Klassischer Journalismus von Egon Erwin Kisch

Es ist einfach eine schöne und interessante Sammlung an Texten: Egon Erwin Kisch hat im Jahr 1923 das Buch „Klassischer Journalismus – die Meisterwerke der Zeitung“ herausgegeben. Der „Rasende Reporter“ hat eine Sammlung  von journalistischen Artikeln zusammengestellt, die man so vielleicht nur Anfang des letzten Jahrhunderts verfassen konnte. Denn er geht weit zurück und startet mit Martin Luther, geht über diverse Aufklärerische Schriften von Blaise Pascal oder Voltaire hin zu Benjamin Franklin, Charles Dickens, Victor Hugo, Fjodor Dostojewskij, Karl Marx und weiteren Autoren, die man heutzutage nicht als Journalisten und Zeitungsautoren kennt. 
Und was für Text sind dabei! Ferdinand Lassalles „Die Presse, der Hauptfeind der gesunden Entwicklung“ von 1863 enthält schon alle Elemente der aktuellen Journalismusdiskussion von „Lügenpresse“ bis hin zu „Wie finanziert sich der Journalismus?“:

„Unser Hauptfeind, der Hauptfeind aller gesunden Entwicklung des deutschen Geistes und des deutschen Volkstums,  das ist heutzutage die Pr e s s e. Die Presse ist in dem Entwicklungsstadium, auf welchem sie angelangt ist, der gefährlichste, der wahre Feind des Volkes, ein um so gefährlicherer, als er verkappt auftritt. Ihre Lügenhaftigkeit, ,ihre Verkommenheit‘, ihre Unsittlichkeit werden von nichts anderem überboten, als vielleicht von ihrer Unwissenheit.“

Das könnte auch von Bernd-Björn Höcke stammen.

Ich kann euch hier nicht die Geschichte der europäischen Presse geben. Genug, einst war sie wirklich der Vorkämpfer für die geistigen Interessen in Politik, Kunst und Wissenschaft, der Bildner, Lehrer und geistige Erzieher des großen Publikums. Sie stritt für Ideen und suchte zu diesen die große Masse emporzuheben. Allmählich aber begann die Gewohnheit der bezahlten Anzeigen, der sogenannten Annoncen oder Inserate, die lange gar keinen, dann einen sehr beschränkten Raum auf der letzten Seite der Zeitungengefunden hatten, eine tiefe Umwandlung in dem Wesen derselben hervorzubringen. Es zeigte sich, daß diese Annoncen ein sehr ergiebiges Mittel seien, um Reichtümer zusammenzuschlagen, um immense jährliche Revenuen aus den Zeitungen zu schöpfen. Von Stund an wurde eine Zeitung eine äußerst lukrative Spekulation für einen kapitalbegabten oder auch für einen kapitalhungrigen Verleger. Aber um viele Anzeigen zu erhalten, handelte es sich zuvörderst darum, möglichst viele Abonnenten zu bekommen, denn die Anzeigen strömen natürlich in Fülle nur solchen Blättern zu, die sich eines großen Abonnentenkreises erfreuen. Von Stund an handelte es sich also nicht mehr darum, für eine große Idee zu streiten, und zu ihr langsam und allmählich das große Publikum hinaufzuheben. Sondern umgekehrt, solchen Meinungen zu huldigen, welche, wie sie auch immer beschaffen sein mochten, der größten Anzahl von Zeitungskäufern (Abonnenten) genehm sind. Von Stund an also wurden die Zeitungen, immer unter Beibehaltung des Scheins, Vorkämpfer für geistige Interessen zu sein, aus Bildnern und Lehrern des Volks zu schnöden Augendienern der geldbesitzenden und also abonnierenden Bourgeoisie und ihres Geschmackes, die einen Zeitungen gefesselt durch den Abonnentenkreis, den sie bereits haben, die anderen durch den, den sie zu erwerben hoffen, beide immer in Hinsicht auf den eigentlich goldenen Boden des Geschäfts, die -Inserate

Das könnte – in etwas abgeschwächter Form – auch von Stefan Niggemeier stammen und journalistische Geisterbahnen wie „Der Westen“ beschreiben. Aber Kischs Band versammelt auch noch weitere  Texte. Emile Zolas „J’accuse“, den berühmten Text der Dreyfuß-Affäre. Den in Deutschland zu unrecht vergessenen Jules Hurets, der mit „Göttingen: Die Studentenverbindungen“ eine zutiefst bittere Beschreibung der Burschenschaften, die ihm als Außenstehender schon im Jahr 1900 so bizarr vorkamen wie das ganze Burschenschaftswesen uns heute. Auch Henry Stanleys war im Auftrag einer Zeitung unterwegs, um David Livingstone zu finden. Seine Expedition ist weltberühmt, aber der entstandene Text ist… weniger gehaltvoll:

Das Gespräch begann. Worüber? Ich gestehe, ich habe es vergessen. Ach, wir wechselten Fragen aus, wie folgende: „Wie sind Sie hergekommen?“ und „Wo sind Sie die ganze Zeit gewesen, die Leute wähnten Sie schon tot.“ Jawohl, so begann das Gespräch. Was aber der Doktor mir sagte, und was ich ihm erwiderte, das könnte ich nicht genau berichten, denn ich war stets damit beschäftigt, ihn anzublicken, des wundervollen Mannes Gestalt und Züge zu studieren, an dessen Seite ich nun in Zentral-Afrika saß. Jedes Haar seines Hauptes und Bartes, jede Runzel seines Antlitzes, seine hageren Züge, sein etwas abgespanntes Wesen – sie alle teilten mir mit, was ich stets zu erfahren wünschte, seitdem ich die Worte vernommen: „Nehmen Sie, was Sie brauchen, aber finden Sie Livingstone.“ Was ich sah, eine besonders interessante Nachricht für mich, eine unübertünchte Wahrheit. Ich lauschte undlas zu gleicher Zeit. Was erzählten mir doch diese stummen Zeugen!

