W.E.B. du Bois – Along the color line

Der C.H. Beck-Verlag hat in seiner textura-Reihe ein nettes, schmales Bändchen mit Reportagen veröffentlicht, welche der schwarze US-Bürgerrechtler W.E.B. du Bois 1936 von seiner langen Reise durch Nazi-Deutschland veröffentlicht hat. Und das ist natürlich genau mein Ding.

Du Bois reiste 1936 länger durch Europa, verbrachte fünf Monate in Deutschland und berichtete für den Pittsburgh Courier. Er besucht die Olympischen Spiele, die Wagner-Festspiele in Bayreuth, unterhält sich ausführlich mit deutschen Intellektuellen, bereist Preußen, die Hansestädte, Sachsen, Thüringen, Westfalen, Württemberg, Bayern, Berlin, Lübeck, Hamburg, Bremen, Frankfurt, Köln, Mainz, Stuttgart, Breslau und München. Er hat dabei einen scharfen Beobachtungssinn, der vor allem durch seine Erfahrungen entlang der „color-line“, der US-amerikanischen Rassentrennung, geschult ist. Es ist also durchaus spannend, was er zu berichten hat.

Gleichzeitig ist es ein irgendwie ärgerlicher Band. Du Bois fasst sich häufig sehr kurz, was sicherlich auch dem begrenzten Platz seiner Kolumne in der Zeitung geschuldet ist. Aber man würde gerne mehr erfahren. Ein paar Seiten zu Olympia 1936 sind zu wenig. Die Beobachtung des Nazi-Antisemitismus durch einen amerikanischen Schwarzen ist hoch spannend – und fällt dann doch kürzer aus als ein Bericht über das Ausbildungswesen bei Siemens. Genau wie in George Orwells Reportagen aus dem Nachkriegsdeutschland hört es häufig genau dann auf, wenn es spannend wird. Man würde gerne mehr erfahren, mehr lesen, mehr Details erfahren.

Das große Problem ist aber ein anderes, das Du Bois selbst in einem anderen Zusammenhang wunderbar beschreibt:

„Menschen, die heutzutage über chemische oder physikalische Dinge schreiben, können dies nicht so tun, wie es noch vor fünfundzwanzig Jahren üblich gewesen wäre, ganz einfach, weil neue wissenschaftliche Experimente die Grundlagen ihres Wissens verändert haben und sie ihr Wissen entsprechend anpassen. […] Doch bei Fragen der Geschichte und der sozialen Entwicklung nimmt man an, dass es dort keinen wissenschaftlichen Fortschritt gibt und dass wir die Wahrheit vor fünfundzwanzig Jahren genauso gut kannten wie heute. Das stimmt natürlich nicht.“

Er reist im Jahr 1936 durch Nazideutschland und versucht dann mit dem, was er in Nazideutschland über Nazideutschland erfahren hat, Nazideutschland zu erklären. Das konnte er damals natürlich nicht anders machen, aber 77 Jahre nach dessen Ende sind wir deutlich klüger. Die moderne Geschichtswissenschaft hat in dieser Zeit mehr über die Entstehung des Nazi-Antisemitismus herausgefunden als W.E.B. du Bois damals als Reisender vor Ort erfahren konnte.

Es ist allerdings arg verwunderlich, dass der C.H. Beck-Verlag etwa Passagen zum angeblichen Duckmäusertum „der Juden“ während des Ersten Weltkrieges auch im Nachwort nicht passend einordnet. Die entsprechende völkische Propaganda wurde zwar bereits während der Weimarer Republik widerlegt, aber es ist durchaus verständlich, dass W.E.B. du Bois dies im Jahr 1936 nicht unbedingt in seinen Gesprächen in Nazideutschland erfährt. Dies zeigt auch wunderbar die Gefahren des Expertentums per Bereisung – die Bereisten können natürlich auch Unfug erzählen. Es wäre gut, wenn der Verlag das nicht einfach so stehen ließe.

Gleichzeitig zeigt aber die oben zitierte Passage, dass in diesem Bändchen einige interessante Entdeckungen stecken: So würde es auch der aktuellen Geschichtswissenschaft guttun, wenn sie selbstbewusst auf den hart erarbeiteten wissenschaftlichen Fortschritt und neu erworbene Erkenntnisse pocht und freundlich darauf verweist, dass das Schulwissen von vor 40 Jahren nicht mehr dem aktuellen Stand der Forschung entspricht. In so manch einer zeitgeschichtlichen Debatte reden die Menschen nämlich fleißig aneinander vorbei, weil sie den aktuellen Stand der Geschichtswissenschaft nicht kennen – oder kennen wollen. Keiner kann mit dem Wissen aus dem Biologie-Grundkurs der 10. Klasse aus dem Jahr 1972 ernsthaft über Biologie diskutieren, einfach, weil es da so kleine wissenschaftliche Fortschritte wie die gesamte Gentechnik gegeben hat. Und genauso kann keiner mit dem Wissen aus dem Geschichts-Grundkurs der 10. Klasse aus dem Jahr 1972 ernsthaft über Geschichte diskutieren. Das darf man auch mal offensiv einfordern.

Ein weiteres Element hat mir in der Zusammenstellung der Beiträge gefehlt: W.E.B. du Bois Perspektive während und nach dem Krieg. Es wäre spannend zu erfahren, wie er seine Reise und Erfahrungen im Nachhinein reflektiert. Ob und wie er sich zum Holocaust geäußert hat. Was er während oder nach dem Krieg zum NS gesagt hat. Das Nachwort erwähnt autobiografische Aufzeichnungen, aber schweigt sich sonst eher aus. Dem doch eher schmalen Band hätte hier ein weiteres Kapitel aus genau diesen Aufzeichnungen sehr gutgetan.

Was bleibt? Ich fand W.E.B. du Bois Reiseberichte interessant zu lesen. Die Zielgruppe dürfte aber schmal sein: Menschen, die Interesse an der Geschichte des Nationalsozialismus und der Schwarzen in den USA haben, welche aber genügend Background-Wissen haben, um sich nicht zeitgenössische Falschheiten als Fakten ins Gehirn zu speichern.

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Alles muss man selber machen

Es begann als eigentlich simple Idee: Ich lese als alter Onlinesuchti viele Artikel und habe bereits seit Jahren Instapaper bzw. nun Pocket als ReadLater-Dienst im Einsatz. Es ist nämlich deutlich angenehmer, Artikel nicht sitzend am Schreibtisch, sondern gemütlich auf dem Sofa in angenehmem Layout zu lesen. Volle Empfehlung von meiner Seite dafür. Internetdienste zum Linksammeln und Später Lesen haben aber als Genre die unangenehme Eigenschaft, dass sie alle nach und nach richtig bescheiden werden. Entweder die Entwicklung stagniert komplett (siehe Pinboard) oder sie verschwinden komplett (siehe del.icio.us) oder sie machen sonstigen Unfug wie Instapaper zum Start der DSGVO, wo dann plötzlich alle europäischen Nutzer ausgesperrt wurden. Oder sie arbeiten mit monatlichen Abos mit erschreckend hoher Eurosumme. Zusätzlich haben Internetseiten auch die unangenehme Eigenschaft, dass sie entweder irgendwann offline gehen oder – fast noch schlimmer – hinter einer Paywall verschwinden. Was nützt das schönste Lesezeichen, wenn man dann zum Aufruf ein Jahresabo der Washington Post abschließen muss?

Daher hatte ich die eigentlich simple Idee: Ein Offline-Volltext-Archiv aller gelesenen und für gut befundenen Artikel erstellen. In einem möglichst simplen Format, das die Zeiten überdauert, plattformunabhängig ist und auf keine spezielle Software angewiesen ist: Markdown. Eine simple Auszeichnungssprache, die leichte Formatierungen enthält, aber lesbarer ist als reines HTML. Sie ist in ihrer Flexibilität sowohl im Plaintext problemlos lesbar, kann aber auch von zig verschiedenen Anwendungen dargestellt werden.

Das erwies sich dann als erstaunlich kompliziert: Pocket selbst bietet keinen Volltext-Download des Artikelarchivs an. Es gibt eine Premium-Version, die ein Volltextarchiv anbietet, aber fast 50€ pro Jahr kostet. Genau wie die durchschnittliche deutsche Kommune will ich aber nicht für mein Archiv bezahlen müssen.

