Wie viele SS-Männer leben noch?

Irgendwann demnächst kommt der Tag, an dem der letzte SS-Scherge das zeitliche segnet und keiner wird es mitbekommen. Aber wie viele leben eigentlich aktuell noch? Eine amtliche Statistik wird darüber nicht geführt und daher können wir nur überschlagen und etwas rechnen.

„ Im Juni 1944 zählte die SS 794.941 Mitglieder. Davon gehörten 264.379 zur Allgemeinen SS. Vor dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg machte Robert Brill, ehemaliger Leiter des „Ergänzungsamtes der Waffen-SS“, am 5. und 6. August 1946 Angaben zur Personalentwicklung der Waffen-SS:Bei Kriegsende war die Waffen-SS noch ca. 550.000 Mann stark; bis Ende Oktober 1944 waren ca. 320.000 Mann gefallen oder schwerstverletzt. […] In der Waffen-SS dienten etwa 400.000 Reichsdeutsche, 300.000 Volksdeutsche und 200.000 Angehörige anderer Völker. […] Im Jahr 1944 wurde die Masse der noch Kriegsverwendungsfähigen aus den Wachmannschaften der Konzentrationslager herausgezogen und für den Wehrdienst freigemacht. Bis dahin wurden die Wachmannschaften aus Notdienstverpflichteten der Allgemeinen SS und des ehemaligen Frontkämpferbundes ‚Kyffhäuser‘ gestellt. 1944 kam noch ein starkes Kontingent aus der Wehrmacht. Es handelte sich meines Wissens zunächst um 10.000 Mann. Später mehr. […] Meines Wissens setzten sich die Wachverbände in den KZs im Jahre 1944 aus 6.000 Notdienstverpflichteten, 7.000 Volksdeutschen, 7.000 Heeresangehörigen und einer Anzahl von Luftwaffenangehörigen zusammen. […]“

– Documents of the Major War Criminals. Vol. XX, S. 371–471

https://de.wikipedia.org/wiki/Schutzstaffel#Organisationsentwicklung

Das setzt uns schonmal eine Obergrenze. Irgendwo zwischen den 550.000 Mitgliedern der Waffen-SS bei Kriegsende und den knapp 800.000 Mitgliedern allgemein Mitte 1944. Die SS hatte aber natürlich gerade gegen Kriegsende enorm hohe Verluste zu verzeichnen und seit Kriegsende sind jetzt auch schon fast 78 Jahre vergangen.

Das führt uns auf eine weitere Spur: Da das Eintrittsalter bei 18 Jahren lag und die Mitgliedschaft auf Männer begrenzt waren, können eigentlich rein formal nur Männer, die im Geburtsjahrgang 1927 bis zum 8. Mai geboren wurden, Mitglied gewesen sein. Ausnahmen, gerade gegen Kriegsende, sind bekannt, betreffen dann aber eher die 17-Jährigen als die 16-Jährigen. Daher macht es teilweise Sinn den gesamten Geburtsjahrgang 1927 zu betrachten. Aber der Geburtsjahrgang 1927 wird 2023 auch schon 96 Jahre alt. Selbst die jüngsten SS-Mitglieder müssten jetzt deutlich, deutlich über der durchschnittlichen Lebenserwartung für Männer liegen.

Wenn wir jetzt ganz unwissenschaftlich und naiv davon ausgehen, dass fast alle ehemaligen SS-Mitglieder in Deutschland wohnen und dabei natürlich ganz Österreich und die ausländischen SS-Hilfstruppen sowie alle SS-Schergen, die sich nach 1945 in Richtung Südamerika abgesetzt haben, ignorieren, dann können wir uns einer weiteren Maximalzahl annähern: Die offizielle Statistik des Statistischen Bundesamtes weist in der „Bevölkerungsfortschreibung auf Grundlage des Zensus 2011“ zum Stichtag 31.12.2021 in Tabelle 2.1 folgendes aus:


https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Bevoelkerungsstand/_inhalt.html

In Summe macht dies 57.027 in Deutschland lebende Männer, bei denen die Möglichkeit bestand, dass sie in der SS waren. Das setzt übrigens auch die Obergrenze für ehemalige Wehrmachtssoldaten.

