Dichtestress oder warum es einfach zu viele Autos gibt

Momentan brodelt die Verkehrsdebatte wieder heftig hoch. Der Dieselskandal, mögliche Fahrverbote für Schmutzdiesel und eine steigende Anzahl an getöteten Fahrradfahrern erhitzen die Gemüter und führen zu heftigen Debatten nicht nur in sozialen Medien. Zeit, einmal eine historische Perspektive einzunehmen und ein paar Punkte zu beleuchten.

Schaut man sich alte Aufnahmen aus Städten an, dann fällt auf, wie „leer“ diese sind. Es gibt einige nette Videos mit Führerstandsmitfahrten aus Straßenbahnen aus den Anfangszeiten der Motorisierung. Achtet einmal auf den Verkehr – es ist nicht nur so, dass Autos die Pferdekutschen ersetzt haben, sondern auch, dass es schlicht und einfach viel mehr Autos gibt als es jemals Pferdekutschen gab. Das Fehlen von parkenden Autos am Straßenrand fällt in diesen Videos extrem auf.

Früher war einfach weniger Verkehr und es gab vor allem weniger geparkte Autos.

Das kann ich auch statistisch untermauern. Das Kraftfahrtbundesamt führt eine Statistik über den Fahrzeugbestand nach Fahrzeugklassen:

Seit 1960 ist die Zahl der PKW von 4,5 Millionen auf 46,5 Millionen angestiegen und hat sich damit glatt verzehnfacht. Die Zahl der LKWs ist von 680.000 auf 3 Millionen gestiegen. Die gesamte Zahl der Kraftfahrzeuge ist in den letzten 58 Jahren von 8 auf 56,5 Millionen gestiegen. Auch in den letzten Jahren ist die Zahl der Autos kontinuierlich gestiegen. Diese Zahl steigt übrigens kontinuierlich und ist nicht nur ein einmaliger Effekt der Wiedervereinigung. Nicht einberechnet ist eine erhöhte Fahrleistung, stärkerer Transitverkehr gerade auf Autobahnen und so weiter.

Diese Fahrzeuge müssen natürlich irgendwo hin und müssen auch irgendwo fahren. Die zehnfache Menge an PKW braucht auch (mindestens) die zehnfache Menge an Abstellplätzen. Wenn die zehnfache Menge an Autos sich morgens in den Berufsverkehr stürzt, dann benötigt dies andere Straßen und eine andere Infrastruktur am Zielort. Eine Schule, an der die Schüler mit dem Fahrrad oder mit dem Bus kommen, verursacht einfach anderen Verkehr als eine Schule, an der die Eltern ihre Kinder mit dem Auto absetzen.

Das erklärt auch in einem gewissen Maße das Scheitern der autogerechten Stadt. Im Grundkonzept fährt der Herr Oberstudiendirektor oder der Doktor mit seinem Wagen ohne im Stau zu stehen in die Innenstadt, parkt dort direkt vor dem Geschäft oder in einem Parkhaus und kauft ein. Danach fährt er wieder zurück in sein Eigenheim. Dieses Konzept hatte immer einen gewissen elitären Touch – es funktioniert nur, wenn die Masse, die normalen Arbeiter und Angestellten, weiterhin in ihren Zechensiedlungen wohnen oder zu Fuß, mit dem Rad oder mit der Straßenbahn zur Arbeit fahren. So wirklich wurde nicht mitgedacht, was passiert, wenn plötzlich auch die Kindergärtnerin oder der Bauarbeiter Samstags mit dem eigenen PKW in die Innenstadt zu Primark will.

Da wir mittlerweile nicht mehr unsere Altstädte planieren, um Einfallsschneisen für Autos zu schaffen, sind recht apokalyptische Szenarien die Folge. Wer bei Google News nach „Innenstadt voll“ sucht, findet deutschlandweit Berichte von völlig überfüllten Innenstädten, in denen die Autofahrer stundenlang vor den Parkhäusern Schlange stehen. Mein Favorit ist diese Meldung aus Freiburg, wo es an einem Samstag so viel Stau gab, dass die Autos nicht aus den Parkhäusern kamen und dort die Kohlenmonoxidbelastung kritisch wurde. Die Feuerwehr musste das Parkhaus evakuieren. Das ist nicht ein Problem der fehlenden Parkhäuser oder Straßen, sondern schlicht und einfach ein Problem der zu vielen Autos. Ein Auto braucht mindestens 6m² Platz und in einer herkömmlichen Innenstadt gibt es einfach nicht genügend Raum, um jedem im Weihnachtsverkehr einen Parkplatz zu bieten.