Also habe ich mich auf die Suche nach einer passenden Software gemacht und war etwas überrascht, dass es zwar sehr viele Optionen gibt, aber dass alle haarscharf an meinen Requirements vorbei gingen:

  • Pocket bietet einen Export an, der allerdings nur alle Links in „read“ und „unread“ sortiert, weder die Favoriten enthält noch die Tags
  • Instapaper ist seit der Katastrophe bei der DSGVO-Einführung kein verlässlicher Partner mehr
  • Diverse Tools wie MarkDownload bieten einen Download von Webseiten als Markdown an, aber automatisieren dies nicht. Man muss also jede Webseite manuell speichern. Wäre theoretisch ok, integriert sich aber extrem schlecht in meinen Workflow, da es MarkDownload nicht für Android gibt
  • Eine passende App wäre Markdownr, aber diese erstellt von Haus aus katastrophale Dateinamen, was dann selbst mit einem Nextcloud/Dropboy/Syncthing-Sync von Desktop und Android dazu führen würde, dass man immer den Titel des Artikels auf der Handytastatur schreiben müsste. Also genau daneben
  • Nextcloud Booksmarks funktioniert auch gut. Es zieht sich den Volltext zu den gespeicherten Links und legt diese in der Nextcloud-SQL-Datenbank ab. Ist zwar kein Markdown-Plaintext, aber den Text kriegt man ja durchaus aus der Datenbank exportiert – aber ich habe keine App gefunden, die Mobile wirklich gut funktioniert
  • Obsidian hat eigentlich alles integriert – man kann mit dem Pocket-Plugin seine Leseliste syncen, auch nach Tags gefiltert und dann aus der Liste Artikel als Markdown erstellen. Leider liefer auch hier die Pocket-API keinen Volltext, sondern nur ein Abstract. Den Volltext kann sich das Obsidian-Plugin „Extract URL content“ besorgen, was Obsidian zum sehr coolen Notiztool macht. Aber in diesem Fall würde es dann halt für jeden Artikel drei Extraklicks bedeuten, was man dann am Ende nicht macht und gemein gesagt auch nur die Nerdvariante von „Kopiere den Artikeltext manuell in ein Worddokument“ ist.
  • Pinboard hat ein Volltextarchiv, welches aber hinter einem Abo liegt und Pinboard selbst stagniert als Dienst auch so extrem, dass ich die Eignung als Langzeitarchiv anzweifle.
  • Wallabag wird hier als selbstgehosteter Bookmarkdienst gerne empfohlen, aber dort traue ich mir das Hosting gerade nicht so ganz zu und mein aktueller Hoster All-Inkl unterstützt auch kein Docker.

Alle Lösungen funktionieren so halb und alle Lösungen waren so nah dran am gewünschten, dass es schnell klar war, dass es irgendwo Standard-Libraries geben muss. Denn es wäre unwahrscheinlich, dass ein Einzelentwickler einer kleinen Android-App im PlayStore selbst wunderbar auf zig Seiten gut funktionierende Parser entwickelt und dann nur eine kleine App mit dem Hinweis „quick project“ erstellt. MarkDownload hat dann auf der Github-Seite den entscheidenden Hinweis gegeben: readability.js .

Also in einem Anflug von Wahnsinn schnell Python installiert. Ich kann glaube ich von mir behaupten, dass ich keine oder wenn, dann nur sehr wenig Ahnung vom Programmieren habe: Der Informatikunterricht ist über 20 Jahre her und beschäftigte sich mit TurboPascal und Assembler, was auch damals schon gnadenlos veraltet war. Alle anderen Gehversuche in dem Bereich sind auch schnell wieder eingeschlafen. In der Zwischenzeit habe ich aber einiges mit NoCode-Tools wie IFTTT gemacht und die wildesten Dinge in Excel.

Und was soll ich sagen? Es ging erstaunlich einfach von der Hand. Mit Hilfe der Dokumentation und diversen Codeschnipseln habe ich es in wenigen Stunden geschafft ein erschreckend gut funktionierendes Python-Skript zu produzieren. Es nimmt Links, lädt sie herunter, jagt sie durch readability, konvertiert dessen Output in Markdown und speichert sie nach Titel auf der Festplate ab. Es war viel Trial & Error und der Experte fällt höchstwahrscheinlich rückwärts vom Stuhl, aber hey, ich bin stolz drauf.

Schnell kam die Idee auf, Pocket direkt als Mittelmann zu killen. Ich hatte wirklich keine Lust mit deren API herumzuspielen, um an die Links zu kommen. Und wenn man schon ein Offline-Archiv mit Artikeln hat, dann gibt es wirklich wenig Gründe, einen Cloudanbieter zwischenzuschalten, der einen stetig zum Abschluss eines Abos nötigen will. Auf einer Radtour kam dann die nächste Idee: Ich habe mir bekannterweise einen sehr gut funktionierenden Workflow zum Lesen von Nachrichten per E-Mail und wenn man eh schon seine Nachrichten per Mail konsumiert, warum nicht auch den Readlater-Dienst ins Mailpostfach integrieren?

Also weitergebastelt. Herausgefunden, wie man sich per Python in ein Mailpostfach einwählt und Mails liest. Den Inhalt der Mail ausgelesen. Recherchiert, wie man URLs in Text findet. Herausgefunden, wie man per Python Mails verschickt. Einen Workflow überlegt. Und jetzt habe ich mir an einem chilligen Wochenende meinen eigenen Readlater-Dienst gebaut: Man schickt eine Mail mit einem enthaltenen Link an eine Mailadresse und bekommt dann eine E-Mail mit dem Volltext dieses Links zurück. Die Mail wird automatisch in einen Unterordner sortiert. Dieser „Ungelesen“-Ordner voller Volltexte bildet dann die Leseliste. Die gelesenen Artikel können dann einfach in weitere Ordner sortiert werden. Alles kann mit der in jedem Mailprogramm vorhandenen Suchfunktion bequem durchsucht werden. Es ist auf wirklich jedem emailfähigen Gerät verfügbar, auch offline. Tracking- und werbefrei. Mit integrierter Sharing-Funktion.

Neue Fähigkeiten führen zu neuen Ideen: Ich habe bislang mit Calibre meine Pocket-Liste als ePub heruntergeladen, um die Artikel gemütlich auf dem Sofa auf dem eBookreader zu lesen. Das ist nach jahrelanger Erfahrung die angenehmste Art und Weise, um längere Artikel aus dem Netz zu lesen. Keine blinkende Werbung an der Seite. Keine zweckfreien Bilder. Keine „related Artikel“. Kein Tab nebendran, der einen ablenkt. Kein Chat, der aufpoppt. Augenfreundliches eInk statt Monitor und natürlich gemütliches Lungern auf dem Sofa, der Gartenbank oder in der Badewanne statt aufrechtes, seriöses Sitzen am Schreibtisch. Der Abschied von Pocket hat das natürlich gestoppt.

Daher habe ich ein weiteres Programm geschrieben. Das loggt sich einmal am Tag in das Postfach ein, zieht sich die Volltexte der Mails aus dem „Ungelesen“-Ordner, wandelt sie in eine Textdatei um und mailt mir einmal am Tag eine aktualisierte Datei, die dann auf den Reader gezogen werden kann. Eigentlich sollte es ein ePub werden, aber dessen Erstellung ist erstaunlich kompliziert und gerade bin ich mit dem reinen Text sehr zufrieden.

Was bleibt als Fazit? Wenn ich vernünftig gegoogelt hätte, wäre ich auf archivebox.io gestoßen und hätte den Python-Ausflug gar nicht machen müssen. Aber er hat sich als erstaunlich fruchtbar erwiesen und ich bin höchst zufrieden. Das war deutlich einfacher als ich es mir vorgestellt habe und es wird nicht das letzte Projekt dieser Art sein. Es ist ein neues Werkzeug im Toolkit dieses Lebens und genau wie der DIY-Hobbyhandwerker, der sich eine Schlagbohrmaschine gekauft hat, werde ich jetzt ab Samstagmorgen Punkt 6 Uhr bohren, bis die Nachbarn sich beschweren. Wenn ich das alles ausführlich getestet habe, werde ich es vielleicht irgendwann auch veröffentlichen. Mal schauen.

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Vögel, Rüsseltiere und sterbende Netzwerke

Irgendwann in den 2010ern starben die Webforen reihenweise. Leise, ohne großen Knall, aber stetig siechten sie vor sich hin. Die Nutzer wanderten ab, meistens in die damals neuen Sozialen Netzwerke oder auch einfach in das „Real Life“. Die junge Generation, die ab den frühen 2000ern die Webforen bevölkert hatte, bekam Kinder, machte Karriere, heiratete und so im Chaos des Lebens blieb dann zunehmend der Blick ins Lieblingsforum aus.

Ein sterbendes Webforum fühlt sich ganz merkwürdig an. Es stirbt selten mit einem Servercrash, sondern nach und nach sinkt die Aktivität. Wo noch vor ein paar Monaten jeden Tag mehrere neue Threads pro Unterforum gepostet wurden, sind es dann auf einmal nur noch mehrere neue Threads im gesamten Forum. Und jeder Thread sammelt immer weniger Beiträge. Die Zahl der Beitragenden geht zurück, es schläft alles ganz langsam ein.

Es kommt auch kein neues Blut mehr hinzu. Die Alteingesessenen, die Veteranen und die täglichen Nutzer kommen noch, aber die letzte Neu-Userregistrierung ist schon eine Weile her gewesen. Dass wirklich ein neuer User eingestiegen ist und geblieben ist, das ist dann noch länger her. Die Veteranen köcheln im eigenen Saft und werden nach und nach immer weniger. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man selbst das Forum verlässt und ich habe es meistens selbst gar nicht gemerkt. Das Leben hat einen in Anspruch genommen. Es war troubelig. Andere Webseiten waren doch spannender. Der letzte Post war kein bewusster, sondern man hat es einfach vergessen. Was früher tägliche Routine war, verschwindet. Selten ist der letzte Post in einem Forum wirklich ein bewusster Abschiedspost gewesen.

