Wie reproduzierbar ist Geschichtswissenschaft?

Die Scilogs diskutieren gerade über das Thema der Reproduzierbarkeit von Forschungsergebnissen. Einer der wichtigsten Grundlagen der wissenschaftlichen Arbeit ist nämlich, dass man seine Experimente so durchführen und dokumentieren muss, dass sie auch von einem anderen mit den gleichen Ergebnissen reproduziert werden können. Das ist der große Anspruch jeder Wissenschaft, die Realität sieht aber häufig anders aus. Seien es schlampige Dokumentationen, bewusste Schludereien, selbstentwickelte und nicht mitveröffentlichte Software oder auch nur die Frage, wer eine erneute Studie finanziert, häufig ist Forschung nicht so reproduzierbar, wie man es gerne hätte.

Aber wie sieht es eigentlich in den Geschichtswissenschaften mit der Reproduzierbarkeit aus? Auf den ersten Blick gut – wir führen ja keine Experimente durch, sondern berufen uns auf Quellen. Diese geben wir per Fußnote an und jeder Interessierte kann sich fleißig auf den Weg in die Bibliothek oder das Archiv machen und sie überprüfen. Im Idealfall kommt er/sie dann auf die gleichen Schlussfolgerungen oder wenigstens zu den gleichen Fakten. Dass ein SPD-naher Historiker etwa anders über Willy Brandt schreiben wird als der CDU-nahe, ist ja kein Problem der Reproduzierbarkeit.

Doch so einfach ist das natürlich nicht: Auch in den Geschichtswissenschaften gibt es durchaus Probleme mit nicht reproduzierbaren Ergebnissen. Es gibt natürlich auch bei uns Personen, die einfach irgendwelche Quellen erfinden oder sonstigen Schindluder treiben. Es kommt auch vor, dass diese Arbeiten dann längere Zeit durch die Literatur geistern, weil keiner sich die Mühe macht, die Quellen wirklich mal zu überprüfen.

Weiterhin gibt es natürlich auch das Problem der Quellenverluste. 2009 stürzte das Kölner Stadtarchiv ein. Dabei gingen nicht nur viele Dokumente unwiderbringlich verloren, sondern auch die geretteten Bestände sind erstmal auf Jahre nur sehr, sehr schwer zugänglich. Auch der Zweite Weltkrieg vernichtete massiv nicht nur Archivbestände. Die Überlieferungskette ist hier abgebrochen – man kann die älteren Forschungen, welche sich auf diese Archivalien beziehen, nicht mehr nachvollziehen.

Problematisch sind auch Zugangssperren zu Archiven, die eine Überprüfung der vorangegangenen Arbeit verhindern. Das kann ein privates Adelsarchiv sein, in das ein Forscher aufgrund persönlicher Kontakte und Netzwerke Zutritt bekommt, dessen Besitzer dann aber einen anderen Forscher ablehnt. Das können aber auch große, staatlich finanzierte Forschungsprojekte sein: So sorgte die Studie über die Vergangenheit des Auswärtigen Amtes für einige Aufregung. Die Forschergruppe hatte einen speziellen Zugriff auf das Archiv und gesperrte Akten. Das gleiche gilt für das Forschungsprojekt zur Anfangsgeschichte des BNDs – ich wage es doch sehr zu bezweifeln, dass mich der BND in seinem Archiv Akten mit Geheimhaltungsstufe anschauen lässt, nur weil ich die Fußnote 322 der Studie überprüfen will.

Für Osteuropahistoriker sieht das sogar noch schlimmer aus: In den ersten postsowietischen Jahren wurden einige Archive für Forscher geöffnet, mittlerweile geht gerade in Russland der Trend wieder zu einem deutlich erschwerten oder unmöglichen Archivzugang. Entsprechend wichtig sind dann veröffentlichte Quelleneditionen.

Es geht aber auch anders: Ich hatte in einer Arbeit mit einem Autoren zu tun, der in den 70ern über einen Kreis von Journalisten geschrieben hat, dessen Mitglieder damals noch am Leben waren. Der Autor hat sich dabei richtig viel Arbeit gemacht, Interviews geführt, Briefe an sie geschrieben und so weiter. Die Fußnoten verweisen dann auf einen „Brief von xy an den Autoren, [Datum]“. Selbst wenn er diese alle aufbewahrt hat, wirklich zukunftssicher ist das nicht. Das gleiche gilt etwa für Interviews, die auf Tonbändern geführt wurden und andere Formen der Datenerhebungen. Gerade von manchen Umfragen würde ich zu gerne mal die Rohdaten sehen. Auch die Datenbanken, welche sich viele Forschungsprojekte mittlerweile aufbauen, werden nur selten für projektfremde Forscher veröffentlicht.

Kurz: Auch historische Arbeiten können das Problem haben, dass sie schlecht reproduzierbar und überprüfbar sind. Das viel größere Problem ist aber natürlich, dass viele Arbeiten und Recherchen einfach nicht überprüft werden, weil es keinen gibt, der die aufwändige Recherche eines Doktoranden Archiv für Archiv nachforscht.

