Ewers, Hanns Heinz - Der Mann aus Düsseldorf

Lodz, 17. XI. 1922

Welch trostlose, jämmerliche Dreckstadt; selbst Pittsburgs ist nicht schlimmer, Herrn Carnegies Paradies! Gestern hatte ich einen Vortrag, den andern habe ich übermorgen – zwei Tage erzwungener Ferien in diesem Pfuhl! Morgen fidelt der Kubelik, übermorgen singt Battistini – so bin ich für die Abende versorgt. Aber tagsüber?

– – – Ich wurde unterbrochen; ein junger Mann war bei mir, der klagte mir sein Leid. Natürlich waren neun Zehntel erlogen von dem, was er mir vorjammerte; aber das stimmte sicher: er hatte keinen Heller, und er wollte nach Hause, nach Düsseldorf. Und da ich auch aus dieser schönen Stadt sei, so meinte er –

Na und so weiter. Also ich gab ihm das Geld. Und jetzt weiß ich auch, was ich Ihnen heute schreiben soll, lieber Herr v. S.

Äußerst unbeliebt bin ich in meiner Vaterstadt; kein Mensch bekümmert sich da um meine Kunst und mich und hat's nie getan – es sei denn gelegentlich ein Steuerbeamter. Nie hat je ein Düsseldorfer Theater ein Stück von mir gegeben – die doch sonst in manchen Städten gespielt wurden; nie hat ein Verein mich zu Vorlesungen aufgefordert. Tagtäglich bringt mir die Post ein paar Schreiben, die um ein Autogramm bitten; nie hab ich eine solche Bitte aus Düsseldorf bekommen. Ich weiß nicht, warum; aber die Düsseldorfer sind eben dauernd bös mit mir – sie können's nicht gut vertragen, daß einer der Ihren über ihre Stadt und über Deutschland hinaus in der ganzen Welt »berühmt« sei – oder berüchtigt, wie sie es gewiß nennen! Gott, diese Berühmtheit! Ist nicht jeder lausige Politiker mehr bekannt? Und was hat man davon, daß man in einem Dutzend Sprachen und mehr gelesen wird – zum Butterbrot langt's ja noch grade, aber zum Kaviar nimmer!

Das will nun durchaus nicht sagen, daß mich die Düsseldorfer nicht kennen. Sie kennen mich vielmehr recht gut: wo immer ich in der Welt bin, findet gewiß ein Düsseldorfer den Weg zu mir. Dann – da draußen irgendwo – erinnert er sich sehr gern an mich und sucht mich auf; da bin ich sein geliebter und verehrter Landsmann und gut genug dazu, dies oder jenes für ihn tun zu dürfen.

Das alles wäre niederzuschreiben nicht der Mühe wert, wenn's nicht so außerordentlich bezeichnend für das Gemüt meiner lieben engern Landsleute wäre. Es ist durchaus keine böse Absicht dabei; es ist vielmehr die breite Indolenz des niederrheinischen Menschen, die bis zum heutigen Tage selbst für Heine, den größten Sohn der Stadt, noch nicht ein Fleckchen Erde zu einem Denkmal übrig hatte! Es gibt keinen Düsseldorfer, der nicht draußen in der Welt – und die Düsseldorfer kommen sehr weit herum, in allen fünf Erdteilen begegnet man ihnen – sich mit stolzer Freude daran erinnern läßt, daß er ein Landsmann Heines sei – nur durch diese eine kleine Tatsache ist ja Düsseldorf in der Welt bekannt. Aber daheim denkt er nicht daran; eine innere Hochachtung oder gar Ehrfurcht vor der Kunst, die dem Süddeutschen und besonders dem Österreicher so eigen ist, ist dem Rheinländer vollständig fremd. Nicht Düsseldorf muß dankbar sein, denkt er, daß Heine in der Bolkerstraße geboren wurde – o nein. Heine soll vielmehr noch im Himmel dem lieben Herrgott auf den Knien danken, daß ihn der in einer so wunderschönen Stadt zur Welt kommen ließ.

So hat denn nie einer der Düsseldorfer, die in Amerika oder China, in Rußland oder Indien den Weg zu mir fanden, je auch nur eine Sekunde damit verschwendet, ein Wort mit mir zu sprechen – über mich.

Nun, ich muß gestehn, daß mir das stets sehr sympathisch war! Sie sprachen immer nur – von Düsseldorf.

Von einem dieser Menschen will ich heute erzählen. Er war ein Metzger. Außerdem ein Mörder.

