Die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ und die „Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen“ gehört zu den Konzepten, die einen als Erstsemester am meisten überraschen. Es ist anfangs schwer vorzustellen, dass es einen wie auch immer gearteten Fortschritt gibt, dem man eine wirklich revolutionierende Wirkung attestieren kann – industrielle Revolution, elektrisches Licht, moderne Medizin und diverses andere – und dass es einen Haufen Leute gibt, die diesen einfach ignorieren und weiter so leben wie vorher. Der noch unbedarfte Erstsemester findet es einfach unglaublich, dass etwa die typischen Dorfstrukturen sich trotz rasanter Urbanisierung, industrieller Revolution und sozialen Entwicklungen so lange halten. Irgendwann legt der arme Ersti sich dann ein zynischeres Geschichtsbild zurecht und erkennt die unglaubliche Beharrlichkeit des „Das haben wir schon immer so gemacht“-Argumentes. Oder wie William Gibson es so schön formuliert hat – The future is already here — it’s just not very evenly distributed.
Beispiel gefällig? Das Statistische Bundesamt hat herausgefunden, dass 17% der deutschen Bevölkerung zwischen 18 und 74 Jahren noch nie (!) im Internet waren. Siebzehn Prozent! Das sind, wenn man es auf die Bevölkerungszahl hochrechnet, immerhin knapp 14 Millionen Menschen, die sich von der technischen Entwicklung abgekoppelt haben.
Es sind vor allem die alten Menschen, auch wenn ich das nicht verstehen werde – denn wer heute 74 ist, der war damals, als irgendwann 1998 bis 2000 das Internet wirklich wichtig wurde, zwischen 61 und 63 Jahre alt. Und als die Computer irgendwann in den späten 1980ern zum Massenmedium wurden, waren selbst die ältesten Internetverweigerer noch fast jung. In der Altersklasse von 55 bis 74 Jahren waren 42 % noch nicht online – aber erstaunlicherweise waren auch „unter 10%“ der jüngeren Altersgruppen noch nicht im Internet. Hier lässt sich in den Zahlen ein klarer Zusammenhang zwischen Bildung und Internetnutzung feststellen.
Schaut man sich den europäischen Vergleich an, steht Deutschland sogar noch recht gut dar: In Rumänien waren 57% noch nicht im Internet und in Griechenland sind es 52%. Selbst im Spitzenland Schweden leben 7% der Menschen ohne digitale Vernetzung, weder privat noch auf der Arbeit.
Die Leute, welche das Internet dann einmal genutzt haben, bleiben zum Großteil auch dabei. In Deutschland nutzen es 74% der Menschen regelmäßig (was „in den drei Monaten vor der Erhebung durchschnittlich einmal pro Woche“ bedeutet), was bei 17% Totalverweigerern nur ca. 9% an unregelmäßigen Nutzern ausmacht.
Hier entwickelt sich ein neuer, digitaler Analphabetismus. Während ein großer Teil der Gesellschaft sich ins Digitale stürzt und fast schon zu viel Zeit mit ihren immer leistungsfähigeren Computern, Laptops, Netbooks, Smartphones oder Tablets verbringt, verpasst ein Teil der Gesellschaft diese Entwicklung. Durchschnittlich sitzt jeder Deutsche anscheinend 140 Minuten pro Tag vor dem Rechner. In dieser Durchschnittszahl wurden auch die Nicht-Nutzer einbezogen, die wirkliche Zeit liegt also noch höher. 23% zählen sogar zu den Intensivnutzern mit über 5 Stunden täglich.
Die Zeit ist hier aber nicht das entscheidende Kriterium, sondern vor allem, dass immer mehr elementare Dinge ins Internet verlagern. Behörden stellen ihre Formulare häufig nur noch online zur Verfügung, Unis erst recht. Bewerbungen erfolgen ebenfalls immer öfter online. Die Webseite ersetzt den Katalog. Der Fachhandel vor Ort wird von Internetversandhändlern verdrängt. Noch gibt es die gedruckten Busfahrpläne, die gedruckten Telefonbücher, den Quelle-Katalog auf Papier. Aber wie lange noch?
Ist es wirklich noch möglich, richtig an der Gesellschaft teilzunehmen, wenn man keinen Internetanschluss hat? Und wenn man das Internet nie genutzt hat und nicht versteht, endet man dann nicht so wie die weltfremden CDU-Netzpolitiker? Wenn man das Konzept von dezentralen Netzwerken nicht versteht, bekommt man nicht einfach unglaubliche Panik bei den Medienberichten über das Internet? Was denkt so ein Mensch, wenn Anonymous einen simplen, harmlosen DDOS auf die PR-Seite von EDF startet und in den Zeitungen und Nachrichten dann laut „Hacker greifen Atomkonzern an“ verkündet wird? Und welche Ängste muss eine an und für sich stinknormale Organisation wie Wikileaks verursachen? Was wird denn in den traditionellen Medien wirklich über das Geschehen im Internet vermittelt? Da wimmelt es vor Kinderschändern, Hackern, Betrügern und amoklaufenden Killerspiel-Spielern. Diese fremde Welt ist bedrohlich. Weil man sie selbst nicht kennt. Das kann auf Dauer nicht gut sein. Weder für die Leute, die sich bedroht fühlen noch für unsere Gesellschaft allgemein.
Jetzt fängst Du an, meine alten Hausarbeiten zu bloggen, ja? ;-P
aber interessante Sichtweise!
Über das Lesenswerte dieses Beitrags siehe meinen Kommentar hier: http://archiv.twoday.net/stories/38770122/#comments