Nun wird es haarig und kaum noch zu bestimmen: Natürlich waren nicht alle Männer dieser Jahrgänge SS-Mitglieder. Von den 57.027 wird der Großteil in der Wehrmacht gekämpft haben. Die 1927 Geborenen machen 34,6 % aus, von denen ein Großteil bei Kriegsende also noch minderjährig war. Durch die Migration nach Deutschland leben hier auch Menschen, die während des Kriegs im Zweifelsfall in der Türkei, der Sowjetunion oder anderen Ländern gewohnt haben und damit eher „SS-unverdächtig“ sind.

Das 18-jährige, fanatisierte Kanonenfutter der Waffen-SS ist jetzt auch nicht der „klassische SS-Mann“. Die damalige Führungsmannschaft dürfte mittlerweile nur noch in homöopathischen Anteilen vorhanden sein: Die Nazis waren zwar alle erstaunlich jung (Adolf Hitler etwa war bei Machtübernahme 1933 erst 43 Jahre alt), aber selbst wer bei Kriegsende 25 Jahre alt war, wäre jetzt 102 Jahre alt.

Es ist seriös nicht weiter zu ergründen, wie groß der Anteil der überlebenden SS-Männer an diesen 57.027 Männern ist. Weiterhin kann man davon ausgehen, dass diverse der über 96-Jährigen in den 12 Monaten seit Ende 2021 verstorben sind. Die Tabelle zeigt deutlich, dass in dieser Altersgruppe jährlich 30-40 % versterben – und gerade gibt es ja zusätzlich noch diese Seuche.

(Die amtliche Statistik bietet übrigens auch einen Einblick in die Zahl der noch in Deutschland lebenden NS-Zeitzeugen. Ende 2021 lebten demnach 8.151.017 Menschen der Geburtsjahrgänge 1944 und früher in Deutschland. Bei Kleinkindern greift natürlich die kindliche Amnesie – man kann jetzt lange diskutieren, ab welchem Alter man seine Umgebung so begreifen kann, dass man als Zeitzeuge wirklich etwas zu berichten hat, aber von den Jahrgängen 1935 und früher waren Ende 2021 immerhin noch 2.124.811 Menschen am Leben.)

Einen anderen Anhaltspunkt bietet uns einer dieser typisch bundesdeutschen Skandale im Umgang mit NS-Verbrechern. Denn wer in der SS mordete, der erwarb Rentenansprüche. Und aufgrund eines Erlasses von Adolf Hitler persönlich gilt dies auch für ausländische Mitglieder der SS. Da die Bundesrepublik unfähig war und ist, Rentenzahlungen für die Mitgliedschaft in der vielleicht verbrecherischsten Vereinigung der Geschichte einzustellen, wird dies in unregelmäßigen Abständen in ausländischen Parlamenten thematisiert. Die letzten Zahlen dazu finde ich 2019 aus Belgien mit 18 Empfängern und den Niederlanden mit 3 Empfängern. Das ist immer noch ein Skandal, aber die Zahlen zeigen deutlich, wie wenig SS-Schergen dort noch am Leben sind. Neuere Zahlen finde ich nicht, es könnte also sein, dass die Bundesrepublik dieses Problem erfolgreich ausgesessen hat.

Es gibt sie aber noch: Die Justiz der Bundesrepublik ist hier viel zu spät aufgewacht – aber aktuell gibt es immerhin ein paar Prozesse gegen hochbetagte NS-Täter und in einem dieser tauchte Mitte 2022 ein 101-jähriges ehemaliges SS-Mitglied auf. Ganz vorbei ist der Spuk also noch nicht – lange wird er aber auch nicht mehr dauern.

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