Ich war auf Porquerolles, einer der kleinen Inseln bei Hyères in Südfrankreich. Die Heeresverwaltung der französischen Regierung benutzt diese sehr hübsche Insel mit ihrem fast subtropischen Klima dazu, um die Fremdenlegionäre, die in Tongking, Algier oder Marokko ihre Dienstjahre beendet haben, in den letzten zwei Monaten wieder an das europäische Klima zu gewöhnen. Von Dienst ist da natürlich nicht mehr die Rede; außer dem abendlichen Appell wird kaum mehr etwas von den Leuten verlangt. Die Legionäre träumen davon, wie sie nun wieder in die Heimat zurückkehren wollen: man zahlt ihnen die Fahrt zu jeder gewünschten Grenzstation und dazu die vertraglich ausgemachte Belohnung. Sie träumen davon – in der Tat wird kaum einer von zehn wieder nach Deutschland zurückkehren; Deutschland ist ja die Heimat der meisten. Denn fast jeder der Legionäre hat irgendwas auf dem Kerbholz, wird von Gericht und Polizei gesucht: da ist der Willkomm zu Hause nicht allzu freundlich.

Ich war noch nicht einen Tag auf der Insel, als schon ein Legionär ankam und sich erbot, meine Stiefel zu putzen. Am nächsten Tage kam einer, der meine Wäsche waschen wollte; dann ein dritter, der mir Tabak und Wein aus der Kantine anbot, welche Dinge erstaunlich billig und also vermutlich geklaut waren. Im Klauen übertrifft der Legionär sogar den Matrosen: ›dekorieren‹ nennt man das in der Legionssprache. Immer mehr Legionäre kamen an, um ein paar Extragroschen bei mir zu verdienen. Alle konnte ich beim besten Willen nicht anstellen; so blieben schließlich ein Pfälzer, ein Elsässer und ein Sachse in meinem Dienst.

Da kam einmal, auf meinen einsamen Spaziergängen, ein Legionär zu mir, den ich schon öfter gesehn hatte, der mich aber niemals angesprochen hatte. Er war ein kurzer, untersetzter Kerl mit dunklem, pomadisiertem Haar und schwarzen, sehr stechenden Augen. Er hatte einen mächtigen Buschen Margariten in der Hand und reichte mir den. Er habe gesehn, sagte er, daß ich immer Blumen pflücke, und da habe er sich erlaubt –

»Et is doch richtig, dat Sie aus Düsseldorf sind?« schloß er.

Ich nickte.

»Ich auch!« sagte er und ging, noch ehe ich ihm eine Zigarette gegeben hatte.

Am nächsten Tage warnte mich der Sachse, der mir die Stiefel putzte. Mit dem Kerl, dem Simons, möge ich mich doch um Gottes willen nicht einlassen. Und diese Warnungen gingen weiter; jeder einzelne Legionär warnte mich vor ihm. Aber nur einzeln, nur unter vier Augen; es schien, daß jeder vor dem schwarzen Düsseldorfer einen Höllenrespekt habe.

Allmählich erfuhr ich seine Geschichte mit immer neuen Einzelheiten. Er hieß gar nicht Simons, führte diesen Namen vielmehr nur in der Legion und hatte auch Papiere auf diesen Namen. Er war Metzgergeselle; war als solcher mit einem Kameraden, eben dem wirklichen Simons, auf Wanderschaft gezogen. Hatte dann eines Abends im Ardenner Wald seinen Freund totgeschlagen und ihn seiner Barschaft sowie seiner Papiere beraubt. Die Gendarmen waren hinter ihm her; er entkam ihnen, rettete sich in die Legion, die grundsätzlich keinen Reisläufer nach seinem Vorleben fragt. Der Ermordete war längst, als ein völlig Unbekannter, aufgefunden und von den Behörden begraben worden – so nahm der Mörder, aus gottweiß welchen Zwangsvorstellungen heraus, des Ermordeten Namen an und diente mit diesem Namen in Algier und Tongking.

Woher sie das alles wüßten, fragte ich meine Legionäre. Sehr einfach: der falsche Simons hatte es in der Betrunkenheit selbst Dutzende von Malen, und bis in die kleinste Einzelheit, erzählt. Mächtig noch damit geprahlt, was er für ein Kerl sei!

Denn er war ein Kerl! Seinen Kameraden morden – das haben gewiß manche Lumpen vor ihm getan. Aber dann als der Ermordete weiterzuleben und als solcher von dessen Familie als Sohn und Bruder und Neffe anerkannt zu werden, das soll einer diesem Manne aus Düsseldorf mal nachmachen! Und grade das hatte er in unglaublich raffinierter Weise getan.