In den 2010ern starben auch die Blogs. Die großen Hoffnungsträger des Medienwandels wurden zerrieben zwischen den Sozialen Netzwerken, welche damals ähnliche Veröffentlichungsmöglichkeiten boten, einer (leider immer noch) verfehlten Digitalgesetzgebung und ökonomischen Zwängen. Die besten Blogger wurden irgendwann Journalisten, einige Blogs zu kleinen Medienunternehmen mit entsprechender Verwertung und andere Blogs wurden nach und nach aufgegeben. Blogs können auf 4 Weisen enden_

  1. Der Blogautor veröffentlicht eine große Ankündigung, dass er definitiv plant, in der nächsten Zeit wieder mehr zu schreiben
  2. Er schreibt einen kurzen oder langen Abschiedspost
  3. Das Blog verschwindet einfach irgendwann im Nirwana. Sei es, dass das WordPress kaputt ist, sei es, dass die Serverrechnung dann doch zu teuer war oder ein digitaler Frühjahrsputz. Es ist irgendwann einfach weg. Einige meiner Lieblingsblogger sind einfach vom Erdboden verschwunden und nicht mehr auffindbar.
  4. Der letzte Post ist einfach irgendwas, bereits Monate alt und es kommt einfach kein neuer. Der Blogger hat das Interesse verloren und macht jetzt was anderes. Manchmal findet man ihn dann in den Netzwerken wieder

Auch hier trat das Phänomen auf, das wir schon bei den Foren beobachtet haben. Die Zahl der Blogger wurde kleiner. Die Blogosphäre hat kluge und interessante Köpfe verloren, nach und nach. Und es gab keinen Nachwuchs mehr. Es wurden mehr Blogs aufgegeben als neu gestartet wurden. Die alten Blogger (wie ich höchstwahrscheinlich auch einer bin) halten noch durch, aber auch ich habe früher mehr und intensiver gebloggt.

Ähnliches konnte man damals beobachten, als StudiVZ den Bach runterging. Wo es vorher eine rege Aktivität gab, die Leute fleißig gegruschelt haben, sich in Gruppen mit witzigen Namen zusammengetan haben und Beiträge veröffentlicht haben, wurde es zunehmend weniger. Die User gingen alle nach und nach zu Facebook.

Und auch wenn Facebook immer noch eins der erfolgreichsten Sozialen Netzwerke der Welt ist. In meiner Bubble ist es mausetot. Keiner postet mehr Beiträge oder Statusupdates. Die Accounts sind noch da, aber verwaist. Leere Hüllen, deren letztes Lebenszeichen dann vielleicht der Hinweis auf einen Artikel in 2014, ein Urlaubsfoto 2015 oder ein geteilter Beitrag einer Seite oder irgendeine Petition 2016 war. Danach… Stille.

Warum schreibe ich wie ein alter Mann vom Krieg? Wenn es um sterbende Soziale Netzwerke geht, dann kann es gerade eigentlich in Wirklichkeit nur um Twitter gehen. Seit der Übernahme durch Elon Musk steht man da als langjähriger Nutzer da und kann sich nur sprachlos anschauen, wie und was da im Rekordtempo zerschlagen wird.

Die traurige Wahrheit ist aber, dass Twitter schon seit einer ganzen Weile den Eindruck eines sterbenden Netzwerks gemacht hat. Die obige Erzählung von vergangenen Toden soll nur belegen, dass ich weiß, wie sich das anfühlt. Die Leere hat sich schon lange ins Netzwerk gefressen. Followerzahlen stagnierten schon eine Weile, was bedeutet, dass kaum noch neue Nutzer dazu kamen. Was jetzt auch kein Wunder ist. Der Ruf von Twitter als wild kreischende Horde von Halbwahnsinnigen war hart erarbeitet und die vielen klugen Köpfe schwer zu finden. Man konnte sogar wunderbar beobachten, wie die Twitter-Features viele eigentlich kluge Köpfe dazu brachten, sich selbst weniger klug zu verhalten. Manchmal steuert die Maschine auch den Menschen. Der nüchterne Blick in die Userzahlen und Geschäftsberichte zeigt auf jeden Fall, dass Twitter wenig neue Nutzer gewinnen konnte. Es gibt keine ernsthafte Statistik zum Deutschen Raum, aber hier dürfte es noch schlechter aussehen als international.

Auftritt Musk. Der reichste Mensch der Welt, wenn man die „geheimen“ Ranglistenersten von Vladimir Putin bis hin zum saudischen König Salman ibn Abd al-Aziz ignoriert, die durch ihre Privatisierung ganzer Staaten noch reicher sind als sich wir alle auch nur vorstellen können. Also Musk. Musk, der zwar mit PayPal, Tesla und SpaceX erfolgreiche Firmen aufgebaut hat, aber als Charakter … sprunghaft ist. Auf jeden Fall schafft Musk es jetzt, das gesamte Twitter als Firma und Community in ein heilloses Chaos zu stürzen. Wenn es nicht so viele Kollateralschäden verursachen würde, wäre es höchst unterhaltsam. Er feuert die Hälfte der Belegschaft, muss dann aber nachher verzweifelt Leute bitten, wieder zurückzukommen. Er liefert sich diverse Fehden auf seiner nun eigenen Plattform mit Prominenten, bei denen man als Außenstehender nur kopfschüttelnd daneben steht. Natürlich macht es wenig Sinn, einem der bekanntesten Schriftsteller der Welt, welcher kostenlos Inhalte für die eigene Plattform schreibt, vorzuverwerfen, dass er nicht 8 Euro pro Monat für die Subscription zahlt. Und auch das völlig absehbare Desaster mit den verifizierten Accounts lässt mich als langjährigen User einfach nur verwirrt zurück. Klar, die Verifizierung war seit Jahren eher kaputt. Aber Verifizierung ist auch ein echt hartes Problem, das Griftern und Betrügern so viel Potenzial bietet, dass es als Problem einfach unlösbar ist. Außer man scheißt auf alles und schafft innerhalb von 2 Wochen ein gigantisches Chaos – wie Musk.

Es ist vor allem erstaunlich, dass der reichste Mensch der Welt jetzt einen banalen blauen Verifizierungshaken zum Hügel erkürt, auf dem er sterben will. Von all den Problemen, die Twitter hatte. Die Verifizierung war es nicht.

Für mich als langjährigen Twitteruser (seit 2009! Es gibt Menschen, die sind in dem Jahr geboren und die laufen jetzt rum und man kann richtige Gespräche mit ihnen führen so wie mit echten Menschen und die können lesen und schreiben und all das!) ist diese Entwicklung natürlich traurig. Twitter war lange Zeit meine digitale Heimat. Projekte wie 9nov38 und DigitalPast waren nicht nur auf und dank Twitter höchst erfolgreich. Ich habe viele Freunde gewonnen, die ich ohne Twitter nicht hätte. Menschen, die mir wirklich etwas bedeuten. Daher fällt auch ein Abschied schwer und es ist schwer zu sehen, wie das eigene digitale Wohnzimmer vom reichsten Menschen der Welt übernommen und in Rekordzeit ruiniert wird. Vielleicht schafft Twitter es, aber ich fürchte, dass es jetzt das Ende wird. Musk hat sicher das Kapital, um das Netzwerk am Laufen zu halten. Aber das hat Murdoch auch für MySpace und auch Digg gibt es noch, wenn auch nur noch als leere Hülle früherer Großartigkeit. Ich bin alt, ich kann in Internetsachen mittlerweile den Zeitzeugen raushängen lassen und sagen, dass ich dabei war und daher weiß, wovon ich rede. Ich hatte sogar einen Redditaccount bevor sich Digg selbst zerstört hat und ich hatte einen MySpace-Account bevor dort alles implodierte. Irgendwo gibt es sogar noch ein Tumblrblog von mir aus der Zeit, bevor dort alles implodierte.

Auftritt Mastodon. Ein kleines, eher anarchisches, dezentrales Netzwerk, bevölkert von den Galliern des Internets und motiviert vom alten Hackerethos und dem Geist der Unkommerzialität. Ein Netzwerk, das es schon seit Jahren gab, das einen sehr moderaten Erfolg, aber einen Erfolg hatte und wo sich einige Nischencommunities versammelt hatten. Ein Netzwerk, das jetzt plötzlich im Rampenlicht steht und das plötzlich als die Twitteralternative gilt.

Ich hatte mir im April auf Anregung von Sebastian einen Account eingerichtet als die ersten Muskübernahmegespräche begannen und war seitdem begeistert. Es gab eine kleine, aber rege und kommunikative Community, die definitiv das Herz am richtigen Fleck hatte. Hacker. CCC Leute. Die Digitale Avantgarde. Kluge Menschen, neue Menschen und auch von Twitter altbekannte Gesichter. Es war ein Netzwerk, das auf den ersten Blick vieles richtig machte und einfach viele Features mitbrachte, die auf Twitter definitiv fehlen.