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6 Antworten zu Wie reproduzierbar ist Geschichtswissenschaft?

  1. Erbloggtes sagt:

    Ich würde ja die These vertreten, dass in der Geschichte nur so viel Wissenschaft ist, wie an ihr reproduzierbar ist. Daher würde ich auch der Aussage „Dass ein SPD-naher Historiker etwa anders über Willy Brandt schreiben wird als der CDU-nahe, ist ja kein Problem der Reproduzierbarkeit.“ insoweit widersprechen, dass da wo ein Wissenschaftler aus Weltanschauungsgründen anders schreibt als ein anderer Wissenschaftler, er eben kein Wissenschaftler ist. Davon ist die Geschichtswissenschaft durchsetzt, und deshalb sind auch „persönliche“ Archivzugänge eine gute Methode für die Archivbesitzer, nur genehme Ergebnisse mit dem Label Wissenschaft zu versehen und in die Öffentlichkeit zu pusten.

    Dann doch lieber in der Fußnote „Brief an den Autor“ schreiben und den Kollegen, die nachfragen, den Brief kopieren. Wenn man das nicht täte, wäre man auch kein Wissenschaftler.

    Skandale in der Geschichtswissenschaft betreffen ja häufig irreproduzible Quellenbelege:
    – Im Historikerstreit wurden einige Fußnotenüberprüfungen durchgeführt und Falschzitate o.ä. behauptet (habe das selbst nicht überprüft).
    – Der Streit um die Riezler-Tagebücher ist (als Nachwirkung der Fischer-Kontroverse) ein Streit um die Authentizität einer monopolisierten Quelle.

  2. RT @MschFr: Gebloggt: Wie reproduzierbar ist Geschichtswissenschaft? http://t.co/usGpnbYU

  3. admin sagt:

    Versteh meinen Artikel nicht falsch – ich beschreibe die Fallstricke, die es bei der Reproduzierbarkeit geben kann, der absolute Großteil der Geschichtswissenschaft ist aber doch reproduzierbar. Nicht jedes Stadtarchiv ist eingestürzt und in staatlichen Archiven gibt es (abgesehen von den angesprochenen AA und BND) dank der Archivgesetze klare Zugangsregeln für alle Interessierten. Auch private Adelsarchive sind nur in bestimmten Forschungsbereichen (Adelsgeschichte ;) ) ein Problem. Es gibt ganze Forschungsbereiche, wo geschlossene Archive keine Rolle spielen – etwa in der Antike, wo die Quellen ja praktisch alle editiert vorliegen.

    Der Skandalfaktor bei Zugangssperren für Quellen ist IMHO auch gar nicht so groß – wer versucht, Quellen zu verstecken, kriegt schnell Gegenwind und wird seine Position nur schwer vertreten können. Auch der russische Staat wird irgendwann merken, dass er mit seiner Politik mehr Schaden anrichtet als dass er Kritik verhindert. Ähnliches kannst du etwa bei den Vorgängen rund um die RAF beobachten, wo ja gerade die Geheimhaltung diverser Akten und Entscheidungen eine enorme (nicht geschichtswissenschaftliche) Spekulation und diverse Verschwörungstheorien produziert hat. Auch der Adelige, der keinen Zugriff auf sein Familienarchiv gewährt, um etwa die NS-Verstrickungen seines Großvaters zu verheimlichen, wird merken, dass sein Großvater schon einiges angestellt haben muss, damit sich das lohnt.

    Ansonsten wirst du „Weltanschauungsfragen“ nicht aus der Geschichtswissenschaft herauskriegen, da die eigentliche Leistung des Historikers ja die Komposition eines Narratives aus den Quellen ist. Das war auch der eigentliche Skandal der angesprochenen Fischer-Kontroverse und des Historikerstreites. Nicht Quellenfragen, sondern eben die Konstruktion eines neuen Narratives, welches der bestehenden Sicht widersprach. Dieses Narrativ wurde dann auf seine Quellengerechtigkeit abgeklopft, aber der Skandal basiert immer noch auf der eigenen Interpretation.

  4. @CHNatbib sagt:

    RT @biblioblogs: Wie reproduzierbar ist Geschichtswissenschaft? http://t.co/p2ZxrjZo

  5. Pingback: Wissenschaftlichkeitsfragen | ZAFUL

  6. moritz sagt:

    Teilweise geht das ja sogar noch weiter, wobei das ein Problem der Arbeitsweise des Autors ist. Ich habe den Aufsatz gerade nicht zur Hand, aber im letzten Jahr fand ich eine interessante Aussage eines durchaus renommierten Historikers in einem Aufsatz, die mit der Fußnote „Quelle: Vertraulich“ „belegt“ war. Wie man einem Studenten bei solchen Vorbildern sauberes Arbeiten vermitteln soll ist mir völlig schleierhaft.

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