaus noch üblich war? Wer das Latinum besitzt, kann mehr oder weniger gut die alten Texte entziffern. Selbst welche schaffen oder gar Latein sprechen kann er nicht. Latein ist so wirklich zu einer toten Sprache geworden und dies ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte.
Dass dies nicht so sein muss und dass es auch Menschen gibt, die eine lebendige und begeisterte Beziehung zu dieser Sprache besitzen, beweist Reginald Foter, der Leiter der Sekretär der lateinischen Briefe des Vatikans. Sein Job ist es, die offiziellen Verlautbarungen des Heiligen Stuhles, die natürlich schon seit einer Weile nicht mehr auf Latein verfasst werden, zu übersetzen, denn immerhin werden sie noch auf Latein herausgebracht. Foster ist begeistert von Latein. Er versteht es nicht nur perfekt, er spricht es auch fließend und er hat es nicht nur zum Beruf gemacht, sondern gibt in seiner Freizeit auch noch kostenlose und mittlerweile weltberühmte Lateinkurse. In diesen behandelt er Latein als lebendige Sprache, er spricht es, er arbeitet von Anfang an mit Originaltexten und er reduziert die Textauswahl nicht nur auf Caesar, Cicero & Co, sondern er schöpft aus der gesamten Breite der lateinischen Literatur. (Wer mehr über diese Lehrmethoden wissen will, kann sich auch diese Webseite anschauen, auch YouTube hat einige Videos)
Der Niedergang des Lateinischen bedeutet natürlich auch, dass viele Werke, die elementar wichtig und grundliegend für unsere Kultur sind, für viele einfach nicht mehr verständlich sind. Von vielem gibt es Übersetzungen, aber eben nicht von allem. Cicero gibt es, mittelalterliche Urkunden eher seltener. Und es ist nicht immer so, dass das örtliche Tourismusbüro eine Tafel mit einer Übersetzung neben die Denkmalinschrift hängt.
Es sind also nicht nur obskure Kleinsprachen, die aussterben können – darüber können auch die Lateinschüler nicht hinweg täuschen. Oder die Studenten, die verzweifelt bis zur Zwischenprüfung ihr Latinum nachmachen müssen. Die lebendige Verbindung zur Sprache ist verloren gegangen und Ausnahmeerscheinungen wie Reginald Foster zeigen dies noch deutlicher.

Der finale Teil der Serie, welcher sich mit der Bibliothek von Alexandria, obsoleter Technologie und diversen Schlussbetrachtungen befasst, erscheint höchstwahrscheinlich nächste Woche.

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