Wann ist man eigentlich Nationalsozialist?

Eigentlich sollte dieser Beitrag nur ein Kommentar zu Petras Blogbeitrag werden. Er ist dann aber immer länger geworden und daher veröffentliche ich ihn einfach mal hier – bitte zuerst Petras Beitrag lesen. Sie fragt:

Ich bearbeite derzeit die Geschichte der Binger Stadtverwaltung während des Nationalsozialismus; genauer: ihre Nazifizierung. Demnächst habe ich alle nötigen Akten durchgearbeitet, alles zu Personen (und Vorgängen) gesammelt – es geht also bald an die Auswertung. Aber … wie beurteile ich, wie “nazifiziert” diese Kommunalverwaltung war? Mir geht es nicht um Schuldzuweisungen, um eine Beurteilung, wer mehr Dreck am Stecken hat, aber dennoch verlangt die Thematik meiner Studie eine Beurteilung, eine Einteilung der Mitarbeiter der Stadtverwaltung während jener zwölf Jahre.

Das ist eine erstaunlich einfache und eine erstaunlich komplexe Frage. Klar, wer Mitglied in der NSDAP, der SA, der SS war, ist Nationalsozialist. Aber selbst solche scheinbar einfachen Kategorisierungen werden beim genauen Hinsehen unanwendbar: Jemand hat Juden vor Verfolgung geschützt? Ist das nicht ein klares Anzeichen dafür, dass jemand Widerstand geleistet hat obwohl er in der Partei war? Dass jemand dem Regime kritisch gegenüberstand? Leider nicht. Lassen wir einmal Heinrich Himmler sprechen:

Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. – „Das jüdische Volk wird ausgerottet“, sagt ein jeder Parteigenosse, „ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir.“ Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht.

Was Himmler 1943 in seinen Posener Reden formulierte, ist durchaus typisch – die persönliche Bekanntschaft mit dem „verhasseten Anderen“ bricht dann doch die Vorurteile auf und führt dazu, dass auch glühenden Nationalsozialisten einzelnen Bekannten halfen. Selbst der Oberbösewicht in der ganzen Geschichte, Adolf Hitler, schützte persönlich einzelne Juden. Spätestens bei ihm wird die Kategorie wackelig, da man wohl nur schwer behaupten kann, dass Hitler kein Nationalsozialist war.

Auch Widerstandshandlungen sind – auch wenn es hart klingt – nicht immer ein Zeichen dafür, dass jemand kein Nationalsozialist war. Es gibt genügend Beispiele für lokale Honoratioren, die jahrelang das Regime unterstützt haben und dann doch ihre Heimatstadt entgegen diverser Befehle und unter großem persönlichen Risiko kampflos den Alliierten übergeben haben. Oder was macht man aus einem Fall, in dem jemand versucht, Hitler abzusetzen, dabei scheitert und dann von der SS verhaftet wird und vom Führer höchstpersönlich aus der Partei geworfen wird? Eine klare Sache? Nicht, wenn man weiß, dass das Hermann Göring war.

Man muss auch überzeugten Nazis zugestehen, dass sie sich ändern können – ein Beispiel dafür ist Wilm Hosenfeld, der in Polanskis „Der Pianist“ auftaucht: In den 20ern in der völkischen Bewegung aktiv, ab 1933 in der SA, ab 1935 in der NSDAP und nach eigenen Tagebuchaufzeichnungen begeisterter Besucher der Nürnberger Parteitage. Es ist schwierig, ihn zu dieser Zeit nicht als Nationalsozialisten zu bezeichnen. Dann aber, unter dem Eindruck der Verbrechen im Osten, fängt er an, Menschen zu helfen. Die Antwort müsste daher also lauten „Nationalsozialist bis in den Krieg, danach Abwendung und Widerstand“.

Dann gibt es aber auch noch die Kategorie der Leute, die sich gegen Kriegsende, als klar war, dass er verloren war, versucht haben, sich möglichst unauffällig zu distanzieren und schon die Weichen für die Zukunft nach der Niederlage zu stellen. Das konnte aus purem Opportunismus geschehen, aber sie konnten natürlich auch in Anbetracht der ungeheuren Gewaltexplosion in den letzten Monaten doch das wahre Gesicht des Regimes erkannt haben. Das ist schwer zu sagen – Quellen, die einem wirklich „ungefilterten“ Zugang in solche Gedankengänge geben, sind selten.

