Nir Eyal – Indistractable

Nir Eyal hat mit Hooked – How to build habit forming products eines der Standardwerke des Silicon Valley geschrieben. In diesem Buch beschreibt er ausführlich, wie man Softwareprodukte baut, welche von den Nutzern gewohnheitsmäßig benutzt werden ohne dass diese lange darüber nachdenken. Die dort vorgestellten Tricks findet man mittlerweile in fast jeder App und auf fast jeder Webseite. Denn eine App, die von den Nutzern gewohnheitsmäßig genutzt wird, ist eine erfolgreiche App. Gleichzeitig führt das dazu, dass fast alle Apps mit diesen Tricks versuchen, die Nutzer zu umwerben. Die Effekte kennt jeder: Man versumpft vor YouTube. Man aktualisiert wie blöde die Twitter-App. Man ruft ständig irgendeine App auf. Man klickt wie wild durch’s Internet und vernachlässigt dann andere Dinge. Manchmal ist es ein suchtähnliches Verhalten, dem andere, wichtige Dinge zum Opfer fallen. Eyal bringt in der Einleitung das Beispiel, dass er von seiner kleinen Tochter dabei erwischt wurde, dass er YouTube-Videos geschaut hat während er eigentlich mit ihr spielen wollte. Daher versucht er in seinem neuen Buch „Indistractable. How to control your attention and choose your life“ nun, den von ihm selbst in die Welt gesetzten Geist wieder zurück in die Flasche zu bringen.

Das Ergebnis ist etwas unterwältigend und für viele nur schwer umzusetzen: Seine Empfehlung ist „Timeboxing“, also eine bewusste Zeitplanung. Man soll sich feste Zeitslots setzen , in denen man z.B. Social Media checkt, Nachrichten 
liest oder seine Mails bearbeitet.

Der Rest ist … im Kern das Abschalten von Benachrichtigungen und der Versuch, sich an die festgelegten Zeiten zu halten. Die Mails werden dann nicht direkt gelesen, wenn die Benachrichtigung aufpoppt, die Pushnachricht stopft einem nicht mit voller Lautstärke irrelevante Themen ins Leben („Oktoberfest in München eröffnet“, „Ganz weit weg ist was passiert und wir wissen auch noch nix wollten dich aber trotzdem informieren“) und so soll dann Konzentration entstehen. Das ist natürlich alles nicht verkehrt und funktioniert auch. Es lohnt sich wirklich, alle Pushnachrichten am Handy zu deaktivieren, um nicht von Spiegel Online ständig Quatsch gepusht zu bekommen oder über jeden Retweet oder jeden 
Instagram-Kommentar direkt informiert zu werden. 

Aber gleichzeitig fühlt es sich auch etwas hohl und hilflos an – das Vorgehen erfordert eine so dermaßen große Willenskraft, so viel Planung und stößt in der Praxis auf so viele Widerstände, dass es quasi schon zum Scheitern verurteilt ist. Man kann versuchen, sich die Technikkonzerne und die Werbeindustrie vom Hals zu halten, aber deren Ziel in der „attention economy“ ist ja genau das erobern der Aufmerksamkeit von Menschen. Zigtausende furchtbar kluge und gut ausgebildete Menschen arbeiten den ganzen Tag daran, dass sie deine Aufmerksamkeit auf das gewünschte lenken können. Sei es Facebook, das ein Interesse daran hat, dich möglichst lange auf den eigenen Seiten surfen zu haben, sei es 
YouTube, die dir möglichst viel Videos (bzw. Werbung) zeigen wollen oder eine herkömmliche Werbeagentur, die dir ihre Werbung egal wie in den Schädel brennen will: Das Individuum ist hier fast machtlos. Die vorgeschlagenen Tricks haben ein eingebautes Verfallsdatum: Wenn sie funktionieren, wird jemand viel Zeit, Geld und Energie investieren, um sie wieder nutzlos zu machen.

Dazu kommt, dass nicht jeder auf seiner Arbeit so viele Freiheiten hat wie ein Akademiker und freier Buchautor wie Nir Eyal. Es ist natürlich total sinnvoll, das Telefon auszuschalten, wenn man sehr konzentriert an einer Sache arbeiten muss. Jeder Anruf reißt einen direkt aus dem Thema und man muss sich wieder neu eindenken. Ich weiß aber auch, dass ich in meinem letzten Job das Telefon nicht abstellen konnte – wer direkten Kundenkontakt hat, bekommt ganz schnell Ärger mit Chef und Kollegen, wenn man nicht ans Telefon geht. Das gilt auch für andere Ablenkungen: Natürlich ist es super, wenn man sich einen Zeitslot zum konzentrierten Arbeiten aufstellt und ein entsprechendes Schild aufstellt. Aber ob sich alle Kollegen daran halten? Klappt das im Großraumbüro? Oder im 4-Mann-Büro, wenn die Kollege gerade Langeweile haben und schwätzen? Klar, wie das Buch so schön formuliert: „Distraction is a sign of dysfunction“, aber was soll der normale Arbeitnehmer dann machen?