Und es ist auch ein Netzwerk, das durch seine bewusste Andersartigkeit aufgezeigt hat, wie sehr einen die Twitter Algos steuern. Bittere Erkenntnis, aber am Ende ist man nur ein fehlbarer Mensch im tosenden Meer dieser Welt und die Technik schleudert einen als brausende Welle umher. Es war faszinierend, wieder zu … lernen wie wunderbar Microblogging ohne Quotetweets funktioniert. Es war wunderbar, ein Netzwerk zu erleben, das wirklich kuschelig war. Ohne große Flamewars. Ohne schlimme Konfrontationen. Ohne dieses nagende Gefühl dem anderen rhetorisch eins draufzugeben müssen. Einfach, weil dieses Netzwerk fast idiotenfrei war und weil es nicht als algorithmischer Supercollider aufgesetzt ist. Es werden einem keine blödsinnigen Tweets aus der Welt.de-Redaktion in die Timeline empfohlen, weil die Welt.de-Redaktion zum einen nicht auf dem Netzwerk ist und zum anderen, weil es diese auf Hyperengagement optimierten und damit ragebaitigen Empfehlungen nicht gibt. Es hat wirklich Spaß gemacht.

Der Leser fragt sich jetzt sicherlich, warum ich in der Vergangenheitsform schreibe. Mastodon verändert sich gerade rapide. Es gibt einen enormen Nutzeranstieg, die Leute flüchten von Twitter. Die letzten Wochen waren wild, wirklich jeden Tag sind mehrere Bekannte aus meiner Twittertimeline dann auf Mastodon aufgeschlagen. Mittlerweile fehlen eigentlich nur noch drei User und dann hätte ich das Twitter-Panini-Album auch auf Mastodon komplett. Die Server crashten aufgrund der vielen neuen Nutzer. Die Community ist in einem rapiden Wachstums- und Transformationsprozess, der nicht jedem gefällt. Und es gibt die Sorge, ob das alles wirklich skaliert oder ob dann mit weiteren Millionen Nutzern alles in Flammen aufgeht. Was passiert, wenn auch die unangenehmen Internetnutzer auftauchen und die ganzen blöden Firmen und die Schwafelköpfe und die Selbstdarsteller und die Trolle und die Nazis und alle anderen. Man darf gespannt sein.

In der Zwischenzeit macht es trotz allem einfach Spaß. Wer will, darf sich hier mit mir vernetzen. Die Reklame habe ich bereits im April mit einem Account versehen. Die anderen Twitterprojekte lasse ich vorerst automatisiert auf Twitter. Planet History postet automatisch weiter, aber ehrlich gesagt fehlt mir gerade die Begeisterung für geisteswissenschaftliche Blogs (wer mich unterstützen will, darf sich gerne melden). Pastvertising wäre sicherlich noch ein Kandidat und Geschichtslinks war auch auf Twitter eher wenig erfolgreich. Das läuft so lange es noch läuft.

Was ist jetzt das Fazit? Verwirrung. Aber irgendwie auch das Gefühl, dass aus der Asche von Twitter ein goldener Phönix aufsteigen kann. Es wäre nicht schlecht, wenn er dezentral, mit Hackerethos und leicht anarchisch wäre. Mastodon ist in diesen Wochen definitiv das spannendste Social Network und es macht Laune dabei zu sein.

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Nachrichtenmühle, revisited

Ich habe vor einer Weile über meine neue Art des Nachrichtenkonsums gebloggt und nach ein paar Wochen ist es wohl Zeit das ganze Revue passieren zu lassen.

Das Ergebnis ist so einfach wie frustrierend. Die Technik funktioniert, aber es funktioniert trotzdem nicht rund. Die im ersten Beitrag beschriebene Technik funktioniert wunderbar. Ich habe mein eigenes Mailpostfach, in dem in separierten Unterordnern Mails aus verschiedenen Quellen aufschlagen, die dann vom integrierten Spamfilter sortiert werden. Der Trump findet dort nicht mehr statt. Die Nachrichten aus dem RSS-Feed der Tagesschau enthalten keine Nachrichten aus bestimmten Weltregionen mehr. Ich bekomme Newsletter von klugen Köpfen mit klugen Analysen zu interessanten Themen.

Mittlerweile habe ich sogar ein paar Ergänzungen vorgenommen und das System deutlich verbessert. Ich bin nun in der Lage, Mails mit Links an Pocket zu schicken. Und ich kann meine Pocket-Leseliste via Calibre-Plugin als ePub herunterladen, um sie ganz entspannt auf dem Tolino eBook Reader zu lesen.

Im Prinzip ist es perfekt. Alles Werbefrei. Ohne dass die Aufmerksamkeit von Popups, Bannern, „Related Articles“ oder Kommentarspalten gefressen wird. Ohne stetiges Upselling. Fokus auf Artikel. Auf Content. Auf Inhalte. Auf die Longform. Auf Gehalt statt Tratsch. Auf Hintergrundartikel statt des Geschreis im Vordergrund. Quasi die entschleunigte Manufaktum-Welt der Nachrichtenseiten. Daraus könnte man ein kleines, entspanntes Startup bauen.

Aber … das klappt dann doch leider nur technisch. Denn bekannterweise ist der Geist willig und das Fleisch schwach. Und der Sog des Netzes ist halt nicht einfach so durch eine andere Arbeitsweise zu stören. Doomscrolling wird bekannterweise nicht durch fehlende gehaltvolle Alternativen ausgelöst und es hat einen Grund, warum man nach einer 40h Woche nicht Krieg und Frieden liest, sondern doch eher Perry Rhodan. In diesen Zeiten ist Tiefe etwas, das man sich geistig leisten können muss und etwas, das nicht immer geht. Diese Idee, dass man plötzlich doch das gesammelte Werk von Shakespeare und Goethe lesen würde, wenn da nicht der PC, das Handy oder der Fernseher einen ablenken würde, greift nicht. Genau wie der Schriftsteller scheitert, der sich in ein Hotelzimmer einsperrt, um die Schreibblockade zu überwinden oder der arme Student, der mit seiner Abschlussarbeit nicht vorankommt und jetzt in die UB geht, um diesmal wirklich richtig zu arbeiten.

Oder anders gesagt. Ich habe mein wunderbar funktionierendes System, um dem Sog der Nachrichten und von Twitter zu entgehen, aber habe dann doch die letzten Wochen sehr viel auf Twitter rumgehangen und eben doch nicht mein eigenes System genutzt. Und leider kann ich mich jetzt nicht herausreden, dass es an der Technik liegt, denn die funktioniert wunderbar.

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Reportagen aus der Vergangenheit

Es ist mal wieder Zeit für ein neues, historisches Projekt: Reportagen aus der Vergangenheit ist ein monatlicher Newsletter, mit dem ich meine Leidenschaft für Reportagen und insbesondere historische Reportagen mit euch teilen will. Das Konzept ist simpel: Ich habe in den letzten Jahren hunderte Reportagen in alten Zeitungen, in diversen Sammelbänden und Büchern gelesen und dabei eine kleine Sammlung an besonders interessanten Reportagen aufgebaut. Diese teile ich mit euch – Ihr bekommt von mir jeden Monat kostenlos eine historische Reportage in euer Postfach.

Seid direkt mit dabei, wenn die talentiertesten Reporter der Vergangenheit in ihren Reportagen berichten! Begleitet die Berliner Polizei in Weimarer Zeiten auf ihren Razzien im Nachtleben. Reist in die französischen Strafkolonien. Streift durch das nächtliche Prag vor dem Ersten Weltkrieg. Begleitet Entdecker und Abenteurer durch Wüsten und Dschungel. Fahre mit Fischern im Kaiserreich auf große Fangtour. Lest über Schlachten und Kriege. Bereist Haiti, China, die USA, das Baskenland, Südamerika, Asien, Afrika, die ganze Welt. Folgt dem Reporter in die Slums von East London. Trinkt mit auf dem Oktoberfest. Verfolgt Gerichtsprozesse und Polizeiermittlungen. Fahrt mit der Eisenbahn. Und arbeitet in den Fabriken der industriellen Revolution.

Da es ein Hobbyprojekt ist, setzt das Urheberrecht leider klare Grenzen: Habe keine Zeit und kein Budget für langwierige Lizenzierungsverhandlungen mit Verlagen und Erben, von daher sind alle Reporter, von denen Ihr lesen werdet, schon seit über 70 Jahren tot und ihre Werke damit gemeinfrei. Ein Wallraff wird hier nicht auftauchen und wir werden uns vor allem im Bereich des Kaiserreiches bis zum Ende des Nationalsozialismus und der frühen BRD bewegen können.

Für den Newsletter anmelden könnt Ihr Euch hier. Los geht es morgen früh!

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Raus aus der Nachrichtenmühle

Die Weltlage gerade ist ja eher Weltschmerz denn Freude und in Vorbereitung auf einen sicherlich nicht wirklich  angenehmen Winter habe ich mir vorgenommen meinen Nachrichtenkonsum etwas anzupassen.  