Petra fragt daher:

Ich bitte euch um eure Hilfe für meine Untersuchung (die ein Aufsatz, keine Monografie, wird). Wie gehe ich mit den erhobenen Daten um, wie werte ich sie möglichst aussagekräftig aus? Tendiert ihr auch zu einer Einteilung in Stereotypen einhergehend mit der Darstellung eines typischen Vertreters aus der Stadtverwaltung? Oder lieber gar keine Grenzen ziehen und in der Schlussfolgerung mit “kaum”, “vorwiegend”, “durchgängig” usw. beschreiben? Oder ganz anders? Ich freue mich auf eure Anregungen!

Und was kann man jetzt also machen? Es ist schwierig und wie immer in der Geschichtswissenschaft extrem kompliziert und vielschichtig. Eine rein formale Analyse nach Mitgliedschaften in nationalsozialistischen Organisationen ist am Einfachsten – wer in der SS, SA, NSDAP war, ist Nationalsozialist. Dabei gerät man natürlich in Gefahr, dass man überzeugte Nationalsozialisten, die aus irgendwelchen Gründen nicht in Partei & Co. eingetreten sind, übersieht.

Wenn die Quellen da sind, kann man auch auf die zweite Ebene gehen und schauen, wie überzeugt diese Nationalsozialisten vom Nationalsozialismus wirklich waren und ob sich etwa während des Krieges eine Veränderung ergeben hat. Und in welche Verbrechen diese Leute verstrickt waren oder eben nicht. Dann gibt es noch die interessante Frage, wie viele davon nach dem Krieg wieder in der lokalen Verwaltung tätig waren – und natürlich die noch interessante Frage, ob und wie sich ihr Handeln dann von dem vor 1945 unterschieden hat.

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4 Antworten zu Wann ist man eigentlich Nationalsozialist?

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  4. Petra sagt:

    Lieber Michael,

    auch hier: Vielen Dank für deinen Kommentar!
    Ich habe mittlerweile alle Fakten, Faktoren, … die Spaltenbezeichnungen meiner Excel-Tabelle in meinem Blog am Ende ergänzt und auch notiert, was mir für eine mögliche Analyse alles einfällt.

    Ich stütze mich nicht allein auf meine kleine „Datenbank“, sondern habe mir auch einiges Inhaltliches gesammelt. Beispielsweise wie ein Vollziehungsbeamter Geld eintreiben will, nur die Frau zu Hause ist, er durch die schon offene Türe tritt (ob er vorher um Erlaubnis fragte, da scheiden sich schon die Meinungen), die Frau ihm aber das Geld verweigerte, etwa mit den Worten „Herr xy, sie sind ein böser Mensch, das sagen wissen alle hier. Und Sie wollen Nationalsozialist sein! Ich bin tausend mal nationalsozialistischer als Sie!“. Nunja, die Sache schlägt dann hohe Wellen, denn der Mann dieser Frau sitzt nicht nur im Binger Stadtrat, sondern ist auch politisch an führender Position in der Kleinstadt. Neben der Stellungnahme der Konfliktparteien findet sich nichts zu dem weiteren Vorgang in den Akten. Er wurde offenbar ohne schriftlichen Niederschlag geklärt.

    Um genau diese von dir genannte zweite Ebene hinter Mitgliedschaft in NSDAP und Organisationen geht es mir. Aus Fakten will ich Tendenzen ziehen – objektive Tendenzen. Es wird natürlich vieles offen bleiben, Desiderate aufzeigen, die in einer späteren Monografie dann auf Basis meiner Untersuchungen verfasst wird. Daher brauche ich nicht alle Lücken, nicht alle entstehenden Fragezeichen beantworten, aber daher soll und muss die Studie auch empirisch begründet sein. Nur: Je mehr Gedanken ich mir mache, wie ich empirisch vorgehen soll, umso mehr Teile fallen mir ein, die ich auch noch auswerten und berücksichtigen müsste. Ich bin dabei, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen und – dazu neige ich sehr gerne – mich in Klein- und Kleinstteilen zu verlieren. Und daher mein „Hilferuf“. :)

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