Nach einigen Monaten @die_reklame und tausenden Werbeanzeigen haben sich ein paar Erkenntnisse angesammelt. Zuerst die wichtigste: Das Projekt entwickelt sich durchaus erfolgreich und steht momentan bei ca. 1300 Followern auf Twitter. Das sind mehr als wir gedacht haben und es macht auch immer noch richtig Spaß.
1) Die alten Anzeigen kommen wirklich gut an
Wir haben eine erstaunlich hohe Interaktionsrate. Die Nutzer retweeten und liken die Anzeigen mit Begeisterung, kommentieren sie und leiten sie an andere Nutzer per Mention weiter. Wer also für einen Social Media-Auftritt einer etwas älteren Firma oder Institution verantwortlich ist, sollte ruhig mal einen Blick ins Firmenarchiv werfen und ältere Werbung suchen. Sie kommt gut an – ich würde sogar darauf wetten, dass eine Werbekampagne im passenden Retro-Stil richtig einschlagen könnte.
(Das ist jetzt natürlich eine Binsenweisheit: Produkte wie die Retro-Fanta oder diverse Retro-Editions von Niveau oder Persil zeigen, dass das funktioniert. Werbung will Aufmerksamkeit generieren und alles, was sich vom Einheitsbrei und -design abhebt, erregt Aufmerksamkeit)
2) Bodyshaming ist so alt wie Werbung allgemein.
Nicht nur die Apotheken-Umschauen und Frauenzeitschriften der heutigen Zeit sind voll mit Werbung für zweifelhafte Produkte, welche schlank und gesund machen sollen, sondern früher war es nicht anders. Es gibt nur einen kleinen Unterschied: Früher gab es auch an Frauen gerichtete Werbung für Gewichtszunahme, die heute praktisch verschwunden ist. Dafür dürfen sich jetzt die Männer ihr Körperbild von tausenden Anzeigen zerfetzen lassen, die behaupten, dass man ohne riesige Muskelberge als kleiner Lauch keine Frauen abbekommt. Es ist anscheinend ein epochenübergreifendes und gut funktionierendes Geschäftsmodell, Menschen Unsicherheiten einzureden und ihnen dann etwas zu verkaufen. Der psychische Flurschaden dieser Werbemasche dürfte enorm sein.
3) Quacksalber schalten fleißig Werbung
Damit eng verbunden: Quacksalber schalten fleißig Werbung und das seit Jahrhunderten. Was heute die ganzen Anzeigen für Diätprodukte in Frauenzeitschriften sind, gibt es schon sehr, sehr lange. Firmen, welche die Lösung verschiedener gesundheitlicher Probleme versprechen, diese aber nicht einhalten können. Firmen, die verschwunden sind ohne eine Spur zu hinterlassen – die hochgepriesenen, angeblich revolutionären Heilmethoden haben es zu aktuell 0 Treffern bei Google gebracht. Heilmethoden, welche den Erfinder reich, berühmt, verehrt und hoch dekoriert gemacht hätten – wenn sie denn funktionieren würden und nicht reine Scharlatanerie wären.
4) Werbung stört sich nicht an Regimewechseln
Firmen hatten keine Probleme, ihre Werbung während des Nationalsozialismus an diesen anzupassen, kriegsbedingte Engpässe zu überspielen und dann nach dem Krieg nahtlos weiterzumachen.
5) Werbung wird visueller
Früher gab die Drucktechnik es nicht her, Bilder in Massen und in Farbe zu drucken. Entsprechend bestanden die Anzeigen komplett aus Text
Aber auch noch in den 1950ern und 1960ern enthielten Anzeigen deutlich mehr Text als heutzutage.
6) Werbung entfernt sich zunehmend von „Fakten“
Es gibt einen klaren Unterschied zwischen diesen beiden Werbungen:
Die eine versucht mit Fakten zu überzeugen, die andere versucht ein Image zu transportieren, welches der kaufende Kunde dann auf sich selbst projizieren kann. (Die „Fakten“ in der Werbung muss man natürlich in Anführungsstrichen schreiben, da die Werber fleißig das Blaue vom Himmel versprechen.) Es hat sich das komplette Vorgehen der Werber gewandelt: So werden etwa Autos nicht mehr mit technischen Eigenschaften beworben, sondern mit Emotionen.
7) Die Gesetze gegen bestimmte Werbeversprechen wirken und sind sinnvoll
Ab und an geistern verschiedene Urteile durch die Presselandschaft, in denen es darum geht, ob man Bier als „bekömmlich“ bewerben darf oder nicht. Hintergrund ist eine EU-Richtlinie, die Werbung mit Gesundheitsversprechen untersagt. Aber auch weitere Einschränkungen der Werbung, etwa in Hinsicht auf Tabakwerbung oder Werbung für rezeptpflichtige Medikamente, wirken. Im Rückblick ist es schon erstaunlich, wie und für was früher geworben wurde. An Jugendliche gerichtete Zigarettenwerbung mit Gratisspielen in PC-Zeitschriften? Werbung für Heroin? Zigarettenwerbung mit Gesundheitsversprechen? Was heute einen breiten Proteststurm verursachen würde, war früher normal. Und in anderen Ländern ist es auch heute noch Normalität.
8) Werbung wird größer und mehr
In den Anfängen waren die Anzeigen in vielen Zeitungen ganz am Ende und erinnerte etwas an Kleinanzeigen. Häufig war sie auch mit privaten Kleinanzeigen vermischt zu finden. Dann werden die Anzeigen größer, werden visueller und damit auffälliger und sie dringt immer weiter nach vorne. Mittlerweile ist sie auf den Titelseiten zu finden oder überdeckt diese gar. Es wäre eine schöne Bachelor-Arbeit, einfach mal nachzuzählen, wie sich Menge und Platzierung der Werbung in länger laufenden Zeitschriften und Zeitungen verändert hat. Wieviel Prozent einer Spiegel-Ausgabe von 1952 ist Werbung und wieviel von einer Ausgabe 2018?
9) Werbung verlinkt, verkauft aber nicht mehr direkt
Früher war es Standard – ein Händler schaltet eine Produktliste mit Preisen und auszuschneidendem Bestellformular als Anzeige. Das ist bis auf wenige Nischenbereiche mittlerweile vollkommen verschwunden. Der Kunde wird auf die Webseiten der Händler gelockt, was für die Zeitschriftenverlage natürlich ein riesiges Problem darstellt. Sie sind nicht mehr Zeitschrift und „Warenkatalog“ gleichzeitig, sondern haben diese Position als Gatekeeper zu den kaufenden Kunden größtenteils verloren.
10) Ich erzähle Quatsch
Es ist natürlich absoluter Blödsinn, solche hochtrabenden Erkenntnisse aus einzelnen Anzeigen diverser unsystematisch zusammengesuchter Zeitungen abzuleiten und dabei noch nicht mal die Publikationen der Reklameforschung gelesen zu haben. Glaubt mir kein Wort!
Pingback: MusErMeKu Blog (@musermeku)