Zugeparkt – das Dortmunder Kreuzviertel (CC-BY-SA 3.0 Mathias Bigge)

Gerade die alten Stadtviertel, die noch nicht mit Blick auf das Auto gebaut wurden, haben mittlerweile ein großes Problem: Parkdruck. Da man die schönen Gründerzeit-Altbauten schlecht abreißen kann und auch schlecht verschieben kann, gibt es schlicht und einfach keinen Parkplatz für jeden Bewohner. Wie denn auch, wenn vier- oder fünfstöckige Häuser jeweils ein paar Parkplätze vor der Tür und vllt. ein paar im Hof haben? Das Ergebnis: Parksuchverkehr, Stress für Pendler, die nach Feierabend ihr Auto nicht abstellen können, Zeitverlust, Spritverschwendung, Lärm, Abgasbelastung und vor allem völlig lebensfeindliche Gegenden: Wo überall Autos parken, können keine Kinder spielen, keine Radfahrer spielen, keine Anwohner sitzen. Und wenn alle Parkplätze weg sind, helfen auch keine Parkplatz-Apps. Das Grundproblem ist, dass es einfach zu viele Autos gibt.

Historische Freiburger Straßenbahn mit Beiwagen bei Günterstal

Das Prinzip des „Immer mehr“ gilt übrigens nicht nur für den Autoverkehr. Wer einmal in einem Eisenbahnmuseum war oder mit einer historischen Straßenbahn gefahren ist, die vielerorts von Enthusiasten immer noch in Schuss gehalten werden, wundert sich, wie klein diese sind. Sie sind langsamer, unbequemer und haben deutlich weniger Kapazität als die modernen Varianten. Mit diesen Fahrzeugen würde der moderne ÖPNV genauso zusammenbrechen wie der Fernverkehr mit den nostalgischen Dampfloks.

Auch der Eisenbahnverkehr ist rapide angestiegen. Die Bahn bewältigte 1990 44,6 Milliarden Personenkilometer, 2016 waren es schon 95,8 Milliarden Kilometer. Bei allen Problemen, die die Bahn gerade hat: Sie hat noch nie so viele Fahrgäste so weit transportiert.

Eine ähnliche Entwicklung sieht man im Flugverkehr. Im Jahr 1950 bewältigte der Flughafen Frankfurt 195.330 Passagiere. 1960 waren es 2.172.494, 1991 nach der Wiedervereinigung 27.991.435. Zur Jahrtausendwende waren es 49.369.429 und 2016 60.792.308.

Die Bevölkerungszahl Deutschlands ist übrigens nicht in diesem Maße gestiegen. Wir sind also deutlich mobiler geworden als jemals zuvor. Und das führt dazu, dass der Verkehr deutlich angeschwollen ist – und damit auch belastender wirkt. 4 Millionen Autos bundesweit haben einfach einen anderen Impact als 46 Millionen und die Anwohner des Frankfurter Flughafens würden sich deutlich weniger beschweren, wenn dieser einen Flugverkehr auf dem Level von 1950 abwickeln würde. Das, was heute noch erträglich ist, kann mit zunehmendem Verkehr dann belastend wirken.

In den Städten führt die stetig gestiegene Zahl der Autos dann zu Dichtestress. Viele der aktuellen Probleme wären gar keine Probleme, wenn es nur die Hälfte des Verkehrs gäbe. Die Luft wäre sauberer, weil nur noch die Hälfte der Abgase in die Luft geblasen würde. Der Schummeldiesel würde zwar immer noch schummeln, aber die Masse macht es hier. Weniger geparkte Autos würden bedeuten, dass die Anlage von Radwegen einfacher wäre. Radwege sind auf verkehrsarmen Straßen ohne parkende Autos sogar eigentlich recht überflüssig. Weniger Verkehr bedeutet weniger Unfälle. Weniger Stau. Weniger Lärm. Weniger Stress. Weniger Gefahrenpotenzial. Weniger Konfliktpotential.

Aber: Es ist bequem und toll, mobil zu sein. Wir müssen mobil sein, weil dies unser Lebenstandard erfordert. Und weil es das Leben erfordert, das wir leben wollen. Ich selbst habe jetzt die letzten Jahre eine Fernbeziehung von NRW nach Freiburg geführt – und das ging nur so gut, weil es schnelle Verkehrsverbindungen gab. Andere Menschen pendeln zig Kilometer zu ihrem Job, damit sie den Feierabend mit ihren Liebsten verbringen können. Andere müssen jeden Tag weit pendeln, weil sie sich die Mieten in der Nähe des Arbeitsplatzes nicht mehr leisten können. Auch wenn es natürlich Leute gibt, die aus purem Spaß Auto fahren – im Berufsverkehr tun es die wenigsten. Auch auf den Wochenendausflug verzichtet man genauso ungerne wie auf den Jahresurlaub.

Nun fehlt aber seit Jahrzehnten das wirklich überzeugende Verkehrskonzept. In die bestehenden Strukturen werden immer mehr Autos gekippt und sie so immer mehr be- und überlastet. Die Autos sind zudem immer größer und noch wilder motorisiert geworden und so langsam knallt es dann. Auf der Straße, aber auch in wilden Mobilitätsdiskussionen. Die Ursache ist immer, dass in den Städten immer mehr Verkehr immer dichter zusammen auf nicht radikal größeren Flächen fließt. Genau wie das Paar, das sich nachts in einem viel zu kleinen Bett um die Bettdecke streitet oder zwei Haustiere in einem zu kleinen Käfig, beißen sich die Verkehrsteilnehmer.

