So, ich bin zurück vom Historikertag 2010 in Berlin. Bevor ich mich in den nächsten Tagen mit den von mir besuchten Museen und den einzelnen Sektionen des Historikertages und deren Inhalten beschäftige, kommen jetzt erstmal ein paar allgemeine Eindrücke aus Berlin.
Irgendjemand hat sein Abitur bestanden, hatte eine entsprechend gute Note, um den NC zu packen, war ideologisch zuverlässig, hat das Geld für ein Studium zusammenbekommen, hat ein nicht einfaches Architekturstudium bestanden, einen Job als Architekt bekommen, dann den Auftrag für ein Großprojekt am Alexanderplatz für die Spitzenwohnungen in der besten Lage für Parteibonzen und dann… baut er dieses Gebäude.
Der Blick auf die Stadt. Ich habe leider kein Foto vom nächtlichen Alexanderplatz, aber das, was da so alles an Leuchtreklame nachts schimmert könnte manch einen von einer symbolischen Inbesitznahme des zentralen Platzes der DDR durch den Kapitalismus sprechen lassen. Gerade, da momentan passend zum Einheitsjubiläum eine Ausstellung auf dem Platz ist und man dort auch Bilder des “alten” Alexanderplatzes sehen kann, fällt der Unterschied extrem auf. In den 20 Jahren hat sich Berlin radikal verändert, was man wirklich an jeder Ecke merkt.
Was man vielleicht erst durch einen Besuch in Berlin wirklich verstehen kann, ist die Gentrifizierungsdebatte. Der Begriff bezeichnet die schleichende Übernahme eines ärmeren Stadtviertels durch reichere Bevölkerungsschichten, die zunehmend die ursprünglichen Bewohner verdrängen, weil durch Sanierungen und Stadtteilaufwertung die Mieten stark steigen. Was extrem abstrakt wirkt, kann man in Berlin wirklich live beobachten und es ist nicht gerade schön anzusehen. Die neuen Bewohner pflegen auch einen extrem hippen Habitus und können auch auf Fotoläden zurückgreifen, die fast alle Modelle der Holga im Schaufenster präsentieren. Es gibt auch Straßen, die nur voller unverschämt teurer Klamottenläden mit ironischen Namen sind und Cafés, in der immer eine Traube Hornbrillenträger mit Macbook einen Espresso trinkt. Andere Stadtteile sind schöner und haben mehr Flair.
Das Holocaust-Mahnmal. Ich habe mich einfach mal 10 Minuten auf eine Bank in der Nähe gesetzt und geschaut, wie das Mahnmal genutzt wird und bin jetzt der Überzeugung, dass die jetzige Konzeption des Mahnmales eine eher schlechte Idee war. Die Ausstellung unter dem Mahnmal ist natürlich gut gemacht und erfüllt ihre Funktion. Aber oben ist von einem würdevollen Gedenken an den Holocaust nichts zu spüren: Jugendliche picknicken gemütlich, Touristen fotografieren sich gegenseitig, kleinere Kinder rennen spielend umher, natürlich versucht jemand über die niedrigeren Stelen zu springen und Männer mit digitalen Spiegelreflexkameras versuchen möglichst “künstlerische” Bilder zu schießen, die sie nachher auf Flickr hochladen wollen, beschweren sich dann aber bei ihren Begleiterinnen, dass jemand anderes in ihr Bild gelaufen ist. Nebenan tobt der Verkehr, Schulklassen lärmen herum und der eigentliche Zweck geht im Tourirummel verloren.
Passend zum Jubiläum und dem damit verbundenden Gedenken auch an den Fall der Mauer wurde das Brandenburger Tor wieder abgesperrt, mit einem provisorischen Zaun versehen, der von privaten Sicherheitskräften genau beobachtet wurde. Das diente zwar der Vorbereitung der Einheitsparty, entbehrte aber trotzdem nicht einer gewissen Ironie.