Das war’s. Der Mann reist mit enormem Aufwand und gigantischen Kosten durch den Kongo, dabei sterben zig Mitglieder seiner Expedition unter riesigen Strapazen und am Ende entsteht dieser Text, in dem er einfach den Inhalt des Gesprächs vergessen hat. Schon alleine für diese journalistische Dreistigkeit lohnt sich die Lekture.

Karl Marx darf sich über die Einstellung seiner Zeitung 1849 beklagen, Theodor Herzl verkünden, dass er „ein Judenblatt“ mache, George Forster in wilde Schwärmerei über den Kölner Dom ausbrechen, Melchior Grimm 1787 eine bittere Klage über einen Verkehrsunfall schreiben, Charles Dickens eine Gerichtsszene schildern, Henry Stephan Oppert de Blowitz sich 1878 selbstgerecht beweihräuchern, wie er sich mit großem Aufwand „den deutsch-französischen Vertrag“ ein paar Stunden vor den anderen Journalisten verschaffte, was die Weltgeschichte nunmal im Rückblick betrachtet überhaupt nicht verändert hat, E.T.A Hoffmann liefert eine wunderbare Beschreibung des Treibens auf einem Wochenmarkt, Richard Wagner schreibt über Gemälde und Heinrich Heine über Konzerte. Was für eine Sammlung! 

Gerade da die Texte so alt sind, bieten sie einen komprimierten Einblick in eine fremde Welt, eine vergangene Debatte, in Dinge, die früher hitzig diskutiert wurden, jetzt aber völlig in Vergessenheit geraten sind. Wer einmal die Fährte aufgenommen hat und weiter recherchiert, wird hier mit reicher (Wissens-)beute belohnt. Was ist damals eigentlich genau in der Dreyfuß-Affäre passiert? Was hat Karl Marx 1848 genau gemacht? Wogegen wettert Jonathan Swift eigentlich genau? Wie sehen die beschriebenen Gemälde aus? Wie hört sich die beschriebene Musik an? Gibt es noch weitere Reportagen von Jules Huret auf Deutsch online? (Anscheinend nicht). Giuseppe Mazzinis „Manifest des jungen Italiens“ verleitet zur Recherche der Geschichte der italienischen Einigung und so weiter und so fort. 
Nicht alles ist im Rückblick wirklich gut. Manch berühmter Text, wie etwa der oben erwähnte Stanley, mag nicht überzeugen. Manche Debatten sind im Rückblick völlig irrsinnig und irrsinnig ist auch Ludwig Speidels zwölfseitige Suche nach dem Fuß einer Schauspielerin. Und manch ein damaliger Journalist hat auch nicht gerade messerscharf, sondern eher wie ein herkömmlicher Forentroll argumentiert. Zudem gibt es tolle Wörter zu entdecken: Universalstupidität und Zetergeschrei sollte man häufiger benutzen. 

Daher kann man nur sagen: Ein toller Band, der definitiv lesenswert ist. Die Werke Egon Erwin Kischs sind seit Anfang Januar gemeinfrei, daher könnt ihr euch den Band hier herunterladen oder hier online anschauen. 

Die Reportagen Kischs, die ihn so berühmt gemacht haben, sind übrigens auch mehr als lesenswert. Er bietet einen sehr scharfen Blick in eine uns mittlerweile völlig fremde Welt und hat ein Gespür für die Armut und das Elend der Menschen und er geht dahin, wo es gute Geschichten gibt: Er geht in Obdachlosenunterkünfte in London, auf Schlachtfelder im Balkankrieg, er begleitet Nordseefischer, besucht Gerichtsverhandlungen, schreibt über Kriminalfälle, interviewt Artisten und Karl May, taucht mit einem der ersten Taucheranzüge auf den Meeresgrund, besucht Fabriken und beschreibt die Not der Arbeiter. Er reist um die Welt, USA, Australien, Mexiko, Russland, China, der Nahe Osten und muss dann als bekennender Kommunist und Antifaschist vor den Nazis fliehen. Australien verwehrt ihm die Einreise, Kisch springt trotzdem an Land. Mit Eifer bereist er die Sowjetunion und lässt sich dann doch täuschen oder will sich täuschen. Seine Reportagen zeigen die Sowjetunion wie sie vielleicht hätte sein sollen – als Utopie, in der die Menschen ihre Fesseln abgeworfen haben und jetzt alles durch gemeinsame Arbeit besser wird – und eben nicht den stalinistischen Terror, die Ausbeutung und die Not und das Elend der Menschen im angeblich besseren System.

Ich habe hier einige seiner Bücher gesammelt. Die gesamte Werksausgabe gibt es im Internet Archive. Ein guter Einstieg ist der Band „Der Rasende Reporter“, der ihm nicht nur seinen Spitznamen gegeben hat, sondern der auch höchst interessant ist – viel Spaß damit!

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