Weiter geht es mit der Nachberichterstattung zum Historikertag: Der Titel der Sektion “Ökonomien der Aufmerksamkeit” geht auf die Thesen von Georg Franck zurück, die er z.B. in diesem Telepolis-Artikel formuliert. Im Kern formuliert er, dass im Informationszeitalter die Aufmerksamkeit von Menschen zu einer Art Währung geworden ist:
“Noch nie huldigten die Menschen im Kollektiv mit solcher Hingabe ihrer Anziehungskraft auf fremde Aufmerksamkeit wie in den heute reichsten und höchst zivilisierten Gesellschaften. Je reicher und offener die Gesellschaft, um so unverhohlener rückt der gesellschaftliche Ehrgeiz ins Zentrum der Lebensinhalte. Nicht der sorglose Genuß, sondern die Sorge, daß die andern ja auch einen wahrnehmen, wird zum tragenden Lebensgefühl und zur herrschenden Lebensangst in der Wohlstandsgesellschaft.”
In einem Zeitalter, in dem es unmöglich geworden ist, allen verfügbaren Freizeitmöglichkeiten nachzugehen, in dem es unmöglich ist, alle Zeitungen und Bücher zu lesen, in dem immer mehr Akteure nach Aufmerksamkeit gieren, ist diese Aufmerksamkeit zunehmend bares Geld wert. Das beste Beispiel dafür ist die Werbung: Das Geschäftsmodell beispielsweise eines privaten Fernsehsenders ist das Versprechen an die Werbekunden, dass die Zuschauer auch ihre Werbung wahrnehmen. Der ganze Rest des Fernsehprogrammes wird diesem Ziel untergeordnet: Bekannte Filme werden gezeigt, weil viele Leute sich dann vor den Fernseher setzen und damit auch die Werbung schauen – und diese Aufmerksamkeit verkaufen RTL & Co.
Diese Sektion nahm daher die Marktforschung in den Fokus. Diese hat mittlerweile in der Gesellschaft einen extrem wichtigen Status erlangt. Massenmedien richten sich nach den Ergebnissen der Marktforschung und ohne vorige Marktforschung wird keine Zeitung oder Zeitschrift mehr konzipiert. Die Fernsehsender hängen wie Junkies an der Nadel der Quotenmessung. Das gesamte Internet hängt von den Werbeerlösen ab, deren Effektivität mit jedem Klick in gewaltigen Datenbanken gemessen wird. Und auch die Politik zittert vor den aktuellen Umfragen. Diese Entwicklung ist allerdings eine Entwicklung des 20. Jahrunderts und v.a. eine der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Zu Beginn der Sektion beschäftigte sich Malte Zierenberg mit der Figur des Fernsehzuschauers. Hier wurde die Rolle von privaten Sendern betont, die auf den Verkauf von Aufmerksamkeit und damit auf deren Messung angewiesen sind. Mit immer ausgefeilteren Methoden wurde zunächst in den USA versucht, den Zuschauer zu untersuchen und zu schauen, wer was wann warum und wie schaut, damit man das eigene Programm danach ausrichten kann und natürlich den Werbetreibenden genau die passende Zielgruppe anbieten konnte. Aber nicht nur private Sender spielten hier eine Rolle, auch die britische BBC mischte mit. In Deutschland verlief diese Entwicklung anders: Anfangs bestand mit der ARD nur ein Programm, die zwar auch Zuschauerforschung betrieb, aber der Wettbewerb kam erst mit der Gründung des ZDF und der Gründung von Infratam 1963 richtig in Schwung. Der Start der privaten Sender Anfang der 1980er Jahre beschleunigte ihn immer mehr.
Malte Zierenberg betonte immer wieder den Konstruktionscharakter der künstlich gebildeten Zuschauergruppen. Die Kritik an der typischen “werberelevanten Zielgruppe 14-49” ist natürlich altbekannt, aber auch sonst wird natürlich indem der Zuschauer durch die Untersuchung zu einer marktförmigen und handelbaren Einheit wird eine soziale Typisierung durchgeführt. Der Zuschauer wird einer bestimmten Kategorie zugeordnet und Sendungen für eine bestimmte Zuschauergruppe produziert. Gleichzeitig kann sich der Zuschauer durch diese Typisierung in der Gesellschaft verorten und diese statistischen Daten wurden auch ganz bewußt verbreitet. Es entstand so eine nationale Mediengesellschaft, in der praktisch jeder seinen eigenen Platz hatte. Weiterhin betonte Zierenberg die Mechanismen, mit denen die Zuschauer in die Fernsehsendungen einbezogen wurden.
