Dies ist der dritte Teil einer Artikelserie über Alexander Stilles Buch Reisen an das Ende der Geschichte.
Alexandria
Die Bibliothek von Alexandria ist das nächste Thema. Der Verlust der antiken Bibliothek ist immer noch der Stachel in der Seite der Alten Geschichte. Tausende Schriftrollen mit unbekannten Werken der berühmtesten Schriftsteller und Wissenschaftler der Antike, philosophische Gedanken, die jetzt für immer verloren sind und Entdeckungen, die hunderte Jahre später noch einmal entdeckt werden mussten. Wir können aus Erwähnungen in uns erhaltenen Büchern errechnen, dass uns nur jedes 40. antike Buch überliefert worden ist – und diese Zahl erfasst noch nicht die Bücher, von denen wir gar nichts wissen und von denen uns selbst der Name nicht erhalten ist. Der Verlust der Bibliothek von Alexandria ist also sehr schmerzhaft – und erstaunlicherweise wissen wir noch nicht mal genau, wie sie genau verloren gegangen ist.
Die Forschung diskutiert mehrere Möglichkeiten: Entweder waren es die Römer im Kampf um Ägypten. Das ist wohl das populärste Bild: Caesar als der Mann, der die Bibliothek in Flammen aufgehen ließ, der rote Feuerschein des brennenden Wissens, bekannt aus unzähligen Bildern, Filmen und Büchern. Oder es waren die Christen. Fundamentalistische Radikale, die das Wissen der alten Welt zerstörten (siehe Agora). Oder es waren andere Kämpfe um die Stadt. Oder es waren die islamischen Eroberer – wir wissen also noch nicht einmal, wie dieser Wissenschatz verloren gegangen ist. Vielleicht war es auch schlicht und einfach Vernachlässigung und nicht ein einziges Ereignis: Papyrus hält nicht ewig und wenn die Texte nicht regelmäßig auf eine neue Schriftrolle kopiert werden, dann zerfällt das Wissen der Welt einfach.
Washington DC
Das ist natürlich kein Problem der alten Welt, sondern passiert jeden Tag um uns herum – wir speichern Daten auf Datenträgern ohne Zukunft. Seien es die alten Urlaubs-Dias. Die VHS-Kassetten. Oder gar Betamax. Tonbänder. Musikkassetten. Schallplatten. 3,5"-Disketten. 5 1/4"-Disketten. Zip-Disks. Handys ohne Sync. Und so weiter, die Liste ist praktisch endlos – wirklich zukunftsträchtig ist das aber nicht. Dazu kommen im PC-Bereich noch diverse Datenformate, die in ein paar Jahren nicht mehr lesbar sind. Oder Daten, die mit den Anbietern, bei denen sie gespeichert sind, untergehen. Gibt es Facebook, Twitter, Flickr oder YouTube noch im Jahr 2050? Wohl kaum. Nicht nur die Bibliothek von Alexandria verfiel, auch wir kopieren unsere "Schriftrollen" zu selten.
Alexander Stilles besucht hier die Library of Congress in Washington DC, deren Aufgabe genau die Sicherung unseres kulturellen Erbes ist. Es klingt so banal, aber die Probleme sind uns allen bekannt und eigentlich muss man sie auch nicht weiter durchkauen – Datenträger veralten, die Kosten, um Filme, Musik, Bilder & Co zu erhalten sind nicht kompatibel zum Budget der Archive, urheberrechtliche Probleme lauern an jeder Ecke, die Archivierung von Computern führt zu weiteren, ungelösten Problemen und die Verwaltung (und wir alle) produzieren immer mehr Material, das alle Magazine zu sprengen droht. Es droht auch eine neue Unübersichtlichkeit – Historiker müssen das relevante Material erstmal finden.
Fazit
Was ist jetzt das Fazit? Unser kulturelles Erbe ist auf jeden Fall überall in Gefahr, die Frage ist nur, warum das so ist. Alexander Stilles liefert dafür in seinem Buch keine Erklärung, ihn interessieren eher die Folgen dieser Entwicklung: Wer die lebendige Verbindung zur Vergangenheit einmal verloren hat, der neigt auch dazu, deren Relikte zu zerstören. Seien es die chinesischen Städte, geplünderte ägyptische Gräber, abgeholzte Regenwälder oder Geschichten, die nicht mehr erzählt werden: Es geht etwas verloren und mit jedem Verlust steigt auch die Neigung, weitere Kulturgüter zu zerstören.