Eines schönen Tages hatte er, irgendwo aus der Sahara, an den Vater Simons, der in einem kleinen Orte bei Köln eine gutgehende Metzgerei und Gastwirtschaft hatte, dazu noch Landwirtschaft betrieb, einen Brief geschrieben. Oft genug mochte ihm der totgeschlagene Freund auf der langen Wanderschaft von seiner Familie erzählt haben; so wußte er, daß es da eine Tante Sybilla, einen Onkel Josef gab und noch alle möglichen Familienmitglieder, die er grüßen lassen konnte. Er erzählte in diesem Briefe, daß er sich in der Trunkenheit für die Legion habe anwerben lassen, daß er nun seine fünf Jahre herunterreißen müsse. Und er bat um die elterliche Verzeihung.

Das alles malte er mühsam mit der linken Hand aufs Papier; schrieb, daß er sich die Rechte verletzt habe und im Verband trage. Er gab seinen – o nein, des Ermordeten! – alten deutschen Militärpaß bei und tat noch ein paar Blümchen in den Brief.

Die Eltern Simons, die seit zwei Jahren von ihrem Sohne nichts gehört hatten, waren überglücklich über diesen Brief des Verschollenen. Sie antworteten sofort und legten ihrem armen Jungen fünfzig Mark bei, um sich eine Freude zu machen. Daraus nun entspann sich ein regelmäßiger Briefwechsel. Bald schrieb ›Simons‹ wieder mit der rechten Hand, aber mühsam und hinmalend; er machte die Erklärung, daß er mit dem lahmen Finger ganz neu wieder schreiben lernen müsse. Kein Legionär hat je so treu mit seiner Familie korrespondiert wie er; die Sache lohnte sich: nicht eine seiner Bitten um Geld blieb vergeblich. Ich habe eine Reihe der Antwortbriefe gelesen; es ist kaum zu sagen, mit welch rührender Liebe die Eltern an diesem ›Sohne‹ hingen. Noch mehr aber war dies der Fall bei einem Bruder der Mutter, einem alten Junggesellen, der ebenfalls Metzger und Landwirt war, und bei dem der Ermordete in die Lehre gegangen war. Dieser Onkel Josef hatte längst sein Testament gemacht: sowie der Neffe zurück sei aus der Legion, solle er alles übernehmen.

Von dieser wilden Schwindelgeschichte wußten alle Legionäre. Alle haßten ihn darum: manche mögen ihn nebenher auch beneidet haben über die vielen Geldsendungen, die er aus der Heimat erhielt. Hundertmal wurde dem Düsseldorfer gedroht, daß man den Schwindel aufdecken, den Eltern Simons schreiben würde – aber nie wurde diese Drohung in die Tat umgesetzt. Man bestiehlt sich gegenseitig in der Legion, man haßt sich, schlägt sich – man verrät sich nicht. So ist der Geist der Legion.

Noch heute ist mir's ein Rätsel, wie der Düsseldorfer es fertigbrachte, sich durch fast vier Jahre den Pseudoverwandten gegenüber nicht zu verraten. Durch die Gespräche mit dem Ermordeten, noch mehr durch die Briefe der Familie, hatte er Kenntnis der intimsten Familienverhältnisse und spielte meisterlich sein Instrument.

Natürlich traf ich ihn oft. Nie lange, immer nur fünf Minuten. Er kam zu mir; tauchte auch auf meinen Spaziergängen im Walde oder hinter einem Felsen am Meere auf. Stets brachte er mir etwas, meist Blumen; zuweilen auch eine Muschel oder einen komisch geformten Stein. Dann auch Futter für meine Hunde – allgemach hatten alle die herrenlosen und halbverhungerten Fixköter der Insel mich zu ihrem Patron erkoren, und ich hatte eine Höllenarbeit, Fraß für sie zu besorgen. Eine Zigarette nahm er wohl an von mir, sonst nichts – nun, er war ja der Krösus der Legionäre, hatte grade wieder eine tüchtige Geldsendung erhalten – von »zu Hause«.

Er sprach zu mir ebenso offen über diese Geschichte wie zu seinen Kameraden. Er erzählte mir, daß er verabredet habe, sich mit dem Onkel Josef in Luxemburg zu treffen; der würde ihm dahin entgegenfahren, ihn dort neu einkleiden. Er zeigte mir diesen letzten Brief des Oheims, der vor Freude zitterte, den geliebten Neffen in die Arme zu schließen, um ihn dann den überglücklichen Eltern zuzuführen.

Ja, um aller lieben Heiligen willen, fragte ich, ob er sich denn einbilde, daß der Onkel Josef und die Simons-Eltern ihn auch selbst als ebenso echten Sohn annehmen würden, wie sie seine Briefe als echt nahmen?