Der Plan war der folgende:

  • Da externe Anbieter irgendwann zwangsläufig mies werden, soll das gesamte System in meiner Hand liegen
  • Das System soll möglichst wartungsfrei sein und eben nicht stetige Pflege benötigen
  • Es soll geräteübergreifend funktionieren, sowohl am PC mit verschiedenen Betriebssystemen als auch am Handy oder Tablet ,
  • Die Technik soll zukunftssicher sein, also keine experimentellen oder extrem veralteten Techniken einsetzen
  • Ich will alles an einer Stelle haben und will nicht zig Seiten besuchen müssen
  • Die Lösung war dann nach etwas Nachdenken keine fancy App, kein KI-gesteuertes Startup, kein RSS-Reader, sondern… ein simples Mailpostfach.
  • Das Mailpostfach auf meinem Server liegt in meiner Hand. Wird mein Hoster mies, kann ich es einfach zu einem anderen umziehen
  • Es ist zu 100 % wartungsfrei
  • Mails lassen sich praktisch überall abrufen, selbst auf manchen Kühlschränken
  • Etwas zukunftssicheres als E-Mail dürfte es kaum geben. Das bleibt
  • Es ist sowohl ein Push- als auch ein Pull-Dienst. Je nach Lust und Laune kann ich das Postfach lesen, wenn neue Mails kommen oder halt wenn ich gerade Lust habe

Herzstück sind zwei Elemente: Ein Dienst, der RSS-Feeds in Mails umwandelt und … Newsletter.

Und so banal sieht das dann aus

In der ersten Testphase nutze ich vorerst Blogtrottr.com – zugegebenermaßen ein Verstoß gegen die erste Vorgabe, dass alles in meiner Hand sein soll. Es gibt aber auch diverse Open Source-Tools für diesen Zweck, aber manchmal darf man einen Teil auch erstmal testen. Blogtrottr macht den Job ganz gut, blendet aber in der kostenfreien Version Werbung ein. Diese ist aber problemlos mit Thunderbird (PC) und Blockada (Android) zu blocken.

Mit Blogtrottr abonniere ich diverse RSS-Feeds, bei denen mir die Einträge dann als einzelne Mails oder (wahlweise) als Tageszusammenfassung zugestellt werden. Diese Mails sortiere ich dann per Filterregel im Postfach in einen Unterordner je nach Quelle.

Ein wirklich großartiger Nebeneffekt ist, dass man die Nachrichten auf diese Weise auch filtern und sortieren kann:

Ist der Absender „Tagesschau“ und der Betreff enthält „Trump“, lösche die Nachricht

Ist der Absender „Heise.de“ und der Betreff enthält „Tesla“ oder „Musk“ oder „Apple“, lösche die Nachricht

Ist der Absender „Tagesschau“ und der Text enthält „Freiburg“, verschiebe die Mail in den Ordner „Freiburg“

Auf die Weise kann man sich seine eigene Mediendiät zusammenstellen, was so mit dem normalen Surfen auf den üblichen Nachrichtenseiten nicht möglich ist. Dort bekommt man stets die volle Ladung Nachrichten um die Ohren geknallt, so irrelevant oder redundant sie auch sind. Bunt, mit Bildern, mit Videos und lautem Geschrei. Ich weiß aber bereits, dass Donald Trump ein großer Idiot ist. Ich will daher nicht mehr jeden Gedankenfurz von ihm lesen müssen, der genau das nochmal beweist. Ich habe gerade kein Interesse daran ein Produkt von Apple zu kaufen und trotzdem sind alle Techseiten voll mit Nachrichten und Spekulationen zum neuen iPhone. Auch das aktuelle Auto fährt noch, daher ist es auch total irrelevant, was ein Elon Musk gerade wieder macht.

Man unterschätzt es auch, wie sehr manche Personen die Medien „gehackt“ haben und sich ständig mit wilden Aussagen in der Öffentlichkeit platzieren. Da gibt es einen Bürgermeister einer süddeutschen Mittelstadt, der in seiner Partei keine weiteren Funktionen als Bürgermeister hat. Spiegel Online schrieb 554 Artikel über ihn. Da gibt es eine Politikerin einer deutschen Kleinpartei, die nur dank drei Direktmandate im Bundestag vertreten ist. 1776 Artikel. Die Herausgeberin einer Zeitschrift mit 25000 Lesern? 1199 Artikel.

Das gilt auch für bestimmte Länder – man liest mehr Artikel über die US-Innenpolitik als über die Innenpolitik unserer Nachbarländer. Ich habe noch nicht den perfekten Filter für das Ausblenden der für uns völlig irrelevanter US-Vorwahlen gefunden, aber höchstwahrscheinlich geht das wunderbar über „Lösche Mail, wenn sie „Trump“ enthält“ – auch hier ist man sicherlich besser dran, wenn man sich erst mit dem Thema beschäftigt, wenn die beiden Präsidentschaftskandidaten feststehen. 

Sieht wild aus, filtert aber erstaunlich viel Unfug. Ich bin übrigens kein erfahrener Administrator und bastel da trotzdem rum

Es ist wirklich angenehm, wenn man bestimmte Leute und Themen einfach ausblenden kann. Kein Interesse an Formel 1? Weg damit! Kein Interesse an Fußball? Löschen! Ist das schlimmste Cancel Culture? „Cancel Culture“ ist auch ein wunderbarer Begriff zum Filtern, denn kein Artikel mit diesen beiden Wörtern im Titel enthält etwas Sinnvolles.

Das ist jetzt kein Aufruf, sich nicht mehr zu informieren und den Kopf in den Sand zu stecken. Aber gleichzeitig ist es auch völlig ok, wenn man nicht alle Not der Welt in sich reinfrisst und bestimmte Themen, an denen man eh nichts ändern kann, einfach ignoriert. So wichtig staatsbürgerliches und politisches Engagement auch ist – den Nahostkonflikt bekommt man vom Sofa in Deutschland aus eh nicht gelöst und daher bringt einen auch die 237. Nachricht über Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen wirklich nicht weiter. Das kann man auch einfach ignorieren – und sollte die Lage dort wirklich komplett eskalieren, dann bekommt man es trotzdem irgendwie mit. 

Im Zeitalter des algorithmisch empfohlenen Schwachsinns ist es ernsthaft befreiend, wenn man bestimmte Themen einfach nach freier Entscheidung nicht mehr konsumieren muss, statt sie wirklich an jeder Stelle um die Ohren gehauen zu bekommen. Auf Twitter kommt man um den Aufreger des Tages nicht drumrum, die Nachrichten bringen es als Hauptschlagzeile und am Ende bekommt man die neusten dummen Aussagen eines Donald Trumps auch noch über das Widget in der Windows-Taskleiste direkt ins Gesicht geballert. Es ist wirklich schön, wenn man etwas dann doch aus freien Stücken ignorieren kann.

So geht’s

Aber ich schweife ab: Wer sich ebenfalls ein entsprechendes System abschauen will, der kann das recht einfach machen, die Bausteine sind wirklich simpel:

  1. Ein neues Mailpostfach einrichten. Ich hab hier meinen eigenen Server, aber jeder Freemailer geht natürlich auch oder man schickt alles in sein normales Postfach
  2. Ich nutze gerade Blogtrottr.com als RSS2Mail-Dienst
  3. Ich kombiniere das aktuell – in völliger Verletzung meines ursprünglichen Planes – dann noch mit morss.it einem Dienst, welcher beschnittene RSS-Feeds wieder in Volltext-Feeds umwandelt
  4. Das Filtern ist je nach Anbieter unterschiedlich

    Das Postfach kann dann wirklich überall gelesen werden: Browser, Mailprogramm, Smartphone, Tablet, Kühlschrank, Mittelklasse-Audi oder Smartwatch.

Auf die Weise kann man – ohne Werbung und ohne das Mailprogramm zu verlassen – alles entspannt lesen. Alle Dienste ließen sich aber problemlos auch selbst betreiben oder schnell ersetzen, wenn die fremdgehosteten Varianten den Weg aller Clouddienste gehen.

Das andere Element meiner neuen Nachrichtenstrategie sind Newsletter. Die boomen gerade eh und wer früher ein Blog hatte, hat jetzt einen Newsletter. Es gibt jede Menge kluge Köpfe und kluge Newsletter. Hier findet man – neben jeder Menge Müll – auch genau die leisen und ruhigen Stimmen, die lange, ausgewogene und durchdachte Artikel schreiben, welche in den Sozialen Netzwerken völlig untergehen. Und manch einer, der auf Twitter gerne provoziert, zeigt sich in seinen Newslettern dann sogar als kluger und durchdachter Feingeist. Und meine Lokalzeitung bietet sogar einen allabendlichen Newsletter, in dem das Lokalgeschehen zusammengefasst wird.

