Es ist genau der richtige Artikel zur richtigen Zeit. Horden von Bildungspolitikern, Professoren und geifernde Leserkommentatoren auf Welt Online haben in den letzten Jahren fleißig das Ende des Humboldtschen Bildungsideales verkündet. Die neuen Studienabschlüsse Bachelor und Master, das verschmähte „Studium Bolognese“, leiten mindestens den Untergang des Abendlandes ein. Ab sofort herrscht Mittelmaß, alles geht den Bach runter und demnächst kennt keiner mehr Goethe. Früher, als man selbst noch studiert hat, war natürlich alles besser. Humboldt rotiert in seinem Grabe im Schloßpark Tegel.
Der normale BA/MA-Studierende sitzt dann in der Bibliothek und kratzt sich am Kopf – immerhin saß er anfangs noch mit den letzten Dinosauriern Magistern in den gleichen Veranstaltungen und musste am Ende mehr Prüfungen ablegen. Das Abendland ist dadurch nicht untergegangen, die gemeinsame Abendplanung manchmal schon.
Kürzlich durfte man dann ein weiteres Spektakel beobachten: Die Debatte über Doktorarbeiten, deren fehlende Qualität und Plagiate. Im ersten Akt ging es um die Arbeit eines gewissen Herren Guttenberg. Diese enthielt bekannterweise diverse Stellen, die der findige Freiherr nicht in nächtelanger, liebevoller Kleinarbeit selbst schrieb. Als dann noch eine liberale Politikerin ebenfalls des Schummelns überführt wurde, war die Sache klar: Die heutige Politikergeneration ist verkommen, die Titelgier führt zur Korrumpierung der Wissenschaft und der Doktortitel ist ja gar nichts mehr wert! Früher, als man selbst studiert hat, war natürlich alles besser. Humboldt rotiert so sehr in seinem Grabe, man könnte aus ihm regenerativ Strom erzeugen.
Dann der nächste Skandal: Eine Ministerin, die tragischerweise auch für den Bildungsbereich zuständig war, wird des Plagiates in ihrer Doktorarbeit überführt. Früher, als man selbst studiert hat, war natürlich alles besser. Äh, halt. Die Arbeit wurde ja vor 33 Jahren geschrieben, damals, als man selbst noch studiert hat. Daher müssen da ja ganz definitiv andere Kriterien gelten, damals galten ja ganz andere Zitierregeln! Die Arbeiten wurden ja auch noch nicht per Computer geschrieben, sondern mussten ja noch mühsam auf Steintafeln gemeißelt werden! Das ist ja nicht vergleichbar. Ups.
Aber Humboldt. Dessen Bildungsideal und die Universität des 19. Jahrhunderts! Damals war die Welt noch in Ordnung, damals herrschte Wissenschaft, Elitenauswahl und Disziplin!
Je stärker die Universität des 19. Jahrhunderts und das Humboldtsche Bildungsideal verherrlicht werden, desto wichtiger wird es, mal genauer hinzuschauen. Ulrich Rasche macht dies in einem bemerkenswerten Artikel in Forschung & Lehre, der wunderbar zeigt, warum der kritische Blick des Historikers in so einer Debatte wichtig ist: Denn auch an den hochgelobten Universitäten des 19. Jahrhunderts herrschte Titelgier, akademische Korruption und jede Menge Pseudo-Doktoren führten ihre Titel ohne große Prüfung. Sei es, dass sie die auch heute noch bekannten, ausländischen Titelmühlen nutzten (wie ein gewisser Karl May) oder gezielt an Universitäten ihren Doktor ablegten, die extrem geringe Anforderungen an ihre Prüflinge stellten (wie ein gewisser Karl Marx). Ganze Universitäten wie Jena oder Gießen promovierten im Prinzip jeden aus finanziellen Motiven:
Lukrativ war dieses Geschäft vor allem dadurch geworden, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts die kostspieligen performativen Akte und Promotionsfeiern durch die damals erfundene Doktorurkunde ersetzt worden sind und nun der Löwenanteil der von den Kandidaten für eine Promotion zu entrichtenden Gelder unmittelbar an die Fakultäten floss.