Die Gründe dafür sind klar und diffus zugleich. "Die Globalisierung" als Ursache klingt zwar simpel, trifft es aber auch nicht. "Modernisierung", "Der westliche Einfluss" etc. auch nicht. Diese Erklärungen greifen einen Schritt zu kurz. Zuerst muss man leider feststellen, dass diese Entwicklungen nichts neues sind. Momentan finden sie zwar an vielen Orten auf dem Globus parallel statt, aber der Verlust der Verbindung zur Vergangenheit betraf auch schon unsere Vorfahren in ihr. Praktisch alle uns bekannten Kulturen haben irgendwann den Wandel zur Schriftkultur durchgemacht. Dabei gingen jeweils auch Bedeutungen, Geschichten und Traditionen verloren. Völker sind auch ausgestorben oder wurden brutal vernichtet, so dass die Träger der mündlichen Überlieferung verschwanden. Seien es die Indianerkulturen Nord- und Südamerikas, die europäischen dörflichen Kulturen generell und insbesondere während Ereignissen wie der Pest oder des dreißigjährigen Krieges, seien es die Transformationsprozesse der Industriellen Revolution – das, was wir von der Vergangenheit wissen, ist extrem lückenhaft. Es ist zwar traurig, aber das Verlieren von Traditionen gehört anscheinend zur Geschichte dazu.
Weiterhin scheinen viele der von Stilles angesprochenen Themen vom globalen Bevölkerungswachstum verursacht zu sein. Die Pyramiden lagen Jahrhunderte abgelegen in der Wüste, jetzt umgibt sie die größte Stadt Afrikas. Chinas Städte haben ihren historischen Kern nicht nur aus purer Ignoranz verloren, sondern schlicht und einfach auch, weil 1 Milliarde Chinesen irgendwo wohnen müssen, was in den traditionellen Häusern und mit traditioneller Bauweise einfach nicht geht. Auch die Verschmutzung des Ganges hat mit der stark gewachsenen Einwohnerzahl Indiens zu tun. Der Druck auf die Regenwaldgebiete in Madagaskar hängt auch damit zusammen, dass die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen knapp werden. Es ist eng geworden auf der Erde und jahrhundertelang in Ruhe gelassene Orte spüren diesen Druck jetzt stark und drohen zu verschwinden. Andere Orte sind bereits durch den starken Bevölkerungszustrom "verschwunden" (siehe auch das mittelalterliche Ruhrgebiet).
Die Auswirkungen der westlichen Moderne sind natürlich verheerend für traditionelle Kulturel, aber es ist schwer, einen Schuldigen dafür zu bestimmen. "Die westliche Moderne" an sich agiert eh nicht. Einzelne Menschen schon eher, deren Motive sind allerdings so unterschiedlich, dass sie schonwieder schwer zu greifen sind. Was hier agiert scheinen drei Faktoren zu sein, auch wenn dies natürlich extrem verkürzt ist: Zum einen agiert eine reine kapitalistische Logik – überall dort, wo man etwas verkaufen kann, wo Gewinne winken, wo jemand seinen Lebensunterhalt verdienen kann, entstehen Kontakte, die traditionelle Werte zum wanken bringen können oder die örtliche Ökonomie aus dem Gleichgewicht bringen – wenn plötzlich moderne Boote mit Außenbootmotor angeboten werden, gerät der örtliche Kanubauer trotz seiner kunstvollen Verzierungen in Probleme.
Ein weiterer Faktor scheint die von Stilles nur randständig angeprochene Missionstätigkeit diverser Religionen zu sein. Kultur und Religion sind immer eng miteinander verknüpft und häufig investieren Menschen einen größeren Teil ihrer ökonomischen Überschüsse in die Produktion diverser Gegenstände oder Gebäude, welche die Götter oder den Gott verehren, besänftigen, huldigen oder beschwichtigen sollen. Seien es mittelalterliche Kathedralen, aztekische Tempel oder die geschnitzten Kanus der Polynesier: Die Religion spielt immer eine Rolle. Umso eftiger sind natürlich die Auswirkungen der Missionierung, durch die nicht nur neue Kunst, sondern auch neue Gebräuche und Traditionen eingeführt werden. Kombiniert man dies mit Fanatikern wie Diego de Landa, der alle auffindbaren Schriften der Maya verbrennen ließ, weil sie aus seiner Sicht heidnisches Teufelswerk waren, dann sind die kulturellen Auswirkungen der Missionierung verheerend.
Den letzten Punkt kann man vielleicht als "Versprechen eines besseren Lebens" beschreiben. Dieses Versprechen ist wohl einer der großen Anziehungspunkte des "Westens", auch wenn es häufig nicht erfüllt wird. Das Leben in vielen traditionellen Gesellschaften ist häufig sehr hart und autoritär: Vieles dreht sich um die Aufrechterhaltung eines kargen Lebensstiles. Stilles spricht von den Frauen der Insel Kitawa, deren größter Wunsch es ist, einen Aluminiumtopf zum Kochen zu bekommen. Es ist auch verständlich, wenn Menschen moderne Schulmediziner aufsuchen und nicht den traditionellen Medizinmann – auch wenn dadurch die Tradition verloren geht und dieser arbeitslos wird. Weiterhin ist das Leben in vielen Gesellschaften häufig extrem autoritär und restriktiv. Seien es Kastenwesen, Familienstrukturen, religiöse Ge- und Verbote oder Heiratsbeschränkungen – der "Westen" (oder eher der Gang in die nächste Großstadt) bietet das Versprechen von Freiheit. Und das kann man keinem Vorwerfen.