Welche Vorteile gibt es noch? Man hat ein Volltextarchiv der gelesenen Nachrichten, in dem man suchen kann. Man kann offline lesen. Nach einem Urlaub oder einer Phase der Nachrichtenabstinenz kann man sich wieder auf den aktuellen Stand bringen, ohne etwas zu verpassen. Man kann einfach alle Premium-Plus-Paywall-Artikel rausfiltern. Einen Daily Digest bestimmter Twitter-User bekommen. Oder mit einem Webseiten-Monitoring-Tool die Webseite der Freiburger Lebensmittelkontrollen beobachten, um in bestimmte Restaurants definitiv nie mehr zu gehen. 

Fazit

Es funktioniert. Es ist nerdig, es braucht etwas Einrichtungszeit, aber es ist eine wunderbar entspannte Art, um Nachrichten zu konsumieren. Die Infrastruktur in eigener Hand. Werbefrei. Unerwünschtes wird rausgefiltert.

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The Ministry for the future

Es gibt manchmal so Bücher, die einem plötzlich überall begegnen und über die verschiedene Menschen sich in verschiedenen Kontexten unterhalten. Mir ist das mit Kim Stanley Robinsons „The Ministry for the Future“ dieses Jahr passiert. Wenn verschiedene Menschen sich über ein Science Fiction-Buch unterhalten, dann ist das häufig ein Zeichen dafür, dass sich ein genauerer Blick lohnt. (Oder es handelt sich um Bücher wie 50 Shades of Grey, aber das ist ein anderes Thema)

Zuerst wurde ich auf das Buch Anfang des Jahres aufmerksam als in Indien eine gigantische Hitzewelle zuschlug – mein Twitter war plötzlich voll mit Erwähnungen des Buchs. Danach tauchte es immer wieder auf und als ich es dann in der örtlichen Buchhandlung sah, habe ich es einfach gekauft.

Und was soll ich sagen: Es ist ein krasses Buch. Ein Buch, das sich jeder Zusammenfassung entzieht. Ein Buch, das eigentlich Science Fiction ist, dann aber eben wieder so nah an der Gegenwart ist, dass diese Genrezuschreibung nicht passt. Ein Buch, das keine wirkliche Story hat, keinen großen Spannungsbogen und auch nur Charaktere, die verblüffend blass werden. Ein Buch, das fast mehr Sachbuch als Roman ist, aber dann eben doch kein Sachbuch ist.

Worum geht es? Es geht um das „Ministerium für die Zukunft“, eine UN-Organisation, welche die noch ungeborenen Menschen und ihre Interessen vertreten soll. Daraus entspinnt sich eine Geschichte der Klimakrise, der menschlichen Reaktionen auf diese Krise und möglicher Szenarien, wie die Klimakrise verlaufen könnte. Es ist wirklich schwer zu beschreiben, worum es überhaupt in diesem Buch geht: Robinson beschreibt eine mögliche, nahe Zukunft, in der gewaltige Klimakatastrophen passieren. Er beschreibt Lösungen, wie Menschen diese Krise versuchen zu bewältigen. Er beschreibt politische Maßnahmen. Er beschreibt technische Lösungen. Er beschreibt ein Aufkommen eines radikalen Ökoterrorismus, der sich gegen Klimasünder richtet. Das liest sich wie ein wilder Fiebertraum – Robinson haut einem in einem fast stenographischen Stil hunderte verschiedene Konzepte, Theorien und Ideen ins Hirn. Alle kurz und knapp, alle regen zum Nachdenken und Recherchieren an und wer das tut, wird mit dem Buch nie fertig werden, aber dafür klüger. 

Und vielleicht wird man auch etwas optimistischer: Aktuell fühlen sich alle Nachrichten an der Klimafront ja apokalyptisch an. So als ob man in einem viel zu schnell fahrenden Auto unterwegs ist, das gerade ins Schlingern gerät. Corona und der Ukraine-Krieg lenken gerade alle ab, wir verlieren weitere, wichtige Jahre und die Extremwetterereignisse werden mehr, wir verbrennen aber weiter immer mehr CO2. Am Ende kann man als mittelalter Mensch fast nur froh sein, wenn man dann irgendwann so 2050-2070 den Löffel abgeben kann und der Planet bis dahin noch nicht völlig zerstört ist. Wer Kinder hat, muss eigentlich verzweifeln.

Kim Stanley Robinson denkt wenigstens Wege, wie sich eine Katastrophe abschwächen kann. Wie die Menschheit doch noch die Kurve bekommen könnte. Und das ist wirklich höchst inspirierend. Man muss nicht jede Idee für gut halten. Man muss auch nicht jede Idee für umsetzbar halten. Manchmal macht sich Robinson die Lösung auch zu einfach – so „löst“ er das Problem des globalen Flugverkehrs einfach durch einen weltweiten Drohnenterrorismus gegen Flugzeuge, welche dann durch Luftschiffe ersetzt werden. Allgemein spielt Terrorismus gegen Umweltsünder eine große Rolle im Buch – ohne jetzt größere Spoiler zu bringen, fällt einem auf, dass das Buch radikaler denkt als die aktuelle Klimabewegung. Aktuell kleben sich die Radikalen Klimaschützer im Berufsverkehr auf Straßen, um gegen den Verkehr zu protestieren und werden dann dafür von Autofahrern verprügelt. Im Buch sieht dies deutlich anders aus – und ich bin wirklich gespannt, ob wir irgendwann eine radikale Ökoterrorismusbewegung sehen, die etwa Manager von Ölfirmen oder Milliardäre wie die Koch Brüder umbringt oder wirkliche Anschläge auf die fossile Infrastruktur begeht.

Von daher: „The Ministry for the Future“ ist ein radikales Buch. Anders als so vieles, was man sonst liest. Es widersetzt sich erfolgreich allen Genrekonventionen. Es regt zum Sorgen, zum Denken, zum Recherchieren an – und genau daher ist es absolut lesenswert.

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Innenstädte

Die Innenstädte sind in der Krise, so schallt es überall her. Selbst in Freiburg, wo es noch boomt und die Stadt zu jeder Gelegenheit voll ist, wird über eine Krise der Innenstadt geredet. In anderen Städten stolpert man über Leerstand, 1 Euro-Läden, Spielhallen und gähnende Langeweile.

Der Schuldige ist in der Lokalpresse natürlich schnell ausgemacht: Der böse Onlinehandel. Wenn die Menschen einfach alles bei Amazon bestellen, dann fährt keiner mehr in die Innenstadt und die Geschäfte sterben. Aber ist es wirklich so einfach?

Auch vor Corona waren viele deutsche Innenstädte vor allem eins: Austauschbar. Ob man jetzt nach Dortmund, Freiburg, Köln oder Frankfurt gefahren ist, am Ende ist man immer auf die gleichen Ketten gestoßen. Neben dem Karstadt gibt es dann den Kaufhof, den H&M, den C&A, den Thalia, den WMF-Store, den Saturn, einen Douglas, den Jack Wolfskin, den Deichmann, New Yorker, Telekom, Vodafone, O2, S. Oliver, Depot und dm. Oder halt die etwas heruntergekommene Variante für die etwas angeranzten Fußgängerzonen: Der Euroshop. Die Handyhüllen-Geschäfte.

Einerseits ist es natürlich nicht groß zu kritisieren, dass die großen Ketten ihre Waren auch in die kleineren Provinzstädte bringen. Andererseits ist das natürlich extrem langweilig. Wenn ich dann in einer fremden Stadt bin und genau das gleiche Angebot bekomme wie in Freiburg, dann erlischt natürlich jede Shoppinglust. Dann kann auch auch direkt zuhause einkaufen und muss die Einkäufe nicht mitschleppen. Aber es fehlt einfach etwas – wenn man im Urlaub einen coolen Laden findet, dann hat das etwas und der deutsche Innenstadteinheitsbrei erstickt das. Der Thalia hat halt das Thalia-Sortiment, aber er ist halt nicht der kleine Buchladen, in dem man die wirklichen Schätze findet und wenn es nur noch den Thalia gibt, dann wird der Städtetrip unattraktiver.

Austauschbarkeit ist ja eigentlich egal, wenn es um die eigene Stadt geht. Ob der Karstadt in Greifswald jetzt die gleichen Waren feilbietet wie der in Freiburg, kann mir als Freiburger wirklich egal sein. Wenn ich dann als Freiburger auf Urlaub in Greifswald kritisiere, dass die T-Shirts die gleichen sind, dann ist das meckern auf hohem Niveau. Das Problem sitzt tiefer:

Die Innenstädte sind in der Krise, weil man in ihnen wenig anderes machen kann als Einkaufen, Bürokratie, Arbeit, Arztbesuche, Essen und Trinken. Schon alleine aufgrund der hohen Mieten ist praktisch jeder Quadratmeter kommerzialisiert – Geschäft reiht sich an Café an Geschäft an Imbiss an Geschäft. Selbst die Gehwege und Plätze sind mittlerweile mit Außengastronomie belegt. Wer kein Geld hat und nicht gerade so spannende Dinge wie Arzt- oder Amtsbesuche erledigen muss, der kann in einer herkömmlichen Innenstadt wenig machen.

