Mir ist in der letzten Zeit etwas aufgefallen: Im Umgang mit irrationalen Akteuren denken viele Menschen immer noch, dass man diese irrationalen Akteure nicht provozieren dürfe oder dass man ihnen keine „Munition“ für ihre Propaganda geben dürfe.
Nehmen wir die Querdenker: Da waren viele Leute der Meinung, dass man nicht zu laut über eine Impfpflicht oder auch nur die Nebenwirkungen der Impfung reden dürfe, weil dies ja „Wasser auf die Mühlen“ der Querdenker sei. Bloß nichts zu laut sagen, damit diese dann hoffentlich nichts mitbekommen und dann kein großes Geschrei veranstalten. Gleichzeitig liefen die Querdenker lautstark durch die Straßen und schrien, dass es eine weltumspannende Verschwörung gebe, die alle Menschen durch die Impfung entweder umbringen oder mit Mikrochips kontrollieren wolle und dass im September 2021 alle Geimpften sterben würden und dass unsere Regierung uns alle in eine Diktatur bringen will.
Ähnliches mit Russland: Da wird gerade gerne getan, dass man ja Russland nicht durch irgendwas provozieren dürfe, weil Putin sonst eine ganz schlimme Gegenreaktion machen würde. Gleichzeitig zieht dieser Putin eine Schneise der Verwüstung durch die Ukraine. Seine Truppen morden, vergewaltigen, beschießen Theater, Schulen, Einkaufszentren, begehen Kriegsverbrechen und seine Propaganda lügt wie gedruckt. Er ist ein Meister darin, sich irgendwelche Provokationen auszudenken – wie schon alleine der offizielle Kriegsgrund zeigt, dass die Ukraine ein faschistischer Staat sei, der jetzt von der russischen Armee zu entnazifizieren sei. Die russischen Medien haben auch ein starkes Propaganda-Game und finden immer etwas. Dabei reißen sie auch gerne irrelevante Kleinigkeiten aus dem Kontext und bauen daraus einen riesigen Skandal. Oder sie verbreiten einfach ganz dreist offensichtliche Lügen.
Die QAnons sind ähnlich – wer ernsthaft glaubt und verbreitet, dass Hillary Clinton im Hinterzimmer einer Pizzeria in Washington Kinder sexuell missbraucht, der hat sich einfach aus der Realität verabschiedet.
Im Kleineren gibt es diesen Mechanismus auch in privaten Beziehungen, am Arbeitsplatz oder in der Schule. Es ist falsch zu denken, dass etwa jemand, der von seinem Partner geschlagen und missbraucht wird, daran eine Mitschuld habe. Dabei sind die Mechanismen andere: Das Opfer ist hier nicht der auslösende Faktor, sondern die Gewalt kommt tief aus dem missbrauchenden Partner und es geht um Macht, Kontrolle und Unterdrückung.
Auch beim Mobbing geht es nicht um den Inhalt der jeweiligen Mobbingaktivität – deswegen sind auch z.B. Kampagnen, die Schülern vermitteln sollen, dass Markenklamotten nicht wichtig sind oder Forderungen nach Schuluniformen, weil die Schüler sich dann nicht mehr über die Klamotten mobben können, wenig zielführend. Schlechte Menschen finden immer einen Anlass – oder denken sich einfach etwas aus. Das Gerücht trifft auch den saubersten Saubermann.
Einen ähnlichen Gedankengang findet man in der Literatur und in den Erinnerungen etwa zum stalinistischen Terror: Diese extreme Verwunderung der Opfer, dass sie jetzt in den Fokus der Repression geraten sind, obwohl sie ja nichts getan haben. Dieses blanke Unbegreifen bei der Konfrontation mit einem wahllosen Terror, der mit festen, zentral festgelegten Verhaftungs- und Erschießungsquoten gearbeitet hat. Und gleichzeitig dieses nagende Gefühl, dass ja irgendetwas dran sein müsse und dass die Nachbarn ja irgendwas angestellt haben müssen, weil sie sonst ja nicht verhaftet worden wären.
Was bedeutet das jetzt? So merkwürdig es klingt: Freiheit. Wenn die gehässigen Hexen aus der Parallelklasse sich so oder so die irrsinnigsten Gerüchte ausdenken, dann kann man sich auch die Haare blau färben und muss sein Taschengeld nicht für die neusten Markenklamotten sparen. Die lästern eh, egal, was man tut. Wenn die russische Propaganda aus harmlosen Nichtigkeiten einen Skandal macht, dann muss man in seinem Handeln keine Rücksicht auf sie nehmen. Wenn die Querdenker eh glauben, dass die Regierung alle Leute mit einer Impfung umbringen will, dann können wir als Restgesellschaft auch eine ehrliche und offene Diskussion über Impfungen & Gesundheit führen ohne auch nur ansatzweise Rücksicht auf diese verwirrten Gestalten mit dem Aluhut nehmen zu müssen. An irrationale Akteure kann man nicht mit normalen Maßstäben herangehen, denn ihr Verhalten entspringt nicht dem normalen Aktion -> Reaktion-Muster, das uns so vertraut ist. Es ist wichtig, dass wir dies endlich wahrnehmen.
Leider wird zu häufig noch den Opfern die Schuld oder wenigstens eine Mitschuld zugesprochen – die getragenen Klamotten hätten ja den Vergewaltiger so erregt, dass er sich einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Man hätte sich nicht öffentlich zu Thema XYZ äußern sollen, da ist ja klar, dass man Morddrohungen von Rechtsextremisten bekommt. Der gemobbte Schüler soll dann das Gespräch mit den Mobbern suchen. Faktenchecks sollen „Fake News“ debunken. Der wahllos bei einer harmlosen Verkehrskontrolle erschossene Schwarze in den USA hatte ja vor 10 Jahren mal eine Verurteilung wegen Kriminalität. Dann steht mal wieder ein Amokläufer in einer Grundschule in den USA und erschießt haufenweise Kinder und spätestens dann zeigt sich die Leere dieses Gedankens: Die Opfer können nichts für die Tat. Der Täter befindet sich in einer Welt des Wahnsinns, die für Außenstehende nicht zu begreifen ist. Aber genau deshalb darf man sich auf diese Spiele im Wahnsinn nicht einlassen – der konkrete Anlass der Tat ist egal, der ist purer Vorwand. Nur den Vorwand zu vermeiden, bringt daher nichts.