Wie viel Nationalsozialismus steckt in unserem Arbeitsleben?

West-Berlin, 1955: Wicklungseinbau im Generatorenbau in der AEG-Turbinenfabrik
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Die aktuelle Coronakrise zeigt zuverlässig alles auf, das auch vorher schon nicht so richtig funktioniert hat. Wir wussten, dass es in der Kranken- und Altenpflege nicht besonders gut läuft. Wir wussten, dass unsere Schulen definitiv keine Vorreiter der Digitalisierung sind. Und die Krise zeigt auch ganz bittere Wahrheiten in unserer Arbeitswelt auf.

Nachdem jahrelang im Boom von Fachkräftemangel gesprochen wurde und von einem Wandel in der Arbeitswelt, einem kollegialen Umgang der Chefs mit ihren Mitarbeitern und eine netten Kuschel-Wohlfühl-Arbeitswelt propagiert wurde, zeigt diese nun wieder ihre hässliche Fratze. Nicht nur ein Tönnies spielt mit der Gesundheit und dem Leben seiner Mitarbeiter – dem trauen wir eh alles Schlimme zu. Natürlich wussten wir auch vorher, dass die Arbeitsbedingungen für ungelernte Arbeiter und gerade für ausländische Kräfte in unseren Fleischfabriken, Reinigungskolonnen oder Paketdiensten katastrophal sind. Aber jetzt trifft es auch die Mittelschicht in den Teppichetagen: Die Gefahr, direkt am Arbeitsplatz zu erkranken oder gar zu sterben. Corona ist gefährlich und es ist schon erklärungsbedürftig, wenn Chefs es nicht einsehen, dass Home Office Leben rettet und zudem verhindert, dass irgendwann der gesamte Innendienst flach liegt, weil jemand die Seuche eingeschleppt hat. Die Geschichten aus der Arbeitswelt sind streckenweise gruselig.

Das alles verstärkt dieses im Hinterkopf lauernde Gefühl, das die Arbeitswelt ein undemokratisch in unsere Demokratie ragendes Stück Autoritarismus ist. Denn die Arbeitswelt ist vom Prinzip her als Diktatur aufgebaut. Der Chef bestimmt – und die Mitarbeiter führen die Befehle aus und wenn sie nicht folgen, dann war es das ganz schnell mit dem Job. Die Organisationshierarchie manch einer Firma unterscheidet sich nicht von der eines autoritären Staates. Oben sitzt der alles bestimmende Herrscher und darunter gibt es dann verschiedene Lakaien/Abteilungsleiter, die seine Befehle an weitere Untergebene weiterreichen. Eine klassische Organisationshierarchie in Pyramidenform, wie man sie sehr häufig in den klassischen Familienunternehmen findet. Oben der Firmenchef und darunter dann der Rest der Pyramide. Manchmal ist die Rhetorik von inhabergeführten Firmenchefs auch nicht weit weg vom Führerprinzip.

Corona zeigt, wie brüchig die demokratischen Elemente der Arbeitswelt sind. Wenn der Chef dich ins Büro ruft, dann hast du wenig Chancen dem Ruf nicht zu folgen. Er kann dich in deiner Gesundheit und deinem Leben gefährden und du bist ihm ausgeliefert. Ich habe zum Glück gerade einen Arbeitgeber, der mir Home Office ermöglicht – mein voriger Chef hingegen schreibt gerade Leserbriefe an die Lokalzeitung, in denen er sich über die hohen Kosten für die Schnelltests für Mitarbeiter beschwert. Diese kosten im Aldi 3,99€ und weitere Fragen zu den Arbeitsbedingungen und sonstigen Corona-Schutzmaßnahmen erübrigen sich eigentlich.

Aber wo kommt das alles her? Mir ist das Buch „Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute“ von Johann Chapoutot in die Hände gefallen und die Kernfrage des Klappentextes klang gerade sehr, sehr interessant: „Wie stark ist unsere Arbeitswelt noch heute vom Geist der NS-Zeit geprägt?“

Tja, diese Frage beantwortet das Buch leider nicht, es ist aber trotzdem spannend. Zuerst muss ich aber Propyläen etwas rügen – das Buchcover ist einfach etwas zu martialisch aufgemacht und der Titel „Gehorsam macht frei“ ist natürlich auch arg reißerisch. Das geht sicherlich auch etwas weniger dramatisch.

