Liebe Ahnenforscher… was tut ihr da gerade eigentlich? Es ist ja ein nettes Hobby, wenn man wissen will, wer seine Vorfahren waren und wo man herkommt. Es kann auch richtig Spaß machen, mit detektivischem Spürsinn die Lebenswege der Ahnen zu verfolgen, obskure Archive aufzusuchen, in alten Kirchenbüchern nach Hinweisen zu suchen, abwegige Spuren zu verfolgen und am Ende etwas mehr zu wissen. Ein nettes Hobby, am Ende kann man auf der Familienfeier im Zweifelsfall einen schick gestalteten Stammbaum zeigen und kann verkünden, dass ein Teil der Verwandtschaft aus dem Eichsfeld stammt. Soweit, so harmlos.
Aber, liebe Genealogen: Was macht ihr denn bitte aktuell für einen Unsinn? Es sind zwei Berichte, die einen aufschrecken lassen.
Die eine ist die Verhaftung des Golden State Killers in den USA – dieser Serienmörder konnte von der Polizei aufgespürt werden, indem sie DNA-Spuren mit der Gendatenbank GEDmatch von Ahnenforschern verglichen hat.
Die dort gespeicherte DNA entfernter Verwandter des Mörders führte dann zur Verhaftung. Es ist natürlich gut, wenn ein Serienmörder gefasst wird. Der Aufbau einer DNA-Datenbank, über die quasi jeder Bürger identifiziert werden kann, in privater Hand ist aber eine dermaßen große Privatsphäreverletzung, dass man erschaudert. Entsprechende Datenbanken tauchen sonst nur in den schlimmsten Science Fiction-Dystopien oder in den süßen Träumen deutscher Innenminister auf. Die Einrichtung entsprechender Datenbanken, die nicht nur Kriminelle, sondern alle Bürger identifizierbar machen, sind in westlichen Demokratien zurecht bislang immer an verfassungsrechtlichen Bedenken und politischem Widerstand gescheitert. Das ist ein Projekt, das man vielleicht der chinesischen KP mit ihrem digitalen Überwachungsstaat oder einem Regime wie Nordkorea zutrauen würde, aber sowas einfach mal eben ohne öffentliche Debatte aus genealogischem Interesse quasi im Geheimen aufzubauen, ist eine Unverschämtheit. Es ist zu befürchten, dass entsprechende Datenbanken dann zunehmend missbraucht werden, wenn sie einmal erstellt wurden. Keine hat was dagegen, dass Serienmörder gefangen werden. Oder Mörder, die nur einmal gemordet haben. Oder sonstige Gewaltkriminelle. Aber wie die Geschichte gezeigt hat, wurden entsprechende Datenbanken irgendwann immer missbraucht. Die niederländischen Volkszählungsdaten dienten dann dem Holocaust, weil sie die Religionszugehörigkeit abfragten. Kontoabfragen, die gegen Terrorismusfinanzierung gedacht waren, dienten dazu, arme Bafög-Studenten zu schikanieren. Polizeibeamte nutzten Polizeidatenbanken, um die Daten von Prominenten, Familienmitgliedern und Nachbarn abzufragen. Ganz zu schweigen davon, was die Sicherheitsapparate eines Trump, Erdogan oder Orban damit anstellen könnten. Herzlichen Dank, liebe Ahnenforscher. Vielleicht wäre es doch besser, wenn ihr nicht hättet herausfinden wollen, wer euer Schwippschwager siebten Grades war.
Und wollt ihr wirklich eure Familiengeschichte per DNA-Analyse herausfinden? Es gibt interessante Fälle, in denen die Analyse dann die wohlbehüteten Geheimnisse einer jeden Familie aufdeckt. Die BBC warnt sogar davor, DNA-Tests zu verschenken: The Christmas present that could tear your family apart.
Jemand hatte eine Affäre. Irgendwer wurde innerhalb der Familie stillschweigend adoptiert. Ein Vorfahr war ein Sklavenhalter, der seine Sklavinnen vergewaltigte und schwängerte. Oder der Stammbaum erweist sich dann aufgrund von sexuellem Missbrauch als Kreis. Alles Dinge, über die die (häufig noch lebenden) Vorfahren einen Mantel des Schweigens gelegt haben. Genau wie die Zwerge aus Moria in Herr der Ringe kann man auch „zu tief graben“ und dann weckt man einen Balrog. Der wattebauschbewaffnete Ahnenforscher reißt diese alten Wunden wieder auf. Da kann man fast froh sein, wenn keiner aus der Verwandtschaft auf die Idee kommt, Ahnenforschung zu betreiben.
Und grundsätzlich: Mit welchem Recht werden eigentlich Daten zu Verwandtschaftsverhältnissen ohne Zustimmung der Betroffenen in gigantische Onlinedatenbanken eingepflegt? Das sind eindeutig personenbezogene Daten, die zurecht einen besonderen Schutz genießen. So harmlos es in den meisten Fällen auch ist, die Abstammung ist hochbrisant. So will sicherlich nicht jeder in Osteuropa, dass man seine Abstammung als Roma oder Sinti direkt googlen kann – einfach, weil diese Minderheit brutal diskriminiert wird. Es gibt Menschen, die sich von ihrer buckeligen Verwandtschaft gelöst haben und nicht mehr mit dieser Horde von stadtbekannten Vollidioten in Verbindung gebracht werden wollen. Es gibt Menschen, die schlicht und einfach nicht im Internet auftauchen wollen und die kein Interesse daran haben, dass sie mit Vor- und Nachfahren, Wohnort, Geburtsdatum, Ehepartner, Beziehungsstatus, Kindern, Beruf und so weiter irgendwo gespeichert werden?
Liebe Ahnenforscher, kann es sein, dass ihr euch da etwas verrennt? Wisst ihr eigentlich, was für wertvolle Datenbanken ihr da gerade für diese Firmen aufbaut? Und habt ihr die Menschen gefragt, die ihr da in die Datenbanken eintragt? Nicht die toten Vorfahren, sondern die von eurem Tun betroffenen Verwandten. Erzählt ihnen doch mal, dass sie im Kern jetzt keine Zigarettenkippe mehr wegwerfen können ohne dass sie identifiziert werden können, weil ihr mit der gemeinsamen Familien-DNA Ahnenforschung betreibt. Das wäre doch mal eine interessante Unterhaltung auf der nächsten Familienfeier und sicherlich kontroverser als die Verkündung, dass ihr jetzt den Familienzweig von Tante Marie bis 1722 nachverfolgen könnt und dass da jemand Tagelöhner in Freckenhorst war.