Hier fehlt bislang der große Wurf – der es irgendwie schaffen muss, diese gigantisch angestiegene Verkehrsflut in den Griff zu bekommen. Denn es ist auch nicht damit getan, einfach die Autos aus den Städten zu verbannen – der ÖPNV ächzt im Berufsverkehr vielerorts schon an der maximalen Belastungsgrenze. Auch selbstfahrende Autos bringen nicht, wenn sie dann eingesetzt werden wie unsere aktuellen Autos. Denn auch ein selbstfahrendes Auto benötigt seine 6m² und die gibt es einfach nicht für alle. Vielleicht zieht es die Firmen irgendwann wieder aus den angesagten Städten in weniger hippe, dafür aber bezahlbarere Städte. Vielleicht bekommen wir die Klein- und Mittelstädte so attraktiv, dass die einzigen Akademiker dort nicht nur die Lehrer sind. Vielleicht können wir einen öffentlichen Personennah- und fernverkehr schaffen, der wirklich funktioniert und bezahlbar ist. Immer mehr Autos in die Stadt fahren lassen, wird irgendwann jedenfalls nicht mehr funktionieren. Da hilft dann auch die wilde Wut gegen Dieselfahrverbote oder Umweltzonen nichts mehr – ein BILD-Aufkleber am Heck schafft trotzdem keine Parkplätze.

Aber etwas Ehrenrettung muss auch sein: Früher war auch nicht alles besser und wir haben schon gewaltige Fortschritte gemacht. Die Zahl der Verkehrstoten war astronomisch. New York den Stand der Verkehrstoten von 1910, also vor der massenhaften Verbreitung des Autos erreicht. Deutschland erreichte mit 21332 Toten im Jahr 1970 einen traurigen Zenit. Im Jahr 2017 starben „nur“ noch 3180 Menschen – bei der dreifachen Menge an Fahrzeugen auf der Straße und 20 Millionen Einwohnern mehr. Das sind zwar immer noch zu viele, aber angesichts der gewaltig gestiegenen Zahl der Autos, die zudem auch deutlich besser motorisiert sind, ist das ein Fortschritt. Die Sicherheitsfeatures haben etwas gebracht – und eine deutliche Verschärfung der Regeln. Gurtpflicht, Senkung der Promillegrenze, Einführung von Höchstgeschwindigkeiten inner- und außerorts und Helmpflicht für Motorradfahrer sind nur einige der eingeführten Verschärfungen.

Quelle: Statistisches Bundesamt

Die damaligen Anti-Sicherheitsgurt-Kampagnen erinnern übrigens frappierend an heutige Diesel-Fanboys und die heutige Debatte

Es tobte in Glaubenskrieg in Deutschland in jenen Tagen, der unerbittlich ausgefochten wurde – mit allen sozialen Konsequenzen. Gurtträger galten als ängstliche und kleinliche Spießbürger. Wer sich anschnallte, stand überdies im Ruf, mit missionarischem Eifer seine Umwelt zu nerven. Nicht wenige Autofahrer legten anfänglich genau deshalb den Gurt nicht an, weil sie solche ablehnenden Äußerungen vermeiden wollen. Umgedreht bezichtigten überzeugte Gurtträger die Gegner als verantwortungslos, arrogant und egoistisch – und forderten vereinzelt sogar Fahrverbote für Gurtmuffel.

http://www.spiegel.de/einestages/einfuehrung-der-gurtpflicht-a-946925.html

Wir haben schon einen gewaltigen Teil unserer Städte zurückerobert. Man kann zwar mit dem Auto in die Innenstadt fahren, aber es ist schwerer geworden, mit dem Auto direkt durch die Innenstadt zu fahren. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren zentrale Plätze in der Innenstadt häufig einfach Parkplätze. Heute ist es kaum vorstellbar, dass etwa der Münsterplatz in Freiburg mal zum Parken verwendet wurde.

Und was ist mit der Luft? Die Grenzwerte werden zwar fast täglich überschritten, aber es ist trotzdem kein Vergleich zu früher, wo es noch Kohleöfen gab, die Industrie ungefiltert Abgase in die Umwelt blasen konnte und man an der Tankstelle verbleites Benzin gekauft hat und dann noch fleißig überall geraucht wurde. 

Von daher gibt es bereits massive Fortschritte – trotz Schummelsoftware ist auch ein moderner Diesel sauberer als seine Vorfahren. Das Problem ist nur, dass er besser motorisiert ist und es schlicht und einfach viel, viel mehr von ihnen gibt. Und für dieses viel mehr benötigen wir eine Lösung.


Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.