Danach folgte Bernhard Fulda mit einem Vortrag über politische Meinungsumfragen zwischen 1930 und 1950, der sich sehr stark auf den Gründungsmythos der Meinungsforschung konzentrierte. Es ging um die geschickte Art und Weise, mit der George Gallup 1936 sich und seine neue Methode der Meinungsforschung bewarb. Bis dahin war der etablierte Weg in den USA das Ergebnis einer Präsidentschaftswahl vorherzusagen ein “straw poll”, also eine Testabstimmung. Die bekannteste führte das Magazin “Literary Digest” durch. Gallup enterte diesen straw poll und sagte das Ergebnis der Probeabstimmung mit seinen Methoden erstaunlich exakt voraus, bevor dieser überhaupt erst begonnen hatte. Die von ihm geschaffene, kostengünstige Alternative zu den aufwändigen straw polls verbreitete sich in der Folge zunehmend und konnte auch nicht durch das Desaster bei der Wahl 1948 gestoppt werden. Ausgehend von diesen Erfolgen verbreitete sich die Methode und Gallup-Institute wurden u.a. in Frankreich und Großbritannien gegründet und die Methode schwappte auch nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland (Stichwort: Noelle-Neumann).
Was ebenfalls bei diesen Umfragen immer zu beachten ist: Sie kosten Geld. Umfrageunternehmen sind kommerzielle Unternehmen, die Geld verdienen wollen. Daher verkaufen sie ihre Dienstleistungen an praktisch jeden, der Geld für eine Umfrage zahlt. In dem Sinne ist es auch immer wieder interessant, wer diese in Auftrag gibt. Bernhard Fulda verwies auf die häufig vorhandene Zusammenarbeit von Presse und Umfrageunternehmen: Eine Zeitung gibt eine Umfrage in Auftrag, deren Ergebnis sie spektakulär als Nachricht inszenieren kann. Dabei profizieren sowohl die Zeitung und das Umfrageinstitut von der so generierten Aufmerksamkeit.
Anschließend sprach Christiane Reinecke über die Etablierung von Umfrageinstituten in der DDR, die erst in den 60ern und damit etwas später als in Westdeutschland erfolgte. Dabei wurde vor allem der Unterschied zur “westlich” geprägten kommerziellen Umfrage betont: Während es sich im Westen um ein kapitalistisches Projekt handelte, das der Generierung eben der Aufmerksamkeit diente, handelte es sich in der DDR um ein politisches Projekt. Es ging darum, verlässliche Planungsdaten für die Planwirtschaft zu generieren. Dabei orientierten sich die Umfrageinstitute am Marxismus-Leninismus und der Kategorie des Neuen Menschen, rezipierten aber auch die westliche Entwicklung. Gleichzeitig kontrollierte der Staat allerdings die Meinungsumfragen stark: Zum einen ist von einer gewissen Selbstzensur auszugehen, sowohl der Fragen als auch der Antworten. Weiterhin wurden die Ergebnisse nicht wie im Westen veröffentlicht oder gar medial inszeniert, sondern blieben geheim und waren nur einem kleinen Kreis zugänglich. Dies brachte Christiane Reinecke dazu, den Mythos von der Meinungsumfrage als “demokratische Wissenschaft” in Frage zu stellen.
Kerstin Brückweh wechselte von den Meinungsumfragen zum Thema Geodemographics. Diese funktionieren durch die Zusammenführung von bestehenden Daten und sind gerade in Großbritannien stark verbreitet. Als erste Anwendung dieser Geodemographics gilt der Cholera-Ausbrauch 1854 in London. Indem der Arzt John Snow die Todesfälle auf einer Karte markierte, konnte er feststellen, dass diese sich im Bereich um eine ganze bestimmte Wasserpumpe gruppierten. Nachdem er die Pumpe geschlossen hatte, kam die Epidemie zum erliegen. Heute hat sich eine Industrie entwickelt, bei der man einfach das Gruseln bekommt. Aus frei verfügbaren Quellen werden Typisierungen von Wohngebieten (und damit Menschen) durchgeführt, die allerdings weder die Mechanismen dieser Typisierungen beeinflussen können noch die Ergebnisse beeinflussen. So kann es einem auch in Deutschland passieren, dass einem ein Onlineshop den Versand per Rechnung verweigert, weil die lieben Nachbarn ihre Rechnung nicht bezahlt haben – auch wenn man selbst immer pünktlich und zuverlässig bezahlt hat. Kerstin Brückweh beschrieb diesen Mechanismus als “black box” – irgendwelche Daten gehen in die Firmen hinein, die mittels geheim gehaltener Techniken andere Daten daraus berechnen. Gerade das macht diese Quellen für uns Historiker so schwierig – die Daten sind extrem interessant, das “Black box-Prinzip” macht uns aber leider eine Quellenkritik unmöglich. Wir müssen den uns unbekannten Mechanismen vertrauen und haben keine Möglichkeit sie zu überprüfen.
Anschließend beschäftigte sich Anja Kruke mit der Entwicklung des Eurobarometers, einem irgendwie doch gescheiterten Versuch, Aufmerksamkeit für Europa und europäische Themen mit Hilfe von Umfragen zu schaffen. Die lange Geschichte des Eurobarometers rekapituliere ich hier jetzt nicht, aber es zeigt sehr schön, dass es gerade eben nicht möglich ist, künstlich Aufmerksamkeit für bestimmte Themen zu schaffen, die eben die Leute eigentlich nicht interessieren. Die Lenkung der Aufmerksamkeit und damit die Lenkung der Wahrnehmung und der Verwaltung eines knappen Gutes ist eben nicht ohne weiteres möglich.