Vögel, Rüsseltiere und sterbende Netzwerke

Irgendwann in den 2010ern starben die Webforen reihenweise. Leise, ohne großen Knall, aber stetig siechten sie vor sich hin. Die Nutzer wanderten ab, meistens in die damals neuen Sozialen Netzwerke oder auch einfach in das „Real Life“. Die junge Generation, die ab den frühen 2000ern die Webforen bevölkert hatte, bekam Kinder, machte Karriere, heiratete und so im Chaos des Lebens blieb dann zunehmend der Blick ins Lieblingsforum aus.

Ein sterbendes Webforum fühlt sich ganz merkwürdig an. Es stirbt selten mit einem Servercrash, sondern nach und nach sinkt die Aktivität. Wo noch vor ein paar Monaten jeden Tag mehrere neue Threads pro Unterforum gepostet wurden, sind es dann auf einmal nur noch mehrere neue Threads im gesamten Forum. Und jeder Thread sammelt immer weniger Beiträge. Die Zahl der Beitragenden geht zurück, es schläft alles ganz langsam ein.

Es kommt auch kein neues Blut mehr hinzu. Die Alteingesessenen, die Veteranen und die täglichen Nutzer kommen noch, aber die letzte Neu-Userregistrierung ist schon eine Weile her gewesen. Dass wirklich ein neuer User eingestiegen ist und geblieben ist, das ist dann noch länger her. Die Veteranen köcheln im eigenen Saft und werden nach und nach immer weniger. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man selbst das Forum verlässt und ich habe es meistens selbst gar nicht gemerkt. Das Leben hat einen in Anspruch genommen. Es war troubelig. Andere Webseiten waren doch spannender. Der letzte Post war kein bewusster, sondern man hat es einfach vergessen. Was früher tägliche Routine war, verschwindet. Selten ist der letzte Post in einem Forum wirklich ein bewusster Abschiedspost gewesen.

In den 2010ern starben auch die Blogs. Die großen Hoffnungsträger des Medienwandels wurden zerrieben zwischen den Sozialen Netzwerken, welche damals ähnliche Veröffentlichungsmöglichkeiten boten, einer (leider immer noch) verfehlten Digitalgesetzgebung und ökonomischen Zwängen. Die besten Blogger wurden irgendwann Journalisten, einige Blogs zu kleinen Medienunternehmen mit entsprechender Verwertung und andere Blogs wurden nach und nach aufgegeben. Blogs können auf 4 Weisen enden_

  1. Der Blogautor veröffentlicht eine große Ankündigung, dass er definitiv plant, in der nächsten Zeit wieder mehr zu schreiben
  2. Er schreibt einen kurzen oder langen Abschiedspost
  3. Das Blog verschwindet einfach irgendwann im Nirwana. Sei es, dass das WordPress kaputt ist, sei es, dass die Serverrechnung dann doch zu teuer war oder ein digitaler Frühjahrsputz. Es ist irgendwann einfach weg. Einige meiner Lieblingsblogger sind einfach vom Erdboden verschwunden und nicht mehr auffindbar.
  4. Der letzte Post ist einfach irgendwas, bereits Monate alt und es kommt einfach kein neuer. Der Blogger hat das Interesse verloren und macht jetzt was anderes. Manchmal findet man ihn dann in den Netzwerken wieder

Auch hier trat das Phänomen auf, das wir schon bei den Foren beobachtet haben. Die Zahl der Blogger wurde kleiner. Die Blogosphäre hat kluge und interessante Köpfe verloren, nach und nach. Und es gab keinen Nachwuchs mehr. Es wurden mehr Blogs aufgegeben als neu gestartet wurden. Die alten Blogger (wie ich höchstwahrscheinlich auch einer bin) halten noch durch, aber auch ich habe früher mehr und intensiver gebloggt.

Ähnliches konnte man damals beobachten, als StudiVZ den Bach runterging. Wo es vorher eine rege Aktivität gab, die Leute fleißig gegruschelt haben, sich in Gruppen mit witzigen Namen zusammengetan haben und Beiträge veröffentlicht haben, wurde es zunehmend weniger. Die User gingen alle nach und nach zu Facebook.

Und auch wenn Facebook immer noch eins der erfolgreichsten Sozialen Netzwerke der Welt ist. In meiner Bubble ist es mausetot. Keiner postet mehr Beiträge oder Statusupdates. Die Accounts sind noch da, aber verwaist. Leere Hüllen, deren letztes Lebenszeichen dann vielleicht der Hinweis auf einen Artikel in 2014, ein Urlaubsfoto 2015 oder ein geteilter Beitrag einer Seite oder irgendeine Petition 2016 war. Danach… Stille.

