Privatisierung und Zugriff auf die Archive

Aus einem kurzen Tweet ergaben sich ein paar Gedanken, die etwas weitergesponnen werden müssen:

In der Tat klafft momentan ein größeres Problem bei der Archivierung zeitgeschichtlicher Quellen auf. Unser Archivsystem ist größtenteils staatlich. Alle Behörden archivieren fleißig ihre Dokumente und die Übergabe an Archive funktioniert auch meistens gut und ist gesetzlich festgeschrieben. Ebenfalls festgeschrieben ist der Zugang zu diesen Archiven. Meistens lässt sich Archivgut nach 30 Jahren einsehen, Ausnahmen gibt es für personenbezogene Dokumente und – leider – für Dokumente mit besonderer Geheimhaltung.

Nun gibt es allerdings in den letzten Jahrzehnten den Trend der Privatisierung staatlicher Aufgaben. So ist die Deutsche Bahn etwa immer noch zu 100% in staatlicher Hand, aber mittlerweile eine Aktiengesellschaft. Und die muss daher ihre Akten nicht nach dem Bundesarchivgesetz an staatliche Archive abgeben. Das gleiche gilt für viele weitere Bereiche – es gibt wohl kaum eine Stadt mehr, in der die Stadtwerke trotz massiver Zuschüsse nicht privatwirtschaftlich organisiert sind. Und selbst Kriege werden mittlerweile zum Teil von privaten Contractors geführt und auch Edward Snowden war nicht direkt bei der NSA angestellt, sondern bei einem privaten Unternehmen, welches im Auftrag der NSA spionierte. Es gibt wohl kaum ein besseres Beispiel für die Privatisierung staatlicher Aufgaben.

Dabei stellen sich zwei Probleme: Zum einen der allgemeine Zustand der Firmenarchive. Diese agieren unter einer komplett anderen Zielsetzung als staatliche Archive. Sie sind häufig nicht nur deutlich chaotischer und nicht von speziell ausgebildeten Fachkräften geleitet, sondern sie archivieren eben alles, was für den laufenden Betrieb wichtig ist. Und nicht das, was für die Geschichtswissenschaft wichtig ist. Das zweite Problem stellt der Zugang dar: Staatliche Archive unterliegen klaren Gesetzen, die den Zugang einklagbar regeln. Sperrfristen für manche Akten sind ärgerlich, aber generell ist der Zugriff auch auf für den Staat unangenehme Akten möglich. Wir Historiker leben davon, dass uns auch für den Ersteller unangenehme Quellen zur Verfügung gestellt werden. Bestes Beispiel ist etwa die kürzlich vom britischen Nationalarchiv nach 30 Jahren freigegebene Gesprächsnotiz zwischen Helmut Kohl und Magreth Thatcher von 1982, in der dieser davon sprach, dass er die Hälfte aller Türken in Deutschland loswerden will. Für Kohl war das eine doch eher negative Enthüllung, die dieser wohl doch gerne unter Verschluss gehalten hätte. Aber ohne diesen Zugriff auf die interne Kommunikation in den Machtzentren funktioniert Geschichtswissenschaft nur eingeschränkt. (An dieser Stelle eine Frage an die Mitlesenden: Hat sich das Bundesarchiv schon geäußert, ob die SMS-Kommunikation unser Kanzlerin irgendwie gesichert wird?)

Je mächtiger private Firmen werden, desto wichtiger wird auch der Zugriff auf deren Archive. Eine Geschichte der aktuellen Finanzkrise nur anhand der staatlichen Dokumente zu schreiben, dürfte schwierig werden. Ohne Zugriff auf die interne Kommunikation etwa der Banken und Ratingagenturen fehlen elementare Puzzlestücke. Wie will man eine Geschichte des Internets schreiben, wenn etwa Google keinen Zugriff auf’s Firmenarchiv gewährt?

