Die Schutzschicht aufbrechen – erste Gedanken zum @9nov38

Nein, der @9nov38 ist nicht vorbei, er tritt in eine andere Phase über. Nach den Pogromen, Morden und Brandschatzungen beginnt jetzt die Phase der staatlichen Entrechtung. Tausende Juden wurden im Anschluß an die Pogrome in „Schutzhaft“ genommen, was ein übelster Euphemismus für die Einweisung in Konzentrationslager und weitere Entrechtung ist. Der Twitter-Account wird auch dies dokumentieren.

Es ist aber durchaus an der Zeit für einen ersten Rückblick. Unser Projekt hat unglaubliche Vorschusslorbeeren erhalten. Zahlreiche Zeitungen, Nachrichtenseiten, Radiosender und sogar das Fernsehen berichteten, die Zahl der Follower stieg immer weiter. Die Berichterstattung schwappte sogar ins Ausland – bis nach Frankreich, Lettland, Rumänien, Belgien, Israel, Japan, Thailand, Mexiko und Panama. Auslöser dafür war v.a. eine Agenturmeldung mit dem Titel „Germany marks Nazi pogrom anniversary with vigils, Twitter“. Plötzlich waren wir also … dieses Deutschland, zumindestens aber ein Teil des offiziellen deutschen Gedenken zum 75. Jahrestag der Pogrome. Parallel dazu explodierte die Zahl der Follower und erreichte höhere vierstellige Bereiche. Damit haben wir einfach nicht gerechnet.

Das alles, obwohl wir erst ein paar Tweets gepostet hatten. Bei mir schlich sich doch die bange Frage ein, ob unser Experiment wirklich funktionieren würde. Was, wenn es ganz kräftig daneben geht und das gewählte Format doch nicht geeignet ist? Was ist, wenn das richtig schief geht? Wirkliche Vorbilder gab es dann doch nicht – der Account @9nov89live, welcher die Ereignisse des 9.11.1989 nachtwitterte, besaß mit dem Mauerfall ein deutlich einfacheres, weniger sensibles Thema. Auch andere „Live“-Accounts beschäftigen sich mit deutlich weniger sperrigen Themen. Dazu enthalten unsere Tweets auch jede Menge Gewalt – eine ganz bewußte Entscheidung, aber was, wenn sie falsch aufgenommen wird? Oder würden wir trotz all der Aufmerksamkeit ins Leere twittern? Immerhin entwickelten sich die Ereignisse v.a. nach Mitternacht – sind da nicht alle schlafen oder feiern?

Dann entwickelte sich der Abend und … ich zitiere an dieser Stelle Meet in Montauk, der seine eigene Reaktion auf unsere Tweets in seinem Blog formulierte:

„Wir gehen also ins Restaurant. Treffen uns mit Freunden, sitzen den Abend über Bier und Schnaps, philosophieren und diskutieren parteipolitische Strategien. Der Alltag fängt uns ein. Irgendwann verabschieden wir uns, “War ein schöner Abend”, lass uns das wiederholen. Unbedacht. Wir fahren nach Hause, nie darum fürchtend, dass die Fensterscheiben zerstört, die Privatheit in Brand geraten, die Existenz nihiliert wurde. Teil unseres Privilegs. Ein letztes Mal vor dem Einschlafen Twitter aufgemacht, schauen, was der Freundeskreis so macht, ob es Nachrichten gibt. Und dann steht da “Die Synagoge in Fulda wird angezündet.” – Ich stehe kerzengerade im Bett. Was geht da vor sich? Heute? An diesem Tag brennen Synagogen?

Ich lese weiter. Aus weiteren Orten werden brennende Synagogen gemeldet. Ich will mich anziehen. Müssen wir irgendwas in Berlin organisieren? Mein Hand liegt am Handy, bereit, Freund_innen anzurufen. Berichte trudeln ein, über zerstörte Scheiben, verschleppte Menschen. Und dann über Himmler, über die SA, über zusammengeschlagenen Menschen, über gestürmte Wohnungen. Im ganzen Bundesgebiet. Über Telegramme aus Frankreich. Alles kommt von einem Account, 9Nov38. Sein Titel: “Heute vor 75 Jahren.” Mir wird bewusst, was ich da lese. Verantwortlich zeigen sich mehrere Historiker_innen, z.T. Studierende.