Warum schreibe ich wie ein alter Mann vom Krieg? Wenn es um sterbende Soziale Netzwerke geht, dann kann es gerade eigentlich in Wirklichkeit nur um Twitter gehen. Seit der Übernahme durch Elon Musk steht man da als langjähriger Nutzer da und kann sich nur sprachlos anschauen, wie und was da im Rekordtempo zerschlagen wird.

Die traurige Wahrheit ist aber, dass Twitter schon seit einer ganzen Weile den Eindruck eines sterbenden Netzwerks gemacht hat. Die obige Erzählung von vergangenen Toden soll nur belegen, dass ich weiß, wie sich das anfühlt. Die Leere hat sich schon lange ins Netzwerk gefressen. Followerzahlen stagnierten schon eine Weile, was bedeutet, dass kaum noch neue Nutzer dazu kamen. Was jetzt auch kein Wunder ist. Der Ruf von Twitter als wild kreischende Horde von Halbwahnsinnigen war hart erarbeitet und die vielen klugen Köpfe schwer zu finden. Man konnte sogar wunderbar beobachten, wie die Twitter-Features viele eigentlich kluge Köpfe dazu brachten, sich selbst weniger klug zu verhalten. Manchmal steuert die Maschine auch den Menschen. Der nüchterne Blick in die Userzahlen und Geschäftsberichte zeigt auf jeden Fall, dass Twitter wenig neue Nutzer gewinnen konnte. Es gibt keine ernsthafte Statistik zum Deutschen Raum, aber hier dürfte es noch schlechter aussehen als international.

Auftritt Musk. Der reichste Mensch der Welt, wenn man die „geheimen“ Ranglistenersten von Vladimir Putin bis hin zum saudischen König Salman ibn Abd al-Aziz ignoriert, die durch ihre Privatisierung ganzer Staaten noch reicher sind als sich wir alle auch nur vorstellen können. Also Musk. Musk, der zwar mit PayPal, Tesla und SpaceX erfolgreiche Firmen aufgebaut hat, aber als Charakter … sprunghaft ist. Auf jeden Fall schafft Musk es jetzt, das gesamte Twitter als Firma und Community in ein heilloses Chaos zu stürzen. Wenn es nicht so viele Kollateralschäden verursachen würde, wäre es höchst unterhaltsam. Er feuert die Hälfte der Belegschaft, muss dann aber nachher verzweifelt Leute bitten, wieder zurückzukommen. Er liefert sich diverse Fehden auf seiner nun eigenen Plattform mit Prominenten, bei denen man als Außenstehender nur kopfschüttelnd daneben steht. Natürlich macht es wenig Sinn, einem der bekanntesten Schriftsteller der Welt, welcher kostenlos Inhalte für die eigene Plattform schreibt, vorzuverwerfen, dass er nicht 8 Euro pro Monat für die Subscription zahlt. Und auch das völlig absehbare Desaster mit den verifizierten Accounts lässt mich als langjährigen User einfach nur verwirrt zurück. Klar, die Verifizierung war seit Jahren eher kaputt. Aber Verifizierung ist auch ein echt hartes Problem, das Griftern und Betrügern so viel Potenzial bietet, dass es als Problem einfach unlösbar ist. Außer man scheißt auf alles und schafft innerhalb von 2 Wochen ein gigantisches Chaos – wie Musk.

Es ist vor allem erstaunlich, dass der reichste Mensch der Welt jetzt einen banalen blauen Verifizierungshaken zum Hügel erkürt, auf dem er sterben will. Von all den Problemen, die Twitter hatte. Die Verifizierung war es nicht.

Für mich als langjährigen Twitteruser (seit 2009! Es gibt Menschen, die sind in dem Jahr geboren und die laufen jetzt rum und man kann richtige Gespräche mit ihnen führen so wie mit echten Menschen und die können lesen und schreiben und all das!) ist diese Entwicklung natürlich traurig. Twitter war lange Zeit meine digitale Heimat. Projekte wie 9nov38 und DigitalPast waren nicht nur auf und dank Twitter höchst erfolgreich. Ich habe viele Freunde gewonnen, die ich ohne Twitter nicht hätte. Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten. Daher fällt auch ein Abschied schwer und es ist schwer zu sehen, wie das eigene digitale Wohnzimmer vom reichsten Menschen der Welt übernommen und in Rekordzeit ruiniert wird. Vielleicht schafft Twitter es, aber ich fürchte, dass es jetzt das Ende wird. Musk hat sicher das Kapital, um das Netzwerk am Laufen zu halten. Aber das hat Murdoch auch für MySpace und auch Digg gibt es noch, wenn auch nur noch als leere Hülle früherer Großartigkeit. Ich bin alt, ich kann in Internetsachen mittlerweile den Zeitzeugen raushängen lassen und sagen, dass ich dabei war und daher weiß, wovon ich rede. Ich hatte sogar einen Redditaccount bevor sich Digg selbst zerstört hat und ich hatte einen MySpace-Account bevor dort alles implodierte. Irgendwo gibt es sogar noch ein Tumblrblog von mir aus der Zeit, bevor dort alles implodierte.

