30 Jahre Volkszählungsurteil

Heute feiern wir den 30. Jahrestag des Volkszählungsurteils. Beziehungsweise wir feiern ihn nicht – in der aktuellen politischen Debatte ist das wegweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichtes praktisch untergegangen. Ein kurzer Blick in Google News zeigt, dass kaum eine Zeitung diesen Jahrestag mit einem Artikel würdigt. Das ist aber falsch, das Urteil ist immer noch brandaktuell.

Es war das Jahr 1983. Helmut Kohl war frischgebackener Kanzler, hatte Helmut Schmidt abgelöst und die „geistig-moralische Wende“ verkündet. In den USA saß Reagan, in Großbritannien Thatcher. Und jetzt gibt es in Deutschland auch einen konservativen Kanzler, der zudem nicht durch Wahlen, sondern den Koalitionswechsel der FDP an die Macht gekommen ist. Der Kalte Krieg hatte mit NATO-Doppelbeschluss und Able Archer 83 eine bedrohliche Zuspitzung erfahren und entsprechend gespalten zeigte sich die deutsche innenpolitische Lage. Es war eine Hochzeit der Proteste.

In diesem Kontext wollte die Bundesregierung Anfang des Jahres eine Volkszählung durchführen – eigentlich eine Routineangelegenheit, die regelmäßig alle 10 Jahre durchgeführt wurde. Nur diesmal stieß sie auf massive Gegenwehr – überall in der Republik entstanden in kürzester Zeit Boykottinitiativen, die Probleme bei der Zählung anprangerten. „Politiker fragen, Bürger antworten nicht“ lautete das Motto.

Die Protestbewegung speiste sich aus drei Quellen: Zum einen der allgemeinen Skepsis gerade in linken Kreisen gegenüber der neuen Regierung und dem Staat allgemein. Zweitens aus der Nähe zum „Orwell-Jahr“ 1984, für das eine Totalüberwachung der gesamten Gesellschaft befürchtet wurde. Zum Dritten äußerten sich hier allgemeine Skepsis gegenüber der Computertechnik, die sich in dieser Zeit massiv verbreitete. Das wirkt im Rückblick etwas skurill (siehe: „Sozialverträglicher Computereinsatz„), dachte aber einige der Probleme vor, die uns heute unter den Nägeln brennen.

Die Protestbewegung mobilisierte nicht nur einen Boykott, sondern zog auch vor das Bundesverfassungsgericht. Dieses stoppte zuerst die Volkszählung, um Zeit für eine ausführliche Prüfung zu erhalten und verkündete dann am 15. Dezember 1983 das Volkszählungsurteil, in dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung formuliert wurde. Ein ausführlicher Blick in die Urteilsbegründung lohnt sich und daher zitiere ich jetzt einfach mal mehrere Absätze:

Im Mittelpunkt der grundgesetzlichen Ordnung stehen Wert und Würde der Person, die in freier Selbstbestimmung als Glied einer freien Gesellschaft wirkt. Ihrem Schutz dient – neben speziellen Freiheitsverbürgungen – das in Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG gewährleistete allgemeine Persönlichkeitsrecht, das gerade auch im Blick auf moderne Entwicklungen und die mit ihnen verbundenen neuen Gefährdungen der menschlichen Persönlichkeit Bedeutung gewinnen kann (vgl BVerfGE 54, 148 [153]). Die bisherigen Konkretisierungen durch die Rechtsprechung umschreiben den Inhalt des Persönlichkeitsrechts nicht abschließend. Es umfaßt – wie bereits in der Entscheidung BVerfGE 54, 148 [155] unter Fortführung früherer Entscheidungen (BVerfGE 27, 1 [6] – Mikrozensus; 27, 344 [350 f.] – Scheidungsakten; 32, 373 [379] – Arztkartei; 35, 202 [220] – Lebach; 44, 353 [372 f.] – Suchtkrankenberatungsstelle) angedeutet worden ist – auch die aus dem Gedanken der Selbstbestimmung folgende Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (vgl ferner BVerfGE 56, 37 [41 ff.] – Selbstbezichtigung; 63, 131 [142 f.] – Gegendarstellung).