Chaopoutot untersucht den Werdegang des NS-Juristen Reinhard Höhn. In der Weimarer Republik ist dieser ein typischer nationalrevolutionärer Akademiker, der die Demokratie verachtet und zugleich Standesdünkel gegenüber den Nationalsozialisten hat. Diese sind ihm einfach zu plebejisch – was ihn aber nicht davon abhält nach 1933 kräftig Karriere zu machen und einer der profiliertesten NS-Rechts- und Staatswissenschaftler zu werden.

Nach Kriegsende taucht der SS-Oberführer zuerst unter und praktiziert als Heilpraktiker in Lippstadt. 1956 gründet er die Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft Bad Harzburg, welche – große Überraschung – die Führungskräfte des Wirtschaftswunders ausgebildet hat. Über 600.000 Personen aus leitenden Positionen aus allen namhaften Firmen besuchten die Akademie im Laufe der Jahre und genau dies ist Chapoutots Untersuchungsgegenstand: Was wurde gelehrt? Und wie verhalten sich diese Lehrinhalte zu Höhns Inhalten aus dem Nationalsozialismus? Welche inhaltlichen Kontinuitäten gab es? Was lernten die Chefs der 50er beim SS-Mann?

Höhn entwickelte das Harzburger Modell:

Das Harzburger Modell[3] betrachtet die Mitarbeiter als selbstständig denkende, handelnde und entscheidende Individuen. Es handelt sich um ein leistungs- und zufriedenheitsorientiertes Modell, das Zielorientierung statt Verfahrensorientierung propagiert und Unternehmensziele und Mitarbeiterziele zu integrieren versucht. Dabei bestimmt es durch das Kaskadenverfahren (Zielsystem mit Ober- und Unterzielen) individuelle oder gruppenbezogene Ziele, die regelmäßig zu überprüfen und anzupassen sind (englisch Management by Objectives). Im Regelfall wird delegiert, der Vorgesetzte greift lediglich im Ausnahmefall ein (englisch Management by Exception), ansonsten beobachtet und kontrolliert er seine Mitarbeiter. Die Mitarbeiter übernehmen die Selbstkontrolle ihres in Stellenbeschreibungen fest umrissenen Aufgabenbereichs[4] und führen mit ihren Vorgesetzten eine gemeinsame Abweichungsanalyse durch. Die Verantwortung wird im Modell durch Aufteilung in Handlungs- und Führungsverantwortung getrennt. Letztere beruht auf der „Allgemeinen Führungsanweisung“, die über die Festlegung der Führungsgrundsätze das Verhältnis zwischen Vorgesetztem und seinen Mitarbeitern regelt. Insbesondere ist der Dienstweg einzuhalten, Stabsstellen ist keine Weisungsbefugnis zugeordnet. Der Stellvertreter und dessen Aufgabe der Stellvertretung sind wichtige Kriterien zur Aufrechterhaltung der Handlungsfähigkeit.[5]

Dieses Modell fällt nicht vom Himmel: Er greift zum einen tief in die (Militär)Geschichte zu Scharnhorsts Auftragstaktik, bei der die Offiziere einen Auftrag bekamen und diesen dann mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln selbstständig erreichen sollten. Der Chef gibt die Anweisung, dass etwa eine bestimmte Stückzahl produziert werden soll und beschränkt sich dann auf die Beobachtung, ob auch diese bestimmte Stückzahl produziert wird. Wie dies geschieht, ist ihm egal. Höhn greift hier auf seine eigenen Überlegungen aus dem Nationalsozialismus zurück. Denn dieser war doch weiter von einem höchst effizienten und alles kontrollierenden Staatswesen entfernt als weithin bekannt ist. In einem langen – und für Laien höchstwahrscheinlich unlesbaren – Kapitel ergründet Chaopoutot die Staatsskepsis der Nationalsozialisten, welche die „Lebenskraft des deutschen Volkes“ vom preußischen Verwaltungswesen erstickt sahen. Es ist dieses gewissermaßen jugendliche Zerstören althergebrachter Vorschriften und Verwaltungsroutinen, das den Nationalsozialismus auszeichnet. Die moderne Digitalwirtschaft würde vielleicht davon sprechen, dass die Verwaltung „disrupted“ wurde.