Das Problem ist immer der Zugriff. Bei Adelsarchiven besteht dieses Problem heute schon. Adelige haben in allen Epochen eine extrem wichtige Rolle gespielt und häufig besitzen die Familien eigene Archive mit Dokumenten und privaten Aufzeichnungen ihrer Vorfahren. Wer allerdings als Historiker darauf zugreifen will, muss gute Kontakte zu diesen Familien haben und kann je nach Thema eben nicht die privaten Archive besuchen. Kaum eine Familie hat Lust, dass jemand etwa die Naziverstrickungen der Vorfahren genau untersucht und öffentlich darlegt. Bei Firmen sieht das ähnlich aus: Warum sollte etwa der Autobauer Daimler-Benz jemanden in sein Archiv lassen, der die Verstrickungen der Firma etwa mit der Militärjunta in Argentinien untersuchen will? Oder warum sollte die Deutsche Bank jemanden im Firmenarchiv nach irgendwelchen krummen Geldgeschäften während der Nazizeit forschen lassen? Warum sollte Shell Leute recherchieren lassen, was sie damals in Nigeria gemacht haben? Daraus entsteht schnell ein größerer Imageschaden oder – noch schlimmer – gar eine millionenschwere Schadensersatzklage.

Kurz: Wir brauchen über kurz oder lang einen gesetzlich geregelten Zugriff für Historiker auf private Archive von Firmen, Stiftungen, Adelsfamilien und Organisationen. Sonst wird vor allem die Zeitgeschichte ganz schnell mit einem enormen Quellenproblem konfrontiert.

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7 Antworten zu Privatisierung und Zugriff auf die Archive

  1. Robert Parzer sagt:

    Zu der geschilderten Problematik passt auch, dass viele Krankenhäuser nach ihrer Privatisierung „alten Krempel“, der oft genug Patientenakten aus der NS-Zeit war, einfach entsorgt haben. Die Deutsche Bank ist allerdings im Zusammenhang mit der von Dir gestellten Frage nach der Zugänglichkeit zu „schwierigem“ Archivgut gerade kein gutes Argument: Sie hat umfänglich Historiker „im Firmenarchiv nach irgendwelchen krummen Geldgeschäften während der Nazizeit“ forschen lassen.

  2. Erbloggtes sagt:

    Gesetzliche Zugangsrechte zu privaten Archiven sind nicht die Lösung. Die Trennung von privat und öffentlich ist die Lösung. Merkels SMS sind privat (auch wenn Historiker sie gern läsen). Staats-/Behördentätigkeit ist öffentlich. Die Privatisierung des Staates ist das eigentliche Unding.

  3. Pingback: » Die Quellen unserer Zeit

  4. AndreasP sagt:

    Das funktioniert doch aber nur, wenn auch eine Pflicht zur Archivierung überhaupt besteht. Unternehmensakten können aber nach 6 bis 10 Jahren vernichtet werden, und privat muss ich schon gar nichts archivieren.

  5. Gast sagt:

    Der Vorschlag ist offensichtlich verfassungswidrig. Das würde dem Blogautor vermutlich selbst auffallen, wenn er sich vorstellen würde, dass der Staat sich selbst ermächtigt, sich ohne weitere Voraussetzungen Kenntnis von allen schriftlichen und vermutlich auch elektronischen Unterlagen privater Unternehmen, (Adels-)Familien oÄ zu verschaffen. Es würde daran nichts besser (im Gegenteil), wenn der Staat eine solche Ermächtigung zugunsten irgendwelcher privater Dritter („Historiker“) aussprechen würde.

  6. cubisticanus sagt:

    Wie Erbloggtes schon schrieb: die Auslagerung öffentlicher Aufgaben zu privatrechtlich organisierten Institutionen ist das Problem, nicht die Zugänglichkeit; ad hoc fiele mir auch nicht ein, wie ein Zwangszugang zu Firmen- oder Privatakten gerade für Historiker (verfassungs-)rechtlich auch nur einigermaßen sauber zu regeln wäre … .

    Übersehen wird m. E., dass es mit den regionalen Wirtschaftsarchiven schon Institutionen gibt, die mit Freude Unternehmensakten übernehmen, archivieren und in der Regel zugänglich machen — das müsste a) in den Unternehmen vielleicht bekannter werden, ev. mit gewissen (gesetzlichen? Immer nach dem Staat rufen ist eigentlich keine Lösung) Anreizen versehen werden und b) diese Einrichtungen könnten ruhig großzügiger gefördert werden.

    Na ja, was Merkels SMS angeht: die via Kanzler-Handy abgesetzten Meldungen sind so wenig privat sein wie ihre dienstlichen Mails. Die werden m. W. sogar, sobald aus ihnen ein Vorgang wurde, archiviert. RegSpr Seibert hat das jedenfalls mal auf eine entsprechende Frage des Spiegels (? oder Fokus?) gesagt.

  7. Pingback: Die Quellen unserer Tage – nicht erst im Archiv! | Stummkonzert

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