Ansonsten herrscht auf dem Pariser Platz auch hier ein Touristenrummel, der ernsthaft unangenehm ist. Wer will, kann sich vor dem Brandenburger Tor gegen Bezahlung mit einem als Indianer verkleideten Mann fotografieren lassen. Oder Segway-Touren buchen. Oder mit einem merkwürdigen Fahrrad eine Stadttour machen. Alles Dinge, die keiner braucht, die aber sehr teuer sind. Auch die Gegend um den Checkpoint Charlie sollte man besser großräumig umgehen und etwas anderes besuchen.
Ebenfalls von Touristen wird der Reichstag belagert. Die Schlange ist unendlich lang und man kann gerne mehrere Stunden warten, bis man endlich den Plenarsaal sehen darf und auf das Dach des Reichstages mit der Kuppel darf. Kann man machen, muss man aber nicht. Die Besucher des Historikertages hatten allerdings die Chance auf eine Extrawurst: Separater Eingang, keine Wartezeit und Führung durch das gesamte Gebäude. Das ist auf jeden Fall besser als stundenlang in der Schlange zu stehen und daher hab auch ich es mal in den Reichstag geschafft. Das ist interessant, das Gebäude ist enorm monumental und gleichzeitig modern (auch wenn die Plenarsaalsitze einen 90er Jahre-Charme ausstrahlen). Der Kontrast zwischen dem abendlich ruhigen Reichstagsfluren und dem dann urplötzlich auf dem Dach ausbrechenden Rummel ist übrigens enorm, dafür entschädigt der Blick über das nächtliche Berlin.
Ein paar weitere verstreute Beobachtungen:
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Für jede Historikertag-Tragetasche voller Werbematerial musste ein kleiner Baum sterben.
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Das Buch, das am meisten Verwunderung auslöste, war “Der Schuh im Nationalsozialismus”.
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Es bietet sich an, vor einem Vortrag sein Windows zu aktivieren. Ich habe es zweimal gesehen, dass eine Aktivierungsmeldung aufpoppte und jedes Mal hat sie den Referenten in größere Verwirrung gestürzt. Alternativ sollte Microsoft darüber nachdenken, dass solche Nachrichten nicht während PowerPoint-Präsentationen anzuzeigen, da eigentlich klar sein sollte, dass die Leute während einer PowerPoint-Präsentation im Vollbildmodus anderes zu tun haben als ihr Windows zu aktivieren.
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Ständig vorbeifahrende Züge vor dem Fenster lenken extrem ab. Außerdem ist ein voll ausgewachsener ICE insgesamt ca. 400 Meter lang und zieht sich beeindruckend durch die Stadt.
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Die Kaffeeversorgung war exzellent.
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Die Sektion, über die am meisten diskutiert wurde, war “Homo Portans”.
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Um Adorno & die gesamte Frankfurter Schule gibt es einen kaum erträglichen Personenkult.
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Historiker, die verschwurbelte Bücher schreiben, reden auch extrem verschwurbelt. Und umgekehrt.
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Die Geschichte wäre anders verlaufen, wenn statt Klaus Kinkel Klaus Kinski Außenminister geworden wäre.
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Lehrerinnen, die für eine gesamte Klasse das Programm bestimmen und wenn ihnen die Sektion nicht gefällt, mit der gesamten Klasse beleidigt aus dem Raum ziehen, sind schrecklich. Bitte lasst euren Schülern etwas mehr Freiheit, liebe Lehrer.
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Wer jetzt nachträglich die Tweets zum Historikertag anguckt, bemerkt, dass sie schlicht und einfach gar nichts sinnvolles enthalten. Die meisten Leute twitterten nur, dass sie in irgendeiner Sektion waren oder verwiesen auf Artikel zum Historikertag.
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Auf Dauer sind die typischen Hörsaalsitze, Holzstühle oder Klappstühle extrem unbequem.
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Die Organisatoren hätten bei der Abschlussveranstaltung im Pergamonmuseum Humor bewiesen, wenn sie die Bestuhlung um 90° gedreht hätten und David Blackbourne vom Pergamonaltar reden lassen hätten. Oder auch nicht.