Wer finanzielle Anreize schafft, möglichst viele Personen zu promovieren, muss sich nicht darüber wundern, wenn die Promotion zum Geschäftsmodell wird. Schon alleine der Blick auf die Statistik zeigt, dass einige Universitäten es reichlich nutzten:
Promotionen „in absentia“, bei denen die Prüflinge ihre Universität nicht einmal betreten mussten oder Promotionen, bei denen die Prüflinge nur einmal zur Prüfung anreisen und eine harmlose mündliche Prüfung ablegen mussten, waren möglich. Dazu kamen Ghostwriteragenturen, Plagiate, mangelnde wissenschaftliche Qualität, Recycling von Arbeiten und vieles weitere. Die hochgelobte Universität des 19. Jahrhunderts entpuppt sich bei genauem Hinsehen nicht nur als elitäre Veranstaltung voller Standesdünkel, kolonialem Rassismus, dumpfen völkischen Theorien und Burschenschaftsbesäufnissen, auch die real gelebte wissenschaftliche Praxis hatte enorme Mängel. Das sollte man daher im Hinterkopf behalten, wenn in Zukunft jemand sich auf das Humboldtsche Bildungsideal beruft, behauptet, dass Universitäten früher besser gewesen seien oder dass irgendetwas, seien es die 68er oder der Bologna-Prozess, zum völligen Niedergang der Hochschulen geführt hätten. Rasches Fazit ist daher vor allem, dass Wissenschaft nunmal auch mit Geld zusammenhängt. Elfenbein ist teuer:
Vielleicht sollten wir wenigstens in diesem einen Fall das Erfahrungswissen der Geschichte nutzen und anschließend Fragen stellen, zum Beispiel, was aus den zentralen Werten unserer Wissenschaftskultur werden kann, wenn die Universitäten sich selbst finanzieren müssen. Lassen sich vielleicht die Gesetzmäßigkeiten der Ökonomie selbst in den allerheiligsten Sphären der Alma Mater doch nicht aushebeln? Ist es wirklich zu verantworten, Mittelzuweisungen an Institute und Lehrstühle von der Zahl der Promotionen abhängig zu machen? Die aktuellen Debatten um den Doktorschwindel haben zwar zu zwei Ministerstürzen geführt. Aber sie haben noch längst nicht das Niveau des Jahres 1876 erreicht. Sie drehen sich noch zu sehr um das Fehlverhalten einzelner prominenter Kandidaten. Je mehr sich die Hinweise darauf verdichten, dass Guttenberg und Co. womöglich nur die sprichwörtliche Spitze eines Eisberges bilden, dessen Umfang niemand kennt, desto mehr sollten die Promotionspraktiken der Universitäten selbst auf den Prüfstand kommen. Das zumindest sollten wir vom 19. Jahrhundert lernen.
Beim häufig gepriesenen Humboldtschen Bildungsideal ist daher es wie mit der Lasagne: Trotz hochgestochener Qualitätsversprechen auf der Verpackung versteckt sich irgendwo ein Pferdefuß.
(Vielen Dank an Julian K. für den Link zu dem Artikel, Erbloggtes hat auch etwas dazu. Ebenfalls in diesem Zusammenhang interessant sind die Digitalisate von Paul Englischs Büchern über Plagiate aus den 1930ern. Vor allem, weil Englisch selbst Plagiator ist.)
RT @MschFr: Gebloggt: Die Universität des 19. Jahrhunderts – früher war auch nicht alles besser http://t.co/OaRP8aHEBu #schavan
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Nichts gegen das Humboldtsche Bildungsideal! ;-) Nach Rasche ist dieses Ideal (und das Bemühen um seine Umsetzung in Preußen) sogar dafür verantwortlich, dass es diese große Differenz in den Promotionszahlen in Preußen und außerhalb Preußens gab. Und Mommsen wollte dann das preußische (sich auf Humboldt berufende) Modell reichsweit durchsetzen.
Der Clou ist mal wieder der öknomische Aspekt: Preußische Unis waren staatsfinanziert. Jena (als Beispiel) nicht. So wird es wieder kommen, wenn in Berlin eine großzügig ausgestattete „Bundesuniversität“ aufgemacht wird und die Unis in der Provinz sich aus klammen Länderkassen finanzieren müssen werden. Die schauen sich dann nach anderen Einnahmechancen um und schreiben dafür nach und nach alle wissenschaftlichen Ideale in den Wind.
Ein aktuelles Beispiel ist die Zivilklausel. Unterfinanzierte Hochschulen, die früher Wissenschaft mit hehren Zielen wie Frieden und Fortschritt zum Nutzen aller Menschen betreiben wollten, sehen sich inzwischen dazu genötigt, zuerst Dual-Use-Forschung, dann Rüstungsforschung zu betreiben, weil es dafür Geld gibt.
„Humboldt rotiert so sehr in seinem Grabe, man könnte aus ihm regenerativ Strom erzeugen.“ http://t.co/bm1a9mUVY5
RT @MschFr: Gebloggt: Die Universität des 19. Jahrhunderts – früher war auch nicht alles besser http://t.co/OaRP8aHEBu #schavan
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