Klaus Graf hat es geschafft und die Stralsunder Gymnasialbibliothek gerettet – eigenhändig, nur mit einem Blog bewaffnet. Die Stadt Stralsund kündigte gestern an, dass sie die zuständige Archivleiterin suspendiert habe und plane, den Kauf rückabzuwickeln. Damit hat die weitere Zerschlagung der Bibliothek und ihr Verkauf an private Sammler ein Ende. Fraglich ist hingegen, was mit den bereits weiterverkauften Bücher geschieht.
An dieser Stelle muss man Klaus Graf einfach gratulieren: Ausgehend von einer kleinen Meldung auf einer obskuren Seite, welche den Verkauf nur am Rande erwähnte, schuf er fast im Alleingang eine breite und lautstarke Protestbewegung, der sich dann nach und nach immer mehr Personen und Organisationen anschlossen. Ohne seinen Einsatz würde gerade wohl ein Antiquar mit der Stadt Stralsund über Entschädigungen wegen Schimmelbefalls der verkauften Ware verhandeln. Falls also in Zukunft mal wieder ein Wissenschaftler einen eigentlich überflüssigen Artikel darüber schreiben will, warum Wissenschaftler bloggen sollten: Hier ist das Paradebeispiel. Durch einen Kommentar zu einem Blogpost wird der Skandal bemerkt, weitere Recherchen enthüllen umfassend das Ausmaß, weitere Blogs schaffen Öffentlichkeit und schließlich gelangt die Geschichte in die großen Zeitungen. Das setzt die Stadt Stralsund mächtig unter Handlungsdruck – ohne die Öffentlichkeit, welche durch Archivalia hergestellt wurde, hätte es garantiert kein Gutachten und keine Rückabwicklung gegeben. Gut gemacht, Herr Graf!
Ansonsten erstaunt die Blauäugigkeit der Verantwortlichen, die nicht nur mit einer erstaunlichen Ignoranz gegenüber der historischen Bedeutung so einer Bibliothek agiert haben, sondern auch betriebswirtschaftlich recht unbeholfen agierten: Dem Antiquar wurden anscheinend 6210 Bände aus der Bibliothek für 95.000 Euro verkauft, von denen ein einziger bei einer Auktion schlappe 44.000 Euro erbrachte. Weitere Titel brachten den Erlös dieser Auktion auf mindestens 141.000 Euro – ein gutes Geschäft für den Antiquar, ein Desaster für die Stadt Stralsund, welche im Schnitt 15,29 € pro Band erhalten hat.
Im Anhang noch die offizielle Pressemitteilung der Stadt, welche laut Gutachten erstaunlicherweise mein Blog gelesen hat:
Gutachten zum kulturhistorischen Wert der Stralsunder „Gymnasialbibliothek“ liegt vor (20.11.2012)
Neben der im Zusammenhang mit der Veräußerung von Büchern bekannt gewordenen Problematik des Schimmelbefalls von Archivgut im Stadtarchiv der Hansestadt Stralsund hat sich in den letzten Wochen zum Verkauf dieser Bücher eine intensive und äußerst kontrovers sowie auch emotional geführte Diskussion entwickelt.
Die dabei geäußerten Fachmeinungen stehen in deutlichem Gegensatz zur fachlichen Meinung unseres Stadtarchivs.
Ich habe deshalb zur Klärung des Sachverhaltes Prof. Dr. Nigel Palmer von der Universität Oxford und Prof. Jürgen Wolf von der Universität Marburg um eine gutachterliche Stellungnahme gebeten. Dies erfolgte in enger Abstimmung mit dem Landesamt für Kultur und Denkmalpflege und dem Innenministerium M-V.
Das Gutachten liegt seit gestern Nacht vor und ist heute den beiden genannten Ministerien zur Kenntnis gegeben worden.Die Gutachter kommen zu der Auffassung, dass es sich bei der Büchersammlung aus der alten Gymnasialbibliothek, wenn man sie als ein Ganzes betrachtet, um bedeutendes Bibliotheksgut handelt.
Außerdem trifft das Gutachten die Aussage, dass dieses Bibliotheksgut für die Kulturgeschichte der Stadt Stralsund, der Region sowie auch für Forschung und Wissenschaft einen großen Wert hat.Somit lag eine eklatante fachliche Fehleinschätzung unseres Stadtarchives vor, die zur Veräußerung der Bücher geführt hat. Der Verkauf der Bücher war somit definitiv ein Fehler und muss rückgängig gemacht werden.
Wer Stralsund und die Entwicklung dieser Stadt kennt, weiß, dass dieser Vorgang in deutlichem Widerspruch zum bisherigen Umgang mit dem Erbe und der Geschichte unserer Stadt steht.Die Aufarbeitung aller Fakten hat jetzt oberste Priorität. Dieser Aufklärungsprozess wird uns in den kommenden Wochen intensiv beschäftigen, zumal es neue Erkenntnisse über Sachverhalte gibt, wie den Verkauf von Dubletten, den wir derzeit noch nicht bewerten können.
Aufgrund der bekannten Fakten habe ich zwei Konsequenzen sofort gezogen:
1. Die Leiterin des Stadtarchivs wurde zunächst mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert.2. Der Verkauf der Bücher wird rückabgewickelt.
Ich habe das Gespräch mit dem Käufer gesucht und im Ergebnis dessen kann ich mitteilen, dass seine Bereitschaft besteht, unabhängig von der rechtlichen Bewertung des Kaufgeschäftes den Kauf rückabzuwickeln. Gleichzeitig wird er uns bei der Wiederbeschaffung der bereits an Dritte verkauften Bücher unterstützen.Senator Holger Albrecht wird zwecks Abstimmung der Modalitäten mit dem Käufer in der kommenden Woche vor Ort besprechen.
Dr. Alexander Badrow
Oberbürgermeister
Jetzt auch im Blog: Die Stralsunder Gymnasialbibliothek ist gerettet http://t.co/bcCguyGS #stralsund
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