George Orwell – Reise durch Ruinen

Es gibt im Onlineshopping so eine ganz spezielle Form des zielgruppenspezifischen Marketings, bei dem Produkte auf Bestellung produziert werden und so extrem genau auf noch so kleine Zielgruppen zugeschnitten werden können. T-Shirts mit Aufdrucken wie „Industriekaufmänner aus Sulzburg mit blonden Haaren sind die besten“ oder Harley-Fahrer aus Görlitz mit blauen Augen haben am meisten Spaß“ sind dafür nicht ansatzweise die schlimmsten Beispiele.
Das Buch „Reise durch Ruinen – Reportagen aus Deutschland und Österreich 1945“ von C.H. Beck textura fühlt sich so an – es ist fast unverschämt, wie genau es auf meine Interessen passt. George Orwell? Ich bin ein großer Fan. Und historische Reportagen? Die sammel ich sogar in meinem Wiki. Zweiter Weltkrieg und Nachkriegszeit? War Schwerpunkt meines Geschichtsstudiums. Eine Sammlung von Reportagen von George Orwell aus seiner Tätigkeit als Kriegsreporter zum Kriegsende? Das musste ich direkt kaufen.
Die wirklich bemerkenswerteste Leerstelle des gesamten Bandes ist das völlige Fehlen des Holocausts. Orwell schreibt (erstaunlich abfällig) über die Displaced Persons, aber die systematische und industrielle Ermordung der Juden spielt in seiner Analyse Deutschlands und der Weltlage keine Rolle. Das ist umso bemerkenswerter als dass die Verbrechen der Nazi-Konzentrationslager gerade mit ihrer Befreiung natürlich die Welt beschäftigt haben. Es ist kaum davon auszugehen, dass George Orwell etwa die Befreiung von Bergen-Belsen durch die britische Armee Mitte April, aber auch etwa die zahlreichen Endphaseverbrechen nicht kannte. In seinen Berichten tauchen diese nur selten auf.
George Orwell ist also nicht der schärfste Beobachter der Lage in Deutschland. Seine Berichte sind auch immer genau den einen Tacken zu kurz – gerade, wenn es irgendwie interessant wird, sind sie auch schon vorbei. Immer, wenn er etwas in die Tiefe gehen könnte, ist er auf die Länge eines Zeitungsartikels begrenzt. Das ist schade.
Hier gibt es scharfsinnigere Beobachter der Lage. Saul Padovers großartiges „Lügendetektor“ ist hier sicherlich die interessantere Lektüre, wenn man den Blick von außen auf das zusammengebrochene Nazideutschland lesen will. 
Da die Reportagen nur 52 schmale Seiten füllen, hat der Verlag auch noch zwei interessantere Essays hinzugefügt: Einmal eine Rezension von „Mein Kampf“ aus dem Jahr 1940 und einmal eine Analyse der Weltlage 1945. Das Nachwort kann man sich sparen, es gehört zur unangenehmeren Textgattung, welche nur die vorhergehenden Reportagen (die man gerade ja gelesen hat!) nacherzählt ohne wirklich bedeutsames zur Einordnung in Orwells Biographie zu sagen. Es wäre schon spannend gewesen zu untersuchen, ob und wie seine Erlebnisse im Nachkriegsdeutschland dann einen Niederschlag in Animal Farm oder 1984 gefunden haben oder ob Orwell sich jenseits seiner Reportagen dazu geäußert hat.
Es ist wohl kaum davon auszugehen, dass Orwells Kriegsreportagen erneut aufgelegt worden wären, wenn er nicht später Animal Farm und 1984 geschrieben hätte. Es fühlt sich leider etwas nach Resteverwertung an, um jetzt nachdem seine Werke gemeinfrei geworden sind, schnell noch ein Buch zu füllen.
Gemeinfrei ist natürlich auch ein Stichwort: Die Werke Orwells sind seit Beginn des Jahres für alle ohne urheberrechtliche Einschränkungen zu nutzen. Die entsprechenden Reportagen finden sich daher auch einfach so im englischen Original im Internet. Hier die Rezension zu „Mein Kampf“, den Rest der Artikel kann man sich eher sparen.

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