Auftritt Mastodon. Ein kleines, eher anarchisches, dezentrales Netzwerk, bevölkert von den Galliern des Internets und motiviert vom alten Hackerethos und dem Geist der Unkommerzialität. Ein Netzwerk, das es schon seit Jahren gab, das einen sehr moderaten Erfolg, aber einen Erfolg hatte und wo sich einige Nischencommunities versammelt hatten. Ein Netzwerk, das jetzt plötzlich im Rampenlicht steht und das plötzlich als die Twitteralternative gilt.

Ich hatte mir im April auf Anregung von Sebastian einen Account eingerichtet als die ersten Muskübernahmegespräche begannen und war seitdem begeistert. Es gab eine kleine, aber rege und kommunikative Community, die definitiv das Herz am richtigen Fleck hatte. Hacker. CCC Leute. Die Digitale Avantgarde. Kluge Menschen, neue Menschen und auch von Twitter altbekannte Gesichter. Es war ein Netzwerk, das auf den ersten Blick vieles richtig machte und einfach viele Features mitbrachte, die auf Twitter definitiv fehlen.

Und es ist auch ein Netzwerk, das durch seine bewusste Andersartigkeit aufgezeigt hat, wie sehr einen die Twitter Algos steuern. Bittere Erkenntnis, aber am Ende ist man nur ein fehlbarer Mensch im tosenden Meer dieser Welt und die Technik schleudert einen als brausende Welle umher. Es war faszinierend, wieder zu … lernen wie wunderbar Microblogging ohne Quotetweets funktioniert. Es war wunderbar, ein Netzwerk zu erleben, das wirklich kuschelig war. Ohne große Flamewars. Ohne schlimme Konfrontationen. Ohne dieses nagende Gefühl dem anderen rhetorisch eins draufzugeben müssen. Einfach, weil dieses Netzwerk fast idiotenfrei war und weil es nicht als algorithmischer Supercollider aufgesetzt ist. Es werden einem keine blödsinnigen Tweets aus der Welt.de-Redaktion in die Timeline empfohlen, weil die Welt.de-Redaktion zum einen nicht auf dem Netzwerk ist und zum anderen, weil es diese auf Hyperengagement optimierten und damit ragebaitigen Empfehlungen nicht gibt. Es hat wirklich Spaß gemacht.

Der Leser fragt sich jetzt sicherlich, warum ich in der Vergangenheitsform schreibe. Mastodon verändert sich gerade rapide. Es gibt einen enormen Nutzeranstieg, die Leute flüchten von Twitter. Die letzten Wochen waren wild, wirklich jeden Tag sind mehrere Bekannte aus meiner Twittertimeline dann auf Mastodon aufgeschlagen. Mittlerweile fehlen eigentlich nur noch drei User und dann hätte ich das Twitter-Panini-Album auch auf Mastodon komplett. Die Server crashten aufgrund der vielen neuen Nutzer. Die Community ist in einem rapiden Wachstums- und Transformationsprozess, der nicht jedem gefällt. Und es gibt die Sorge, ob das alles wirklich skaliert oder ob dann mit weiteren Millionen Nutzern alles in Flammen aufgeht. Was passiert, wenn auch die unangenehmen Internetnutzer auftauchen und die ganzen blöden Firmen und die Schwafelköpfe und die Selbstdarsteller und die Trolle und die Nazis und alle anderen. Man darf gespannt sein.

In der Zwischenzeit macht es trotz allem einfach Spaß. Wer will, darf sich hier mit mir vernetzen. Die Reklame habe ich bereits im April mit einem Account versehen. Die anderen Twitterprojekte lasse ich vorerst automatisiert auf Twitter. Planet History postet automatisch weiter, aber ehrlich gesagt fehlt mir gerade die Begeisterung für geisteswissenschaftliche Blogs (wer mich unterstützen will, darf sich gerne melden). Pastvertising wäre sicherlich noch ein Kandidat und Geschichtslinks war auch auf Twitter eher wenig erfolgreich. Das läuft so lange es noch läuft.

Was ist jetzt das Fazit? Verwirrung. Aber irgendwie auch das Gefühl, dass aus der Asche von Twitter ein goldener Phönix aufsteigen kann. Es wäre nicht schlecht, wenn er dezentral, mit Hackerethos und leicht anarchisch wäre. Mastodon ist in diesen Wochen definitiv das spannendste Social Network und es macht Laune dabei zu sein.

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