
Der C.H. Beck-Verlag hat in seiner textura-Reihe ein nettes, schmales Bändchen mit Reportagen veröffentlicht, welche der schwarze US-Bürgerrechtler W.E.B. du Bois 1936 von seiner langen Reise durch Nazi-Deutschland veröffentlicht hat. Und das ist natürlich genau mein Ding.
Du Bois reiste 1936 länger durch Europa, verbrachte fünf Monate in Deutschland und berichtete für den Pittsburgh Courier. Er besucht die Olympischen Spiele, die Wagner-Festspiele in Bayreuth, unterhält sich ausführlich mit deutschen Intellektuellen, bereist Preußen, die Hansestädte, Sachsen, Thüringen, Westfalen, Württemberg, Bayern, Berlin, Lübeck, Hamburg, Bremen, Frankfurt, Köln, Mainz, Stuttgart, Breslau und München. Er hat dabei einen scharfen Beobachtungssinn, der vor allem durch seine Erfahrungen entlang der „color-line“, der US-amerikanischen Rassentrennung, geschult ist. Es ist also durchaus spannend, was er zu berichten hat.
Gleichzeitig ist es ein irgendwie ärgerlicher Band. Du Bois fasst sich häufig sehr kurz, was sicherlich auch dem begrenzten Platz seiner Kolumne in der Zeitung geschuldet ist. Aber man würde gerne mehr erfahren. Ein paar Seiten zu Olympia 1936 sind zu wenig. Die Beobachtung des Nazi-Antisemitismus durch einen amerikanischen Schwarzen ist hoch spannend – und fällt dann doch kürzer aus als ein Bericht über das Ausbildungswesen bei Siemens. Genau wie in George Orwells Reportagen aus dem Nachkriegsdeutschland hört es häufig genau dann auf, wenn es spannend wird. Man würde gerne mehr erfahren, mehr lesen, mehr Details erfahren.
Das große Problem ist aber ein anderes, das Du Bois selbst in einem anderen Zusammenhang wunderbar beschreibt:
„Menschen, die heutzutage über chemische oder physikalische Dinge schreiben, können dies nicht so tun, wie es noch vor fünfundzwanzig Jahren üblich gewesen wäre, ganz einfach, weil neue wissenschaftliche Experimente die Grundlagen ihres Wissens verändert haben und sie ihr Wissen entsprechend anpassen. […] Doch bei Fragen der Geschichte und der sozialen Entwicklung nimmt man an, dass es dort keinen wissenschaftlichen Fortschritt gibt und dass wir die Wahrheit vor fünfundzwanzig Jahren genauso gut kannten wie heute. Das stimmt natürlich nicht.“
Er reist im Jahr 1936 durch Nazideutschland und versucht dann mit dem, was er in Nazideutschland über Nazideutschland erfahren hat, Nazideutschland zu erklären. Das konnte er damals natürlich nicht anders machen, aber 77 Jahre nach dessen Ende sind wir deutlich klüger. Die moderne Geschichtswissenschaft hat in dieser Zeit mehr über die Entstehung des Nazi-Antisemitismus herausgefunden als W.E.B. du Bois damals als Reisender vor Ort erfahren konnte.
Es ist allerdings arg verwunderlich, dass der C.H. Beck-Verlag etwa Passagen zum angeblichen Duckmäusertum „der Juden“ während des Ersten Weltkrieges auch im Nachwort nicht passend einordnet. Die entsprechende völkische Propaganda wurde zwar bereits während der Weimarer Republik widerlegt, aber es ist durchaus verständlich, dass W.E.B. du Bois dies im Jahr 1936 nicht unbedingt in seinen Gesprächen in Nazideutschland erfährt. Dies zeigt auch wunderbar die Gefahren des Expertentums per Bereisung – die Bereisten können natürlich auch Unfug erzählen. Es wäre gut, wenn der Verlag das nicht einfach so stehen ließe.
Gleichzeitig zeigt aber die oben zitierte Passage, dass in diesem Bändchen einige interessante Entdeckungen stecken: So würde es auch der aktuellen Geschichtswissenschaft guttun, wenn sie selbstbewusst auf den hart erarbeiteten wissenschaftlichen Fortschritt und neu erworbene Erkenntnisse pocht und freundlich darauf verweist, dass das Schulwissen von vor 40 Jahren nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung entspricht. In so manch einer zeitgeschichtlichen Debatte reden die Menschen nämlich fleißig aneinander vorbei, weil sie den aktuellen Stand der Geschichtswissenschaft nicht kennen – oder kennen wollen. Keiner kann mit dem Wissen aus dem Biologie-Grundkurs der 10. Klasse aus dem Jahr 1972 ernsthaft über Biologie diskutieren, einfach, weil es da so kleine wissenschaftliche Fortschritte wie die gesamte Gentechnik gegeben hat. Und genauso kann keiner mit dem Wissen aus dem Geschichts-Grundkurs der 10. Klasse aus dem Jahr 1972 ernsthaft über Geschichte diskutieren. Das darf man auch mal offensiv einfordern.
Ein weiteres Element hat mir in der Zusammenstellung der Beiträge gefehlt: W.E.B. du Bois Perspektive während und nach dem Krieg. Es wäre spannend zu erfahren, wie er seine Reise und Erfahrungen im Nachhinein reflektiert. Ob und wie er sich zum Holocaust geäußert hat. Was er während oder nach dem Krieg zum NS gesagt hat. Das Nachwort erwähnt autobiografische Aufzeichnungen, aber schweigt sich sonst eher aus. Dem doch eher schmalen Band hätte hier ein weiteres Kapitel aus genau diesen Aufzeichnungen sehr gutgetan.
Was bleibt? Ich fand W.E.B. du Bois Reiseberichte interessant zu lesen. Die Zielgruppe dürfte aber schmal sein: Menschen, die Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und der Schwarzen in den USA haben, welche aber genügend Background-Wissen haben, um sich nicht zeitgenössische Falschheiten als Fakten ins Gehirn zu speichern.