Nehmen wir mal Freiburg als Beispiel: Ohne Geld kann man sich auf die Betonwüste auf dem Platz der alten Synagoge setzen. Man kann auf dem Rathausplatz vor dem Brunnen sitzen, vor dem KGIV, im Colombipark auf dem Augustiner- und Adelhauserplatz. Man kann das Münster besuchen. Es gibt genau einen eher kleineren Spielplatz.

Erschreckenderweise hört es dann auf. Die Uni- und Stadtbibliotheken bieten immerhin ein paar unkommerzielle Elemente, aber es gibt ansonsten herzlich wenig zu tun, was nicht mit Einkaufen, Bürokratie, Arbeit, Essen und Trinken zu tun hat. Wer futtern will, ist gut aufgehoben. Wer sich eine ungesunde Menge an Cocktails in die Birne schrauben will, der auch. Wer etwas kaufen will, der auch. Aber eine interessante Innenstadt lebt eben von genau den Sachen, die nicht kommerziell sind. Den Effekt erlebt man dann am Sonntag, wenn die Geschäfte geschlossen sind: Dann wird die Innenstadt zur Wüste, mit der Gastro voller Touristen als Oase. Aber für den Einheimischen gibt es wirklich wenig Gründe, warum man dann am Sonntag in die Innenstadt fahren sollte.

Schaut man mal in einen Reiseführer zu einer beliebigen Stadt, dann tauchen dort selten die großen Shopping-Tempel auf. Die wirklich außergewöhnlichen, irgendwie urigen Geschäfte tauchen auf, aber zur lokalen H&M-Filiale wird man nicht vom Lonely Planet geleitet. In einer herkömmlichen deutschen Innenstadt gibt aber exakt diese sehenswerten Geschäfte nicht – und genau das macht sie dann so austauschbar und langweilig. Einkaufen. Bürokratie. Fressen. Saufen. Das war’s.

Eine lebenswerte Innenstadt ist aber mehr als das – ein richtig cooler Spielplatz für die Kinder bringt Leben rein. Der Freiburger Tanzbrunnen, wo sich im Sommer Abends Menschen einfach zum Tanzen treffen, bringt Leben rein. Eine handelsübliche Wiese, auf der Menschen sitzen können, macht jede Stadt lebenswerter als ein Nanu Nana. Und auch der Freiburger Augustinerplatz war zu seinen Hochzeiten ein Highlight – hunderte junge Menschen trafen sich dort an lauen Sommerabenden und saßen einfach friedlich zusammen.

Das zeigt aber auch die Probleme: Die Anwohner des Augustinerplatzes haben massiv mobil gemacht und die Stadt so lange bearbeitet, so dass dieser Treffpunkt jetzt nicht mehr das ist, was er mal war. Auch am Tanzbrunnen gab es Beschwerden eines Mediävistik-Doktoranden über den „unerträglichen Lärm“ der Tanzenden. Die Innenstadt scheitert an ihrer Dreifachfunktion als komplett durchkommerzialisierte Zone, Ausgehviertel und Wohngebiet. Unkommerziell genutzte Flächen wecken schnell Begehrlichkeiten – wenn diese Leute da eh im Sommer schon alle auf diesem Platz sitzen und Bier trinken, dann könnte man da ja auch eine größere Außengastronomie hinklatschen und richtig viel Geld verdienen. So geschehen etwa beim Ufercafé.

Natürlich wollen Menschen auch nach 22 Uhr noch gemütlich zusammensitzen, aber dann beschweren sich die Anwohner über die Nachtruhe – ein Problem nicht nur für unkommerzielle Treffpunkte, sondern auch für normale Kneipen. Da stoßen dann schnell verhärtete Fronten aufeinander. Am Ende leidet die ganze Attraktivität der Innenstadt.

Diese leidet auch an den gigantischen Mieten. Gerade in Freiburg ist es nicht gerade günstig einen Innenstadtladen zu betreiben und daher sind in den letzten Jahrzehnten nach und nach die kleinen, wirklich attraktiven Läden verschwunden. Sie sind entweder in die außerhalb gelegenen Bezirke gewandert, ins Internet oder halt ganz verschwunden. Es gab mal einen Buchladen, der sich auf Fantasy und Science-Fiction spezialisiert hat und eine wirklich gute Auswahl hatte. Die urigen Antiquariate mit ihren wild übereinander gestapelten Büchern sind verschwunden. Die anarchischen Second Hand-Laden sind weg. Die Nische ist im Prinzip nur noch im Luxussegment mit seinen hohen Margen möglich. Auch daran erstickt eine Innenstadt, denn gerade die Nische macht sie ja interessant und attraktiv. Will ich mir z.B. einen Schallplattenspieler kaufen, dann ist ein kleiner Laden mit ordentlicher Beratung und einer guten Auswahl halt attraktiver als der Saturn, der halt irgendwo zwei Standard-Modelle stehen hat, die ich aber auch deutlich günstiger online klicken kann. Der HighEnd-Audioladen, wo jeder Plattenspieler eine vierstellige Summe kostet und mit seinem minimalistischen Design ein Statement für den gesamten Wohnbereich ist, spricht auch nur eine sehr kleine Nische von sehr gut verdienenden Menschen an. Ein guter Buchladen ist inspirierender als das öde Sortiment in einer Buchladenkette wie Thalia – wenn ich das neue Buch von Daniel Kehlmann möchte, kann ich es auch einfach bei Jeff im Regenwald bestellen ohne in die Stadt zu fahren.

Also: Eine Stadt wird erst wirklich lebenswert, wenn man in ihr etwas anderes machen kann als Einkaufen, Fressen, Saufen, Arbeiten, Arztbesuche und Bürokratie. Es wäre zu wünschen, dass unsere Stadtplaner dies auch in ihre Planungen aufnehmen.

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Irrationale Akteure

Mir ist in der letzten Zeit etwas aufgefallen: Im Umgang mit irrationalen Akteuren denken viele Menschen immer noch, dass man diese irrationalen Akteure nicht provozieren dürfe oder dass man ihnen keine „Munition“ für ihre Propaganda geben dürfe.

Nehmen wir die Querdenker: Da waren viele Leute der Meinung, dass man nicht zu laut über eine Impfpflicht oder auch nur die Nebenwirkungen der Impfung reden dürfe, weil dies ja „Wasser auf die Mühlen“ der Querdenker sei. Bloß nichts zu laut sagen, damit diese dann hoffentlich nichts mitbekommen und dann kein großes Geschrei veranstalten. Gleichzeitig liefen die Querdenker lautstark durch die Straßen und schrien, dass es eine weltumspannende Verschwörung gebe, die alle Menschen durch die Impfung entweder umbringen oder mit Mikrochips kontrollieren wolle und dass im September 2021 alle Geimpften sterben würden und dass unsere Regierung uns alle in eine Diktatur bringen will.

Ähnliches mit Russland: Da wird gerade gerne getan, dass man ja Russland nicht durch irgendwas provozieren dürfe, weil Putin sonst eine ganz schlimme Gegenreaktion machen würde. Gleichzeitig zieht dieser Putin eine Schneise der Verwüstung durch die Ukraine. Seine Truppen morden, vergewaltigen, beschießen Theater, Schulen, Einkaufszentren, begehen Kriegsverbrechen und seine Propaganda lügt wie gedruckt. Er ist ein Meister darin, sich irgendwelche Provokationen auszudenken – wie schon alleine der offizielle Kriegsgrund zeigt, dass die Ukraine ein faschistischer Staat sei, der jetzt von der russischen Armee zu entnazifizieren sei. Die russischen Medien haben auch ein starkes Propaganda-Game und finden immer etwas. Dabei reißen sie auch gerne irrelevante Kleinigkeiten aus dem Kontext und bauen daraus einen riesigen Skandal. Oder sie verbreiten einfach ganz dreist offensichtliche Lügen.

Die QAnons sind ähnlich – wer ernsthaft glaubt und verbreitet, dass Hillary Clinton im Hinterzimmer einer Pizzeria in Washington Kinder sexuell missbraucht, der hat sich einfach aus der Realität verabschiedet.

Im Kleineren gibt es diesen Mechanismus auch in privaten Beziehungen, am Arbeitsplatz oder in der Schule. Es ist falsch zu denken, dass etwa jemand, der von seinem Partner geschlagen und missbraucht wird, daran eine Mitschuld habe. Dabei sind die Mechanismen andere: Das Opfer ist hier nicht der auslösende Faktor, sondern die Gewalt kommt tief aus dem missbrauchenden Partner und es geht um Macht, Kontrolle und Unterdrückung.

Auch beim Mobbing geht es nicht um den Inhalt der jeweiligen Mobbingaktivität – deswegen sind auch z.B. Kampagnen, die Schülern vermitteln sollen, dass Markenklamotten nicht wichtig sind oder Forderungen nach Schuluniformen, weil die Schüler sich dann nicht mehr über die Klamotten mobben können, wenig zielführend. Schlechte Menschen finden immer einen Anlass – oder denken sich einfach etwas aus. Das Gerücht trifft auch den saubersten Saubermann.