Mit mir erstarrt mein Twitterumfeld. Es ist kurz nach Mitternacht, und die Möglichkeit, die historischen Ereignisse so nah an sich heranzulassen, schlägt meine soziale Peer Group in seinen Bann, entsetzt, erschüttert. Die Nachrichten, die in der Spanne eines Menschenlebens entfernt sind, wurden nur durch Tweets unterbrochen, die die Gefühle der Lesenden beschreiben. Genug waren den Tränen nahe, viele verspürten Wut, das Bedürfnis, aufzuspringen, so wie ich. Dazu die Empfehlungen, dass jetzt jeder das Feiern sein lassen sollte, sich hinsetzen solle, und das verfolgen sollte. Schon allein aus der Maßgabe heraus, dass es nie wieder geschehe. Und so wurde aus dem individuellen Konsum ein kollektives Gedenken. Menschen schrieben, wie sie auf einer Couch im Club saßen und vergaßen, dass sie unterwegs waren. Aus der Gedenkminute wurde für viele eine Nacht des Gedenkens. Kaum jemand konnte schlafen gehen, kaum jemand konnte aufhören, gebannt zu lesen. Auch ich schaffte erst in den frühen Morgenstunden, das MacBook zuzuklappen und einige Stunden Schlaf zu fassen. Als ich aufwachte, habe ich mich erschrocken: was, wenn ich etwas wichtiges verpasst habe? Erneut wurde mir bewusst, wie dünn die Spanne zwischen zwei verschiedenen Epochen durch die Berichterstattung im Livebericht geworden war.
Gerade politisch aktive Menschen sind es gewohnt, sich über Demonstrationen und Aktionen über abonnierte Hashtags oder Ticker-Accounts auf dem Laufenden zu halten. Wir verfolgen mit, was passiert, wir empören uns über Naziangriffe, über Polizeigewalt, über rassistische Kontrollen. Das scheint auf einmal alles so klein zu sein. Durch die minütliche Aktualisierung der historischen Begebenheiten wird mir die Totalität der Pogrome vor Augen geführt. Es ist keine Demonstration in Hamburg, keine Parkrodung in Stuttgart, keine Besetzung in Berlin. Es ist der allumfassende antisemitische Hass, der sich überall in Deutschland am 9. November 1938 entladen hat. Die Berichterstattung lässt mich über Orte lesen, deren Namen ich nie zuvor gehört habe. Sie lässt mich Teilhaben an dem Schicksal von Menschen, deren Name sich nirgendwo eingebrannt hat. Und das immer wieder aufs Neue, ohne Ende, ohne dass das Entsetzen Zeit findet, nachzulassen. Die Unmittelbarheit lässt das initiale Gefühl immer wieder aufleben: das ist so nahe, das klingt so plausibel, es könnte jetzt passieren. Es war historisch singulär, aber es ist wiederholbar. Und ich begreife diesmal nicht nur intellektuell, was an diesem Tag vor 75 Jahren passiert ist.“

Die Tweets über die Ereignisse erreichten unsere Leser auf einer Ebene, die ich so nicht erwartet hatte. Als Historiker ist man den Umgang mit Gewalt und menschlichen Abgründen irgendwie gewohnt und hat sich eine gewisse emotionale Schutzschicht zugelegt. Auch historische Werke abstrahieren häufig die Gewalt und machen sie zur Statistik. Die Tweets zum 9. November knallten dann unvermittelt in die Timelines der User:

Es war aber kein einsames Zittern alleine vor dem Bildschirm, sondern es entfachte sich eine Rege Aktivität – User fingen an, unsere Tweets in verschiedene Sprachen zu übersetzen. Englisch, Spanisch, Türkisch und mittlerweile auch Kurdisch. Leute posteten die Geschehnisse in ihrer Gemeinde, veröffentlichten Bilder von Gedenksteinen und Bilder aus dieser Nacht. Und sie fingen an, über ihre Familiengeschichte nachzudenken:

Immer wieder wurde uns für das Projekt gedankt und großes Lob ausgesprochen. Ich bin immer noch völlig platt von den Reaktionen.

Die befürchteten Störmanöver von Rechtsradikalen blieben hingegen vollkommen aus, einzig zwei Verwirrte (Twitter-Bio: „Investigative journalist fighting Evil & cannibalism, Scientology, Bilderberg, Obama, Putin, Merkel, Gauck, Assad, Netanyahu, Karzai. Kim Jong-un & Co“) äußerten sich. Zwei von mittlerweile 10812 ist eine Quote, die von einer handelsüblichen Straßenbahn locker übertroffen wird.

Bis zum 25. November werden noch weitere Tweets folgen und sie sorgen auch jetzt noch für virtuelles Stolpern und Gedenken an die Pogrome:

Vielleicht ist es eine der Stärken dieses Formates, auch noch Tage später zum Gedenken anzuregen und nicht eine längere Entwicklung innerhalb eines einzigen Artikels abzuhandeln. Stete Wiederholung stärkt bekanntlich die Erinnerung – vielleicht werden die Novemberpogrome von unseren Lesern nun anders wahrgenommen, gerade auch, weil wir sie emotional erreicht haben.

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10 Antworten zu Die Schutzschicht aufbrechen – erste Gedanken zum @9nov38

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  4. @to_je sagt:

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  6. @CJahnz sagt:

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  8. RT @delta_ware: In seinem Blog berichtet der @MschFr über das Projekt @9Nov38 und die Reaktionen der User_innen. http://t.co/Zd2RxUxPCM

  9. @haiku_shelf sagt:

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