Gewalt

Während des Tweetups zu DigitalPast letztes Wochenende im Haus der Geschichte wurde ein Thema angesprochen, dass mich auch persönlich während des Schreibens der Tweets zur fast parallel ablaufenden Versenkung der Cap Arcona stark beschäftigt hat: Die Heftigkeit einiger Tweets von @digitalpast. Muss, darf oder sollte man Gewalt darstellen, wie sie passiert ist? Oder sollte man eine eher distanzierte Sicht einnehmen?

Während des Tweetups ging es um die Frage, ob man bestimmte Bilder unbedingt zeigen müsse. Beim Schreiben der Tweets der Cap Arcona-Tweets ging es um die Frage, wie man unvorstellbares Grauen irgendwie in 140 Zeichen packen kann ohne in reine Gewaltpornographie abzudriften und gleichzeitig ohne zu verharmlosend zu sein.

Was geschieht am 3. Mai 1945 in der Neustädter Bucht? Die SS räumte in den Tagen zuvor das KZ Neuengamme bei Hamburg, weil dieses nicht den vorrückenden alliierten Truppen in die Hände fallen sollte. Und „räumte“ ist schon wieder so ein völlig verharmlosender Begriff: Unter unmenschlichen Bedingungen wurden die Gefangenen in Richtung Küste gefahren oder getrieben, hunderte starben schon dabei. Dann wurde alles noch viel schlimmer: Die KZ-Häftlinge wurden auf drei Schiffe getrieben, welche schnell völlig überbelegt waren. Hunderte Häftlinge starben an Hunger, Krankheiten, Schwäche oder erstickten einfach, weil die SS-Wachen einfach die Lüftungsluken zusperrten. Alles passiert, während gleichzeitig amerikanische und sowjetische Einheiten auf Lübeck und die Bucht vorstoßen.

Und dann die noch größere Katastrophe: Britische Bomber bombardieren die nicht als Häftlingsschiff markierten Schiffe, welche sie für Truppentransporter halten, um ein Absetzen der Wehrmacht nach Skandinavien zu verhindern. Von den etwa 7000 KZ-Häftlingen auf der Cap Arcona und der Thielbek überlebten nur 600. Der Rest verbrannte, ertrank oder wurde erschossen.

Das ist eine Zahl. Eine Statistik, die nur schwer zu fassen ist – was sind 6400 Tote? Kann sich jemand das wirklich ernsthaft vorstellen? Irgendwann können wir derartige Zahlen nicht mehr erfassen. Schließt mal die Augen und stellt euch 6 Menschen vor. Kein Problem, oder? Jetzt das gleiche mit 60. Wird schon schwerer. 600? Noch schwerer. 6000? Das wird zu einer amorphen Masse und ihr werdet unsicher. Sind es vielleicht nur 2000? Oder doch 10000? Jetzt das gleiche Experiment mit 60000? Oder 60000? 6 Millionen? Oder gar 60 Millionen? Das übersteigt die menschliche Visualisierungsfähigkeit – oder wie ein fälschlicherweise häufig Joseph Stalin zugeschriebenes Zitat es so treffend formuliert: “Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!”

Kalte und distanzierte Darstellungen haben ihren Ort und ihre Berechtigung. Ohne verliert man schnell Aufgrund des massenhaften Leidens den Überblick, versteht Zusammenhänge und Ursachen schlechter. Das merkt man besonders gut, wenn es um aktuelle Nachrichten geht: Im Kern ist es völlig egal, ob eine Schulklasse in einem Flugzeug gesessen hat, wenn der Copilot es abstürzen lässt. Der ganze Medienzirkus, das Klingeln an den Türen von Angehörigen, das Filmen von Trauernden bringt keine Erkenntnis über den Absturz – es zeigt nur die menschliche Tragödie, die durch den Copiloten verursacht wurde. Aber genau diese menschliche Tragödie ist etwas, das wir mit DigitalPast darstellen wollen. Denn nur so wird man dem Zweiten Weltkrieg gerecht, nur so kann man sich den furchtbar abstrakten Todeszahlen überhaupt nähern.

Zum Untergang der Cap Arcona gibt es jede Menge Quellen und Augenzeugenberichte von Überlebenden, die das Grauen in Worte fassen. Die das eigene Überleben schildern und den Tod der anderen. Die Panik, Angst und den nackten Kampf um das Überleben an Bord schildern. Ein Bericht ist mir besonders in Erinnerung geblieben:

“Das Feuer verbreitete sich rasend schnell. Es brannte an fast allen Stellen, wohin ich auch sah. Auch das Treppenhaus, in welchem ich mich befand und nach oben fliehen wollte, war ein Flammenmeer. Das Feuer erfaßte auch mich, ich brannte am Rücken und am Kopf. Das Brüllen, Knattern und Knistern des Feuers übertönte unsere Schreie, auch meine.

Da sah ich plötzlich über mir ein Eisenrohr. Mit ausgestreckten Armen konnte ich es gerade noch erreichen. Mit fast übermenschlicher Anstrengung zog ich mich daran hoch. So kam ich auf die Köpfe der vielen zusammengedrängten Menschen unter mir zu stehen. Dann bemühte ich mich, meinen Freund Max hochzuziehen, der hinter mir gestanden hatte. Es glückte. Ihn hatte es an beiden Armen arg erwischt, die Haut hing schon in Fetzen herunter, und ich wunderte mich, daß er noch nicht schlapp gemacht hatte. Zehn andere unter uns stehende Häftlinge, die noch genug Kraft hatten, taten das gleiche wie wir.

Was dann kam, war schrecklich. Die Feuersbrunst schmolz die dicht an dicht stehenden Menschen unter uns immer mehr zusammen. Wir liefen auf den Köpfen dieser Menschen wie auf einem Pflaster weiter. Der Menschenklumpen war so lang und so dicht aneinandergepreßt, daß wir gar nicht einbrechen konnten. Unter uns war nur Kopf an Kopf.

Puh. Diese Schilderung zeigt, wie schwierig das Schreiben für DigitalPast manchmal ist. Wie bringt man das in die passende Form? „Er läuft über die brennenden Köpfe seiner Mithäftlinge“? Natürlich nicht. Das geht einfach nicht. Es ist aber gleichzeitig auch nicht dem Ereignis angemessen, wenn man einfach nur ein „Die Cap Arcona wird versenkt, 6400 KZ-Häftlinge sterben“ twittert, weil dies eben die menschliche Tragödie zu stark in den Hintergrund treten lässt.

DigitalPast ist vom Konzept her ja durchaus nah am guten, alten Leopold von Ranke: Zeigen, wie es gewesen ist. Nicht als großes Narrativ, sondern im Individuellen. Wenn DigitalPast also brutal ist, dann liegt das daran, dass die damaligen Ereignisse unvorstellbar brutal waren. Sie waren sogar brutaler als wir es darstellen können – die Episode mit den brennenden Köpfen taucht nicht in den Tweets auf. Ebensowenig die unzähligen anderen Fotos von unzähligen anderen Verbrechen, über die wir nicht twittern konnten. Wenn DigitalPast also brutal ist, dann beschwert euch bei euren Großeltern. Weil die brutal waren.

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