Einen ähnlichen Gedankengang findet man in der Literatur und in den Erinnerungen etwa zum stalinistischen Terror: Diese extreme Verwunderung der Opfer, dass sie jetzt in den Fokus der Repression geraten sind, obwohl sie ja nichts getan haben. Dieses blanke Unbegreifen bei der Konfrontation mit einem wahllosen Terror, der mit festen, zentral festgelegten Verhaftungs- und Erschießungsquoten gearbeitet hat. Und gleichzeitig dieses nagende Gefühl, dass ja irgendetwas dran sein müsse und dass die Nachbarn ja irgendwas angestellt haben müssen, weil sie sonst ja nicht verhaftet worden wären.

Was bedeutet das jetzt? So merkwürdig es klingt: Freiheit. Wenn die gehässigen Hexen aus der Parallelklasse sich so oder so die irrsinnigsten Gerüchte ausdenken, dann kann man sich auch die Haare blau färben und muss sein Taschengeld nicht für die neusten Markenklamotten sparen. Die lästern eh, egal, was man tut. Wenn die russische Propaganda aus harmlosen Nichtigkeiten einen Skandal macht, dann muss man in seinem Handeln keine Rücksicht auf sie nehmen. Wenn die Querdenker eh glauben, dass die Regierung alle Leute mit einer Impfung umbringen will, dann können wir als Restgesellschaft auch eine ehrliche und offene Diskussion über Impfungen & Gesundheit führen ohne auch nur ansatzweise Rücksicht auf diese verwirrten Gestalten mit dem Aluhut nehmen zu müssen. An irrationale Akteure kann man nicht mit normalen Maßstäben herangehen, denn ihr Verhalten entspringt nicht dem normalen Aktion -> Reaktion-Muster, das uns so vertraut ist. Es ist wichtig, dass wir dies endlich wahrnehmen.

Leider wird zu häufig noch den Opfern die Schuld oder wenigstens eine Mitschuld zugesprochen – die getragenen Klamotten hätten ja den Vergewaltiger so erregt, dass er sich einfach nicht mehr zurückhalten konnte. Man hätte sich nicht öffentlich zu Thema XYZ äußern sollen, da ist ja klar, dass man Morddrohungen von Rechtsextremisten bekommt. Der gemobbte Schüler soll dann das Gespräch mit den Mobbern suchen. Faktenchecks sollen „Fake News“ debunken. Der wahllos bei einer harmlosen Verkehrskontrolle erschossene Schwarze in den USA hatte ja vor 10 Jahren mal eine Verurteilung wegen Kriminalität. Dann steht mal wieder ein Amokläufer in einer Grundschule in den USA und erschießt haufenweise Kinder und spätestens dann zeigt sich die Leere dieses Gedankens: Die Opfer können nichts für die Tat. Der Täter befindet sich in einer Welt des Wahnsinns, die für Außenstehende nicht zu begreifen ist. Aber genau deshalb darf man sich auf diese Spiele im Wahnsinn nicht einlassen – der konkrete Anlass der Tat ist egal, der ist purer Vorwand. Nur den Vorwand zu vermeiden, bringt daher nichts.

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Abenteuer im 3D-Druck

Eigentlich war es ja klar, dass nach dem Stiftplotter und ersten Gehversuchen mit 3D-Programmen hier irgendwann auch ein 3D-Drucker ins Haus kommt. Dafür sind die Techniken doch zu nah verwandt und daher habe ich bei einem passenden Angebot zugeschlagen: Der Anycubic i3 Mega S für 149€ war als Angebot einfach zu günstig.

In den letzten Wochen habe ich daher intensiv mit dem Drucker gespielt und dafür dann auch das Stiftplotten schändlich vernachlässigt.

Zuerst die wichtigste Erkenntnis: Das ist alles gar nicht so schwer wie gerne getan wird. Wenn man versucht sich in den Bereich einzulesen, stolpert man sofort über schlimmstes Fachkauderwelsch, irgendwelche Druckerupdates, obskure Probleme mit komplizierten Lösungswegen oder verschiedene Drucktechniken. Umso überraschter war ich, dass das Gerät einfach so out of the box funktioniert. Man nimmt es aus dem Paket, baut es innerhalb von kürzester Zeit mit einer bebilderten Anleitung zusammen und dann kann man auch schon direkt den ersten Druck von der mitgelieferten SD-Karte starten. Nach einer halben Stunde Bastelzeit fließt auch schon das erste Plastik durch die Düse – und wer irgendwie etwas Ahnung von Technik hat, wer in der Lage ist ein Windows zu installieren oder gar eine Grafikkarte in einem Rechner zu installieren, der kann auch 3D-drucken.

Und das ist richtig cool! Ich war nie wirklich gut im Handwerken – wenn man mir eine Säge, Holz und diverse Schrauben gibt, dann bekomme ich kein Vogelhaus gebaut. Und wenn, dann eins, das schief und krumm ist und nicht nur von Vögeln verlacht würde. Mit dem Drucker könnte ich jetzt ein wunderbares Vogelhaus produzieren. Das macht Spaß und öffnet gleich neue Bahnen der Kreativität.

Wobei Kreativität gar nicht nötig ist: Man kann den Drucker auch einfach als Star Trek-Replikator nutzen. Es gibt diverse Plattformen wie Thingiverse, auf denen es zehntausende Druckvorlagen in allen auch nur denkbaren Varianten gibt. Egal ob praktische Helferlein, Ersatzteile oder lustige Spielereien, es gibt für alles etwas. Die Szene ist auch von einer enormen Offenheit geprägt – da wird gerne geteilt, CC-Lizenzen sind der Standard und es wird auch fleißig an anderen Designs verbessert und remixt.

Dabei sollte man nicht vergessen, dass die Drucks durchaus lange dauern können. Wenn man komplexere und größere Drucke probiert und die feinste Schichtdicke für das beste Druckbild wählt, dann können die gerne mehrere Tage dauern. Wer sich jetzt gedacht hat, dass er in die industrielle Massenfertigung einsteigen kann, der hat sich getäuscht.

Ebenfalls zum Thema „industrielle Massenfertigung“: Man sieht den fertigen Objekten an, dass sie 3Dgedruckt sind. Sie haben nämlich ganz feine Schichten, irgendwo zwischen 0,1mm und 0,3mm, welche man sieht und z.T. auch spürt. Wer wirklich elegante Teile drucken will oder ganz feine Details wie bei Tabletop-Figuren, der benötigt eine andere Technik als den FDM-Druck.

Ein Nachteil ist auf jeden Fall zu erwähnen: Die Dinger stinken. Im Endeffekt schmilzt man ja Plastik und spritzt dann das geschmolzene Plastik in Form. Also hat man Plastikdämpfe in der Wohnung – und die sind im Zweifelsfall nicht gerade gesund und angenehm. Man sollte also die nötigen räumlichen Voraussetzungen haben. Den Bastelkeller, die Abstellkammer mit eigener Lüftung oder den ungenutzten Nebenraum. Ansonsten werden spätestens die Mitbewohner irgendwann rebellieren.

Will man nicht nur von anderen gefertigte Modelle drucken, sondern auch eigene Dinge erstellen, dann wird das Projekt zu einer ganz anderen Herausforderung: Ich bin gerade erst in den Anfängen davon mit CAD-Programmen herumzuspielen und die Lernkurve ist sportlich. Ich sitze jetzt seit bald 35 Jahren vor Computern herum und mache sogar beruflich was mit Computern, aber das ist ein ganz eigenes Genre. Da fühlt man sich dann wirklich wie Karlheinz (58), der in Word daran verzweifelt einen Text fett zu setzen. Selbst simpelste Dinge fallen einem extrem schwer und es ist unglaublich schwer etwas, was man im Kopf hat, dann auch umzusetzen. Das ist eine Lektion in Demut – gerade da sie es einem sehr nahebringt, wie andere Menschen vor Computern sitzen.

Ansonsten ist der 3D-Druck ein recht günstiges Hobby: Den Drucker habe ich für 150€ bekommen und 1kg Filament kostet um die 20€. Plastik ist bekannterweise leicht und daher bekommt man aus dem Kilo einiges heraus. Dazu kommen dann noch die Stromkosten und das war es. Das kann man machen und erschreckenderweise refinanziert sich das sogar recht schnell, wenn man ein paar Ersatzteile druckt, für die Hersteller ja gerne Mondpreise nehmen.

Zum Schluss möchte ich noch festhalten, dass ich natürlich keinerlei Ahnung habe. Es ist ja ein generelles Problem im Internet, dass jeder jeden Blödsinn reinschreiben darf und dass gerade Experten in ihrem Gebiet meist gut damit beschäftigt sind, vielgefragte Experten zu sein und daher keine Blogbeiträge oder YouTube-Videos erstellen. Ich hab den Drucker erst einen Monat und höchstwahrscheinlich würde ich in einem Jahr einen völlig anderen Artikel schreiben. Falls also jetzt jemand Lust hat sich ebenfalls einen 3D-Drucker zu kaufen, dann hört nicht auf mich.

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