Diese Befugnis bedarf unter den heutigen und künftigen Bedingungen der automatischen Datenverarbeitung in besonderem Maße des Schutzes. Sie ist vor allem deshalb gefährdet, weil bei Entscheidungsprozessen nicht mehr wie früher auf manuell zusammengetragene Karteien und Akten zurückgegriffen werden muß, vielmehr heute mit Hilfe der automatischen Datenverarbeitung Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren Person (personenbezogene Daten (vgl § 2 Abs. 1 BDSG)) technisch gesehen unbegrenzt speicherbar und jederzeit ohne Rücksicht auf Entfernungen in Sekundenschnelle abrufbar sind. Sie können darüber hinaus – vor allem beim Aufbau integrierter Informationssysteme – mit anderen Datensammlungen zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden, ohne daß der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann. Damit haben sich in einer bisher unbekannten Weise die Möglichkeiten einer Einsichtnahme und Einflußnahme erweitert, welche auf das Verhalten des Einzelnen schon durch den psychischen Druck öffentlicher Anteilnahme einzuwirken vermögen.

Individuelle Selbstbestimmung setzt aber – auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien – voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen. Wer damit rechnet, daß etwa die Teilnahme an einer Versammlung oder einer Bürgerinitiative behördlich registriert wird und daß ihm dadurch Risiken entstehen können, wird möglicherweise auf eine Ausübung seiner entsprechenden Grundrechte (Art 8, 9 GG) verzichten. Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist.

Hieraus folgt: Freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Dieser Schutz ist daher von dem Grundrecht des Art 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art 1 Abs. 1 GG umfaßt. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen.

b) Dieses Recht auf „informationelle Selbstbestimmung“ ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine“ Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Information, auch soweit sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem Betroffenen allein zugeordnet werden kann. Das Grundgesetz hat, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach hervorgehoben ist, die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden (BVerfGE 4, 7 [15]; 8, 274 [329]; 27, 1 [7]; 27, 344 [351 f.]; 33, 303 [334]; 50, 290 [353]; 56, 37 [49]). Grundsätzlich muß daher der Einzelne Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen.

In Zeiten einer anscheinend allumfassenden, weltweiten Überwachung durch amerikanische Geheimdienste, umfangreichen Profilbildungen durch private Unternehmen und einer Gier deutscher Innenpolitiker nach eben diesen Möglichkeiten darf man das noch einmal zitieren:

Individuelle Selbstbestimmung setzt aber – auch unter den Bedingungen moderner Informationsverarbeitungstechnologien – voraus, daß dem Einzelnen Entscheidungsfreiheit über vorzunehmende oder zu unterlassende Handlungen einschließlich der Möglichkeit gegeben ist, sich auch entsprechend dieser Entscheidung tatsächlich zu verhalten. Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffende Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß. Wer unsicher ist, ob abweichende Verhaltensweisen jederzeit notiert und als Information dauerhaft gespeichert, verwendet oder weitergegeben werden, wird versuchen, nicht durch solche Verhaltensweisen aufzufallen.

In Zeiten, in denen die Vorratsdatenspeicherung im Koalitionsvertrag steht, in Zeiten von Routine-Funkzellenabfragen, umfassender Videoüberwachung und Kennzeichenscannern sollte man sich dieses Urteil wieder in Erinnerung rufen. Was dort formuliert wurde, ist mittlerweile eines unserer wichtigsten Grundrechte geworden, welches von allen Seiten mit Füßen getreten wird. Es ist ein schlechtes Zeichen, dass mitten in der NSA-Affäre keine Zeitung auch nur an den Jahrestag dieses Urteils erinnert. Es ist an der Zeit, dass wir uns wieder an dieses Grundrecht erinnern und es offensiv einfordern.

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4 Antworten zu 30 Jahre Volkszählungsurteil

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