Der Mann aus Düsseldorf lachte. Nein, nein, natürlich nicht! Aber er habe schon seinen Plan gemacht: von Paris aus würde er an den Onkel in Luxemburg telegraphieren, daß ihm seine Barschaft und alle Sachen gestohlen seien; er brauche sofort fünfhundert Mark, um sich auszulösen und weiterzukommen. Der Onkel Josef würde ihm die ganz sicher telegraphisch schicken: das sei dann sein letzter Schlag. Dann würde Peter Simons, der Sohn, zum zweiten Male sterben oder verschellen. Wenn er ihn nicht – und er lachte wieder sein kurzes, häßliches Lachen – nach Jahren noch einmal wiederaufleben lassen könne – vielleicht von Amerika aus!

Wer das liest, wird diesen Mann aus Düsseldorf, den ich wie alle ›Simons‹ nannte, gewiß nicht sehr sympathisch finden. Und dennoch, ich kann es nicht leugnen, mir war er – manchmal! – sympathisch, trotz allem! Zu mir kam er – der einzige Düsseldorfer, den ich je kennenlernte – um mir zu geben, nicht um von mir zu nehmen. Alle diese Einzelheiten holte ich aus ihm heraus; er erzählte sie offen und schamlos genug – doch kam er nicht deshalbzu mir. Er kam zu mir nur – um von Düsseldorf zu sprechen.

»Waren Sie schon mal im ›Ürigen Willem‹?« fragte er. Und er strahlte, als ich ihm sagte, daß ich manches Glas Bier da getrunken habe.

»Wo kauft denn Ihre Mutter das Fleisch?« erkundigte er sich.

»Auf der Marienstraße«, antwortete ich; »ich weiß nicht mehr, wie der Metzger heißt.«

Er besann sich nicht lange: »Heinrichs«, rief er sachverständig: »Heinrichs heißt der! Da wird sie gut bedient!«

Alles, was Düsseldorf war, hatte etwas Mystisch-Heiliges für ihn – mich liebte er, nur weil ich Düsseldorfer war. Daß meiner Mutter Garten an den Garten des Franziskanerklosters stieß, erschien ihm ungeheuer wichtig und merkwürdig. So weit ging diese seltsame Liebe, daß er sich in meine lächerlichsten Sonderlichkeiten wie in etwas ganz Selbstverständliches einfühlte. Er hatte bemerkt, daß ich, wie die Blumen, so auch alle Tiere gern hatte, daß es mir ein sehr zuwideres Gefühl war, irgend etwas Lebendiges totzutreten.

»Nehmen Sie sich in acht!« rief er einmal auf einem Waldweg und stieß mich zur Seite. Bückte sich, hob eine Raupe auf, die ich nicht gesehn und beinahe zertreten hatte, trug sie sorgsam vom Wege in den Wald.

Dieser selbe gottverdammte Kerl, der seinen besten Freund auf solchem Waldweg hinterrücks erschlagen hatte und nun sich selbst seit langen Jahren den Eltern des Ermordeten als Sohn anlog!

Nie nannte er mir seinen Namen; nie sagte er mir, aus welcher Straße er stamme, oder in welcher Düsseldorfer Metzgerei er gelernt habe.

»Leck' mich in de Täsch!« lachte er, wenn ich ihn danach fragte.

Eines Tages war er verschwunden. Abgereist, mit andern Legionären, ohne Abschied zu nehmen.

O ja, ich hab mir's oft überlegt, ob ich den Simons-Eltern und dem guten Onkel Josef reinen Wein einschenken sollte. Ein paar schöne Briefe habe ich ihnen geschrieben – und alle zerrissen. Wie es war, war ihr armer Sohn zum zweitenmal verschollen. Und sie durften hoffen, immer noch! Vielleicht lebt der abenteuernde Junge irgendwo in der Welt; vielleicht wird er, nach Jahren, doch den Weg finden ins Heimathaus. Sollte ich ihnen sagen: o nein, liebe Leute, ermordet ist er, vor manchen Jahren schon!? Und ihr habt dem Mörder selber eure Geldbörse geöffnet, wie euer Elternherz. Nein, nein, ich habe ihnen nicht geschrieben. Nun sind sie lange schon tot – nun kann ich diese Geschichte erzählen.

Diese Geschichte von einem feigen, jämmerlichen Mörder. Von einem abgefeimten Schwindler, der mit den heiligsten Empfindungen seinen gotteslästerlichsten Spott trieb. Und der, dennoch, ein menschliches Gefühl hatte – in der Sehnsucht und Heimatliebe zu seiner Vaterstadt: Düsseldorf!

Quelle

https://www.projekt-gutenberg.org/ewers/7meere/chap009.html



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