Im Buch wird der Fall einer Firma diskutiert, die ein enormes Problem mit Mitarbeiterfluktuation hatte und die groß vorgestellte Lösung war, dass die Mitarbeiter nach Feierabend (!) einen Tag (!) in der Woche nicht erreichbar sein durften. Aus so einer Arbeitskultur kann man eigentlich nur flüchten und da hilft dann auch nicht die Lektüre eines Selbsthilfebuches.

Ebenso hilflos ist der Rat, den Verlockungen von Newsfeeds zu entgehen, indem man einfach sein Bookmark z.B. auf den Nachrichteneingang setzt. Das geht, aber spätestens wenn man es mit Apps zu tun hat, landet man wieder bei jedem Start auf dem Newsfeed, der einem auch auf Teufel komm raus untergeschoben wird – und zwar auf mittlerweile fast jeder Seite. Selbst hier im Blog kannst du armer Leser dich fleißig bis zum Erbrechen an fast 10 Jahren meiner geistigen Ergüsse totlesen, wenn du willst. Da helfen dann auch keine Browser-Extentions, die auf YouTube die empfohlenen Videos ausblenden und dann beim nächsten Redesign eh nicht mehr funktionieren.

Es funktioniert natürlich auch, zum Arbeiten einfach das Internet auszuknipsen – solange bis man das Internet zum Arbeiten braucht. Onlinerecherchen, digitalisierte Quellen und Cloudzwang machen das zunehmend schwieriger. Wenn die benötigte Software aus Kopierschutzgründen nur mit bestehender Internetverbindung startet oder gleich eine Webseite ist, dannn scheitern alle entsprechenden Versuche.

Daher bleibt das Buch in sich hilflos: In einer Welt, in der jeden Tag tausende Ablenkungen auf uns warten, helfen solche Taschenspielertricks nur wenig weiter. Das klingt jetzt alles sehr negativ – ich glaube nämlich einfach nicht, dass man dem Individuum in einer bewusst auf süchtigmachende Ablenkungen optimierten Umgebung die Verantwortung geben kann. Genauso wie es nicht funktioniert, dem hungrigen Kind, das Nachts im Süßigkeitenladen eingeschlossen wurde, die Schuld daran zu geben, dass es sich überfuttert hat. Oder dem ehemaligen Raucher, der links und rechts mit Zigarettenwerbung „bespielt“ wird und an jeder Supermarktkasse und in jeder Kneipe auf dem Weg zur Toilette der Versuchung widerstehen muss. Solange die Geier überall auf unsere Aufmerksamkeit lauern, ist es dem Einzelnen auch nicht wirklich anzukreiden, dass er abgelenkt ist. Es ist halt schwer, sich auf das Lesen eines einzelnen Artikels zu konzentrieren, wenn nebendran zig Onlinewerbungen blinken und tönen. 

Ein Punkt ist aber sicherlich eine sehr hilfreiche Erkenntnis: Ablenkung und Prokrastination sind nicht nur externe Faktoren, sondern kommen auch von innen. Der Student, der gerade an seiner Abschlussarbeit scheitert, ist natürlich empfänglicher für Ablenkungen. Wenn es auf der Arbeit richtig ranzig läuft, die Kunden randalieren, die Kollegen nerven und der Chef hyperventiliert, dann ist es völlig normal, dass sich das Gehirn eine Pause sucht. Und wer in der Partnerschaft nur noch auf’s Handy glotzt, kann sich fragen, ob er wirklich noch in der Partnerschaft glücklich ist. Genau wie bei jeder anderen Sucht muss man die tiefergehenden Probleme beheben, um die Sucht in ihre Grenzen zu setzen. 

Der Alki trinkt nämlich nicht morgens Doppelkorn, weil das so gut schmeckt, sondern um einen inneliegenden Schmerz zu betäuben. Mit Smartphones geht das auch – und wer hier massive Probleme mit Ablenkungen, fehlender Konzentration und 
Prokrastination hat, darf gerne in sich gehen und schauen, was denn jetzt die wirktliche Ursache der Probleme ist. Auch wenn das schmerzhafter sein wird als mal eben eine App zu installieren, die ab 21 Uhr das Internet ausknipst.

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