Es ist aber nicht nur eine Skepsis gegen starre Regeln: Der nationalsozialistische Eroberungsfeldzug stellt die Verwaltung ganz konkrete Personalprobleme. Es gibt schlicht und einfach nicht genügend deutsches Verwaltungspersonal, um all die eroberten Gebiete so zu verwalten wie das Reich selbst. Die der Wehrmacht folgenden Verwaltungsbeamten müssen mit wenig Personal viel leisten und hier soll für Höhn wieder die Auftragstaktik greifen: Von oben kommt das Ziel und wie es dann vor Ort umgesetzt wird, ist Sache des Verwaltungsbeamten vor Ort. Möglichst wenig Regeln und Gesetze sollen dessen Handlungsfähigkeit einschränken. Wichtig ist nur, dass er sein Ziel erreicht. Egal wie.

Dieser Freiraum an Autonomie zog eine entsprechend größere Verantwortung nach sich: Den Auftrag erfolgreich abzuschließen wurde erwartet; daran zu scheitern bedeutete das persönliche Versagen desjenigen, der seiner Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen war. Die Autonomie war nichts als Fassade: Der Untergebene war zwar frei, die Mittel zu wählen, aber sicherlich nicht, das Ziel zu bestimmen.

Das funktioniert natürlich nicht: Gerade die Gebiete im Osten sind bekannt für die Exzesse, die Korruption und die persönliche Bereicherung durch die deutsche Verwaltungsspitze. Diese konkrete Umsetzung der Ideen Höhns vor Ort thematisiert Chaopoutot leider nicht stark.

Wirklich vage bleibt er auch bei seiner eigentlichen Fragestellung: Zum einen ist Höhns Harzburger Modell heute nicht mehr das Modell, welches in den Wirtschaftsakademien gelehrt wird. Gewisse Elemente kommen uns bekannt vor, aber im normalen Arbeitsleben wird man nicht mehr mit dem Harzburger Modell in Berührung kommen. Chaopoutot bleibt auch in seiner Analyse bei den Texten Höhns und geht nicht auf die wirklich interessante Frage ein, wie das Harzburger Modell dann in den Betrieben gelebt und wie diese Ideen dort umgesetzt wurden. Denn wir wissen alles, dass alle betriebswirtschaftlichen Organisationstheorien beim ersten Kontakt mit der Firmenrealität sofort zu brennen anfangen. Man kann sich wunderbar vorstellen, wie so manch ein Firmenpatriarch der 50er Jahre aus der Akademie in Bad Harzburg zurück kam und natürlich seinen Mitarbeitern keine (Schein)autonomie gegeben hat. Dies zu untersuchen wäre schwieriger als theoretische Texte auf Kontinuitäten zu der Zeit vor 1945 zu untersuchen. Hier dürfte eine passende Quellenbasis nur schwer zu finden sein.

In den 1970er Jahren holt seine Vergangenheit Höhn ein: Der Spiegel berichtet groß und breit über ihn und seine Tätigkeit vor 1945 als er gerade dabei war, lukrative Beratungstätigkeiten für die Bundeswehr einzufädeln. Und der Zeitgeist wandelt sich: Das Harzburger Modell sei zu starr, zu wenig flexibel, zu bürokratisch. Andere Modelle setzen sich durch, die zwar ähnlich sind, aber dann doch anders: So ist das „Management by Objectives“ (auch heute noch bekannt durch seine SMART-Ziele) im Kern nah an Höhn, aber dann doch eben völlig ohne einen nationalsozialistischen Kern: Entwickelt wurde es von Peter Drucker, einem ursprünglich jüdischen, zum Protestantismus konvertierten Managementberater, der vor den Nazis in die USA geflüchtet ist. Es bleibt daher leider offen, was hier dann wirklich der nationalsozialistische Kern der Theorie ist und wie dieser die Nachkriegsarbeitswelt geprägt hat. Was bleibt, ist ein weiterer Baustein in der Erforschung der Frage, wie stark 1945 ein Bruch war. Auch für den Falle Höhns zeigt sich, dass der Bruch nicht so radikal war, wie gerne behauptet wurde, sondern dass die Gedankenwelt, die Theorien und die Ideen rhetorisch abgerüstet dann doch in die BRD gerettet werden konnten. Der eigentliche Bruch kam dann erst später mit der Ablösung der NS-Funktionäre aus leitenden Positionen.

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